Kapitel 3
Mit einem Kaffee in den Händen sitze ich in dem kleinen Lieblingscafé von Ronja und mir. Es ist ein kleines Café mit angeschlossener Bäckerei. Altrosa Tapete bedecken die Wände über der Lambris und runde Tische für zwei Personen stehen dicht an dicht im Raum.
Gedankenverloren starre ich die Leute an, die um mich herum an den Tischen sitzen. Es sind hauptsächlich alte Menschen, die zur Mittagsstunde brunchen oder einsam und Zeitung lesend ein Sandwich essen. Normalerweise teilen Ronja und ich uns ein Stück des himmlischen Blaubeerkuchens, den es hier gibt, aber gerade ist mir nicht nach Essen. Allein der Gedanke lässt mir übel werden. Normalerweise hat mich aber auch kein Fuckboy angeflirtet.
Denn das ist es doch, was Toni ist; das ist mir in den zwanzig Minuten, die ich hergelaufen bin, klar geworden. Ein Junge, der alles, was bei drei nicht auf den Bäumen ist, hemmungslos anflirtet. Und ich habe weder die Spielregeln noch den Startschuss gehört.
Ich seufze. Mein Gesicht spiegelt sich in der dunklen Flüssigkeit in meiner Tasse. Eine sanfte Wellenbewegung geht über die Oberfläche, wenn ich ausatme. Der Geruch beruhigt mich. Eine einfache Tasse Kaffee. Ich puste. Die Wellen werden stärker, die Hitze strömt mir ins Gesicht, während die Wellen zusammenschlagen und aneinander brechen. Wie ein kleiner Ozean in meinen Händen.
Mir ist nicht einmal etwas passiert, und ich bin trotzdem weggelaufen. Wie ein verängstigter Hund habe ich den Schwanz eingezogen und das Weite gesucht, statt Toni zu konfrontieren und abzuweisen. Mein Kopf zeigt mir die Situation im Eingangsbereich der Escape Rooms erneut. Mittlerweile ist sie zigmal in meinen inneren Videoplayer gelegt und abgespielt worden.
Es war seltsam. Ich stand vor Toni, aber er hat nicht auf mich reagiert, sein Blick hat meinen überhaupt nicht gefunden. Seine blauen Augen haben einfach durch mich hindurch gesehen, als wäre ich nicht da. Als hätte er mich nicht gesehen.
Die Scheibe neben mir scheppert und ich schaue erschreckt auf. Ronjas Gesicht ist unter ihrem erhobenen Arm an die Scheibe gepresst und sie schaut mich halb erleichtert halb wütend an. Ein dumpfes „Flora!" dringt durch die Scheibe und sie rennt auf den Eingang des Cafés zu.
Sie fängt an zu reden, bevor sie am Tisch angekommen ist. „Warum gehst du nicht an dein Telefon? Ich hab dich zigmal angerufen!", lässt sie mich aufgebracht wissen, während sie sich energisch die Jacke auszieht. „Wo warst du? Ich hab dich mit Toni überall gesucht!"
Ich richte meinen Blick auf meine Kaffeetasse, bevor ich antworte, ohne auf ihre erste Frage einzugehen: „Ah, Fuckboy Toni hat sich tatsächlich Sorgen um mich gemacht?"
Natürlich weiß ich, dass sie mich angerufen hat. Das Vibrieren meines Smartphones war unmöglich zu ignorieren. Ich kann es nicht genau sagen, warum ich nicht rangegangen bin. Ein Teil von mir fühlte sich durch sie ausgeliefert. Sie hat ständig das Gespräch mit Toni gesucht, versucht mich zu verkuppeln, auch nachdem es mir unangenehm geworden war. Und als er zugegeben hat, dass er jedes Mädchen anflirtet, hat sie keinen Schlussstrich gezogen, sondern zurückgeflirtet. Denn das hat sie doch, oder?
„Fuckboy?", fragt Ronja, ruhiger als ich es von ihr gewohnt bin, und schlägt die Karte des Cafés auf. „Nur weil er mit ein paar Mädchen redet, macht ihn das nicht zu einem Fuckboy. Er ist ein echt korrekter Typ."
„Schön, dass du dich so gut mit ihm verstehst", gebe ich zurück und bereue es im nächsten Moment.
Ronja atmet tief ein, was mich dazu bringt, aufzuschauen. Ich rechne schon mit einem verletzenden Kommentar, wie ich ihn gerade gemacht habe, aber der kommt nicht. „Was ist los, Flora? Warum bist du auf einmal verschwunden? Warum hast du meine Anrufe nicht angenommen?" Sie schaut mir fest in die Augen, während sie die Fragen stellt und ich sehe die ehrliche Sorge in ihrem Blick, die mir gilt. Eine Sorge, die ich nach meiner Aktion nicht verdient habe.
Ich kann ihrem Blick nicht standhalten und meine Augen suchen sich wieder sicheres Territorium: die Tasse in meiner Hand. Ich zucke mit den Schultern, nicht fähig und nicht willig alles, was in mir vorgeht, in Worte zu verpacken. Es ist nur ein drückendes, trauriges Gefühl, das mich tiefer in meinen Kaffee hineinzieht.
Ronjas Blick liegt auf mir, ich kann ihn förmlich spüren, aber ich schaffe es nicht, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Worte sind nur kleine, ordentliche Päckchen. Aber meine Fracht ist emotional, chaotisch. Wie soll ich das eine in dem anderen verschnüren?
Ronja nickt, ich kann es in meinem Augenwinkel sehen, seufzt und steht auf. Ihre Jacke lässt sie liegen.
Ich höre, wie sie zwei Stücke Blaubeerkuchen bestellt und kurz darauf mit zwei Tellern zurückkommt. Sie will also nicht teilen.
Einen der Teller stellt sie vor mich hin und nimmt wieder mir gegenüber Platz. „Hier. Vielleicht hilft es dir, etwas zu essen."
Wir gabeln den Kuchen in vollkommener Stille in uns hinein.
Es dauert weitere fünf Minuten, bis ich es schaffe den Mund aufzumachen. „Es tut mir leid, dass ich deine Anrufe nicht angenommen habe." Mir liegt noch mehr auf der Zunge, aber ich habe Angst, sie damit zu verletzen. Ich will Ronja nicht verlieren. Sie ist meine einzige richtige Freundin.
Ronja nickt. „Schon okay. Hauptsache du bist okay." Sie mustert mich forschend. „Du bist doch okay, oder?"
Ich zucke ausweichend mit den Schultern. „Es geht mir wieder besser."
„Gut." Ronja lehnt sich vor und stützt die Ellenbogen auf den Tisch. Gespannt schaut sie mich an. „Und jetzt musst du mir erzählen, wie du dich rausgeschlichen hast."
„Ich bin nicht geschlichen. Ich bin aus dem Raum gegangen, hab die Tür aufgemacht und hab dann das Gebäude der Escape Rooms verlassen", erkläre ich, ein bisschen verwirrt. „Du warst doch dabei."
Ronja schüttelt vehement den Kopf. „Keine Chance, dass du einfach rausgelaufen bist. Das hat Toni versucht mir auch zu sagen, aber das kannst du nicht gemacht haben. Ich war doch dabei! Also wie hast du es gemacht?"
„Ich sag doch, ich bin einfach rausgelaufen. Hast du mich nicht gesehen?"
„Nein, habe ich nicht."
Verwirrt sehen wir uns gegenseitig an.
„Warte", sage ich langsam. In meinem Kopf formt sich eine sehr abstruse Theorie, gestützt durch meine seltsame Begegnung mit Toni im Foyer. „Ich habe meine Jacke von der Garderobe genommen und Toni kam aus dem Raum hinter dem Tresen."
„Was?", ruft Ronja aufgebracht und erntet dafür ein paar missbilligende Blicke von unseren älteren Sitznachbarn. Leiser fährt sie fort. „Zu mir hat er gesagt, er hätte dich nicht gesehen."
„Ja, das Gefühl hatte ich auch. Er hat in meine Richtung geschaut, aber mich nicht angeschaut, weißt du?" Ein weiteres Mal lasse ich die Situation in meinem Kopf Revue passieren. „Er hat einfach durch mich durchgeschaut. So, als wäre ich gar nicht da gewesen."
Ronjas Augen werden bei meiner Erzählung groß. „Die Tür", haucht sie. „Toni meinte, du hättest sie geöffnet."
„Habe ich auch", bestätige ich. „Wir mussten ja nur einen Stein suchen, die Tür war nie wirklich zu-"
„Nein, nein, du verstehst nicht", unterbricht Ronja mich. „Die Tür ist von alleine aufgegangen."
Verständnislos sehe ich sie an. Ist meine beste Freundin jetzt endgültig durchgedreht? Ich lache. „Achso, du willst mich verarschen. Ronja, du hast mich schon so oft hinters Licht geführt. Glaub nicht, dass du das dieses Mal wieder schaffst."
Ronja packt meine Hand über den Tisch hinweg und starrt mich bedeutungsschwanger an. „Das ist mein voller Ernst, Flora. Ich habe dich nicht gesehen, wie du die Tür aufgemacht hast."
„Und, was bedeutet das? Bin ich jetzt ein Geist?", frage ich spaßeshalber.
„Flora!" Ronja schüttelt mich. „Verstehst du nicht? Ich habe nicht gesehen, wie du die Tür aufgemacht hast!", wiederholt sie sich.
Langsam sickert es zu mir durch, dass sie sich nicht einfach nur einen Scherz auf meine Kosten erlaubt. „Was? Ist das dein Ernst?"
„Ja, und zwar mein voller!", bestätigt Ronja mit Nachdruck und lässt meine Hand los, um gestikulieren zu können, während sie ihren Gedankengang weiter ausführt. „Überleg doch mal! Die Tür zum Escape Room hat sich von alleine geöffnet. Und Toni hat durch dich hindurchgesehen! Deine Worte nicht meine", setzt sie hinzu, bevor ich sie unterbrechen und meine Aussage relativieren kann. „Wir haben dich beide nicht gesehen! Ich weiß nicht, wie du es gemacht hast, und es klingt super abwegig, aber du warst unsichtbar."
Ich starre Ronja an. „Aber... das kann doch gar nicht sein. Menschen können nicht einfach unsichtbar werden", widerspreche ich. „Das ist wie aus einem von meinen Büchern..."
„Also wie aus einem meiner Filme ist es sicher nicht. Dann wäre hier viel mehr Blut."
Ich nehme Ronjas dummen Spruch gar nicht wahr, dafür überschlagen sich meine Gedanken viel zu schnell.
Ich soll mich unsichtbar gemacht haben? Mein rationales Denken stemmt sich vehement gegen den Gedanken. Aber Ronja hat Recht. Wenn ich mich tatsächlich unsichtbar gemacht habe, dann macht alles, was bei meiner Flucht passiert ist, Sinn. Wesentlich mehr Sinn als ohne diese Annahme einer Unmöglichkeit. Alles bis auf ...
„Aber hat Toni nicht gemeint, er hätte mich den Raum verlassen sehen?"
„Du hast recht", stimmt Ronja mir zu und lehnt sich nachdenklich zurück. „Wie hat Toni dich sehen können, aber ich nicht? Was war anders?", murmelt sie vor sich hin.
Ich überlege ein wenig halbherzig mit. "Er ist männlich?"
Ronja schüttelt den Kopf. "Im Eingangsbereich hat er dich ja nicht gesehen." Nachdenklich setzt sie hinzu: "Du warst mit ihm im gleichen Raum, so wie bei mir im Escape Room. Und davor hat er uns über die Kamera beobachtet..." Sie schaut mich mit funkelnden Augen an. "Die Kameras!", ruft sie, und ignoriert die Blicke, die sie für ihre Lautstärke erntet, erfolgreich. "Er hat dich nicht direkt gesehen, sondern über die Kameras!"
Ich nicke. Das klingt auch nicht abwegiger, als dass ich mich unsichtbar machen können soll. Aber bei dem Gedanken, dass Toni uns die ganze Zeit beobachten konnte, rollen sich mir die Zehennägel auf.
Ronja überlegt wieder. Dabei reibt sie sich immer gedankenverloren ihren Daumen gegen den Zeigefinger ihrer führenden Hand. "Aber das ist bislang nur eine Hypothese. Um sie wirklich überprüfen zu können, brauchen wir die Aufnahmen von Escape Rooms."
Vehement schüttele ich den Kopf. "In den Laden kriegen mich keine zehn Pferde nochmal."
"Wieso? Ich dachte, du magst Escape Rooms?"
"Ja, aber mir sind sie ohne Mitarbeiter, die sich an alle weiblichen Kunden ranmachen, wesentlich lieber", murre ich und hebe meine Tasse an meine Lippen, nur um wenig begeistert festzustellen, dass ich sie bereits leer getrunken habe.
"Echt jetzt? Du hast was gegen Toni, weil er flirtet?", fragt Ronja belustigt.
Eigentlich bin ich eher sauer auf mich selbst, dass ich der schlechten Anmache so leicht verfallen bin. Aber das kann ich schlecht sagen. "Fuckboys stehen ganz oben auf meiner Not-To-Do-Liste."
Ronja zieht eine Grimasse. "Okay, dann werde ich deinem Fuckboy halt alleine einen Besuch abstatten. Ich will dieses Videomaterial auf jeden Fall sehen. Wenn dein Stolz dich daran hindert, dann ist es halt so." Sie räumt ohne ein weiteres Wort unsere Teller zusammen und nimmt sich ihre Jacke.
Dankbar stehe ich auf. Dankbar dafür, dass Ronja mich nicht dazu zwingt, mit ihr mitzukommen und dankbar dafür, dass sie so unkompliziert ist. Wir zahlen und verlassen den kleinen Omaladen. Zum Abschied umarmen Ronja und ich uns, bevor sie sich zurück auf den Weg zum Escape Room macht.
Meine Beine tragen mich zur nächstgelegenen Bushaltestelle. Die Luft ist kalt und trocken und ich vergrabe meine Nase in meinem Schal. Er riecht warm und kitzelt angenehm meine Nasenspitze. Die Bushaltestelle liegt am Ende der Fußgängerzone, in der die Bäckerei Meyer ihren Sitz hat. Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass ich noch Zeit habe, bevor ich laut Stundenplan wieder daheim sein muss. Kurz überlege ich, nach Hause zu fahren und, wenn meine Eltern fragen, zu erzählen, dass unser Lehrer krank war. Aber ich bin schlecht im Lügen, weil meine Gefühle mir meist mitten auf dem Gesicht geschrieben stehen. Außerdem könnte ich die Zeit auch nutzen und Lila besuchen gehen. Das klingt wie eine gute Idee. Ein bisschen Dopamin könnte mir jetzt ganz gut tun.
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