Kapitel 2

"Willkommen zu deinem schlimmsten Albtraum!" Ronja grinst diabolisch, als sie mich in das Gebäude der Escape Rooms zieht. Sie öffnet mir die Glastür. Mir schlägt trockene Luft entgegen, und wir lassen den verregneten Wintertag draußen.

"Was hast du vor?", frage ich skeptisch, während ich mir den Schal vom Hals wickele. Der Eingangsbereich der Escape Rooms ist ausgelegt mit einem roten Teppich, der auf den Tresen zuführt. An den Wänden hängen auf alt gemachte Portraits und von der Decke hängt ein riesiger Kronleuchter. Die ganze Einrichtung ist Vintage, viel dunkles Holz und Fake-Kerzen.

"Dich auf andere Gedanken bringen, natürlich!", antwortet Ronja spitzbübisch und öffnet ihre dicke, gelbe Steppjacke. Darunter trägt sie den Abschlusspulli ihrer Träume. Wir befinden uns gerade in der Designphase des Pullis, aber ihr Wunschspruch wurde nicht gewählt. Die logische Konsequenz für Ronja war es also, sich ein Design zu überlegen, und selbst einen Pulli zu drucken, nur um allen unter die Nase zu reiben, was für ein großartiges Motto ihnen da entgeht. Sehr zu ihrem Leidwesen sehen unsere Schulkameraden den Spruch nicht als genauso genial an wie sie. Aber das tut ihrer Motivation keinen Abbruch. Seit sie den Pulli das erste Mal angezogen hat, hat sie ihn nicht einmal abgelegt. Ich wette, sie trägt ihn sogar beim Schlafen. Auf dem Pulli sind zwei Silhouetten zu sehen, die mit den Rücken einander lehnen und ein Buch und einen Stift in den Händen halten. Darunter steht: "ABI 007 - Lern an einem anderen Tag". Ich kann bestätigen, dass Ronja sich an dieses Motto gehalten hat.

"Nur, weil ich dir verboten habe, mich in einen Horror-Film zu schleppen, heißt das nicht, dass ein Horror-Escape-Room besser sei", witzele ich, lass mich aber von ihr auf den Tresen zuziehen.

Ein Junge in unserem Alter steht dahinter und schaut auf, als wir eintreten.

"Hi, ich bin Toni", begrüßt er uns. Er hat eine angenehme Stimme und seine hellen Augen liegen länger auf mir, als mir lieb ist. "Ich habe gehört, ihr wollt einen Horror-Escape-Room machen? Horror haben wir nicht wirklich, aber einer unserer Räume hat gerade ein Jack the Ripper-Thema."

Ronjas Augen leuchten auf, aber ich falle ihr ins Wort. "Habt ihr auch einen Escape Room mit rosa Einhörnern und Zuckerwatte?"

Toni runzelt die Augenbrauen, verliert aber nicht sein Lächeln, während er mich ansieht. "Mit Einhörnern kann ich leider nicht dienen, aber wir haben einen Raum mit Zauberern und Hexerei."

Mir fällt ein Stein vom Herzen und ich lächele erleichtert. "Der klingt super."

Toni nickt und beginnt auf einem Touchscreen vor sich herumzutippen.

Ronja neben mir boxt mir in die Seite und schmollt. "Aber Jack the Ripper ..."

"Du kannst ja mit Hannes nochmal herkommen", schlage ich besänftigend vor. Hannes ist Ronjas großer Bruder und ein ebenso großer Horrorfan wie sie.

"Aber es macht so Spaß, dich zu erschrecken!", gibt sie zu und grinst bereits wieder.

Ich weiß sofort, worauf sie anspielt. Während ich mich am letzten Halloween als das generische Cowgirl verkleidet habe, haben die beiden das Schwartz-Haus in eine Gruselvilla verwandelt. Selbst geschnitzte Kürbisse standen auf der Veranda, in den Fenstern hingen Spinnenweben und Fake-Holzlatten. Als ich mit meiner Familie zum traditionellen Halloween-Essen kam, haben Hannes und Ronja mich dermaßen erschreckt, dass ich mich auf dem Klo eingesperrt habe, und erst wieder rauskam, als sie mir versprachen, sich nicht mehr von hinten an mich ranzuschleichen. Natürlich macht Ronja das seitdem jedes Mal, wenn sie mich sieht.

"Bitte, können wir nicht in den Jack the Ripper?", fleht Ronja. "Mit Hannes macht der nur halb so viel Spaß wie mit dir!"

Toni sieht etwas unschlüssig zwischen uns her. "Also der Jack the Ripper Raum?"

"Nein!", sage ich.

"Ja!", stimmt Ronja im selben Atemzug begeistert zu.

Toni schaut zu mir.

Ich schüttele vehement meinen Kopf. Dabei fliegt meine Mütze von meinem Kopf. Sie saß wohl ein bisschen locker. Ich bücke mich, um sie aufzuheben.

Ronja lässt sich die Chance natürlich nicht entgehen.

"Hör nicht auf Flora, Toni", sagt sie, als wären sie und der Mitarbeiter langjährige Freunde und beugt sich über den Tresen. "Sie weiß nicht, was gut für sie ist."

Ich will schon empört hochschießen, aber zu meiner Verwunderung ergreift Toni Partei für mich.

"Flora", sagt er und spricht meinen Namen dabei so melodisch aus, dass mir ein bisschen warm im Gesicht wird, "schien doch sehr gut zu wissen, was sie will. Und das war eindeutig der Weise Zauberer Raum."

Ich komme hoch, und kann förmlich fühlen, wie rot meine Wangen sein müssen. "Danke, Toni", bedanke ich mich voller inbrünstiger Überzeugung. "Du bewahrst mich gerade davor, eine Stunde lang zu leiden."

"Aber klar, Flora." Er lächelt mich freundlich an. Vielleicht etwas zu freundlich? Ich weiß es nicht. Flirtet er mit mir? Ich bin verwirrt, mir ist warm.

Gott sei Dank zahlt Ronja für uns.

"Wenn ihr nochmal aufs Klo müsst oder eure Klamotten ablegen wollt, dort", Toni zeigt zu seiner Rechten einen kurzen Gang hinunter, "sind die Toiletten und die Garderobe. Sobald ihr fertig seid, kommt ihr wieder her und ich weise euch in euren Raum ein."

Ronja und ich gehen zur Garderobe, um unsere Jacken und Rucksäcke abzulegen. Als ich gerade meinen Wintermantel aufhängen will, stupst mich Ronja breit grinsend an, beugt sich zu mir und flüstert mir ins Ohr: "Toni flirtet ja mal übelst mit dir."

"Du hast ihm aber auch die perfekte Vorlage dafür gegeben", flüstere ich zurück, woraufhin Ronja mir die Zunge rausstreckt.

"Alles, um dich auf andere Gedanken zu bringen. Und bei den blauen Augen...", sie seufzt übertrieben, "wer könnte da einen klaren Gedanken fassen."

Ich schubse sie belustigt und versuche, die Röte, die mir schon wieder in die Wangen schießen will, zu unterdrücken.

Ronja kichert noch immer verräterisch, als wir zu Toni zurückgehen. Ich versuche ihn ganz ungezwungen anzulächeln, und er lächelt mindestens so breit wie Ronja zurück. Stecken die beiden unter einer Decke? So viele Ähnlichkeiten sind ansonsten ein bisschen gruselig.

Er bedeutet uns, ihm zu folgen, dann biegt er in einen kurzen Gang links vom Tresen ab. Die Wände sind holzvertäfelt und von ihnen hängen Wandlampen mit altmodischen Lampenschirmen. Sie erinnern mich an den Ohrensessel im Altenheimzimmer meiner Oma. Sie zeigen das gleiche verblichene Blumenmuster.

"Wart ihr schon einmal bei uns?", fragt Toni nach einem kurzen Moment der Stille.

"Ja, ein Mal mit einem Kindergeburtstag vor zwei Jahren", antworte ich wahrheitsgemäß.

Ronja schaut mich entsetzt an, und setzt dann eilig hinzu. "Mein kleiner Bruder hatte Geburtstag und wir waren als Begleitpersonen dabei. Aber das ist schon so ewig her, ich fürchte, wir brauchen trotzdem nochmal eine Einführung."

Ich verdrehe die Augen, als ich checke, was sie bezwecken will. Sie will, dass Toni mehr Zeit mit uns verbringt. Auf andere Gedanken bringen, gut und schön, aber ich muss jetzt nicht direkt verkuppelt werden. Ich versuche, ihr die Nachricht telepathisch zuzusenden, aber es scheint an Ronja abzuprallen, wie an einer Backsteinmauer.

Toni lacht. "Alles klar."

Mit einer galanten Handbewegung hält er uns die Tür auf und wir treten an ihm vorbei in einen relativ spärlich beleuchteten Raum. Die Fake-Kerzen aus dem Eingangsraum, sind hier vervielfacht worden und stehen überall: auf dem alten Schreibtisch in der Mitte des Raums, auf den Regalen an den Wänden, die voll mit Büchern und skurrilen Antiquitäten sind. Einige stehen sogar auf dem Boden. In einer Ecke des Raum steht eine Truhe auf dem Boden, die mit einem dicken Vorhängeschloss versehen ist. An der einzigen Wand, die nicht mit Regalen zugestellt ist, hängen Bilder von Kräutern. Es dauert einen Moment, bis mir die leise Harfe auffällt, die aus unsichtbaren Lautsprechern dringt. Das einzige, was jetzt noch fehlt, ist dicker Weihrauchgeruch in der Luft, dann wäre das Bild perfekt. Stattdessen riecht es nach Desinfektionsmittel.

"Na dann, weise ich euch mal ein", kündigt Toni an, schließt die Tür hinter sich und stellt sich neben den Schreibtisch, auf dem ein Tintenfass mit einer ganzen Sammlung an unterschiedlichen Federn liegt. "Ihr seid einem riesigen Geheimnis auf der Spur: Merlin, der höchste Magier, ist verschwunden, und es wird gemunkelt, dass das einen ganz bestimmten Grund hat: Er hat den Stein der Weisen produzieren können. Aber Merlin ist verschwunden, bevor er den Stein an die Öffentlichkeit bringen konnte. Eure Nachforschungen haben euch zum Schaffensplatz Merlins gebracht: Sein Arbeitszimmer, in dem ihr gerade steht. Nun ist es eure Aufgabe, den Stein der Weisen zu finden." Er mustert uns beide. "So weit so klar?"

Ronja nickt.

"Ich hab eine Frage", fange ich an. "Werden die Rätselgegenstände in mehreren Rätseln verwendet?"

Toni lächelt. "Dazu wollte ich gerade kommen. Ihr habt für die Suche nach dem Stein der Weisen eine Stunde Zeit. Ihr könnt nach Hinweisen fragen, in dem ihr einfach laut in den Raum sprecht. Wir haben Kameras und Mikros hier drin, damit ein Mitarbeiter euch helfen kann. Weil wir Mittwoch Vormittag haben, und wir eigentlich nie Kundschaft kriegen, werde ich das sein. Also sagt einfach Bescheid, wenn ihr Hilfe braucht. Um auf deine Frage einzugehen, Flora: Nein, nachdem ihr ein Rätsel gelöst habt, könnt ihr die Teile an die Seite legen. Die kommen nicht noch einmal vor."

Ich nicke. "Okay, danke."

Toni wirkt zufrieden und stößt sich vom Schreibtisch ab. "Sonst noch irgendwelche Fragen?"

Ich schüttele den Kopf, kann aber aus meinem Augenwinkel Ronja sehen, wie sie diebisch grinst. Ich ahne schreckliches. "Du schaust uns also eine Stunde lang zu, wie wir einen langweiligen Stein in dem Arbeitszimmer eines alten Knackers suchen?", fragt Ronja. "Das muss doch sterbenslangweilig sein."

Toni zuckt mit den Schultern. "Das ist definitiv der lustigere Teil meiner Arbeit. Hinterm Tresen zu stehen und nach draußen zu starren ist wesentlich langweiliger."

"Wann beginnt unsere Zeit?", frage ich, damit Ronja das Gespräch nicht noch einmal an sich reißen kann.

"Sobald ich den Raum verlassen habe", antwortet Toni. "Sonst irgendwelche Fragen, die ich beantworten kann?"

In dem Moment verwandelt sich Ronja in eine Katze. Sie taxiert Toni abschätzend, das metaphorische Hinterteil sprungbereit in der Höhe. Nach einem Moment des Abschätzens setzt sie zum Sprung an. "Hast du eine Freundin?", fragt Ronja.

Ich stöhne, bin aber auch neugierig. Dennoch schaffe ich es, den Mund aufzumachen: "Die Frage musst du definitiv nicht beantworten."

Toni erholt sich überraschend schnell von seiner anfänglichen Überraschung und lächelt. Es ist ein anderes Lächeln als zuvor, irgendwie tiefer. Nicht mehr der freundliche Mitarbeiter bei Escape Rooms, sondern einfach ein Junge in unserem Alter. Und er schenkt dieses Lächeln mir. "Nein, habe ich nicht." Unseren Blickkontakt unterbricht er dabei kein einziges Mal.

Ich spüre die verdammte Röte schon wieder in meine Wangen schießen und bin diejenige, die den Blick zuerst senkt.

Ronja neben mir quietscht und ich kann die Energie, die sie vergeblich unterdrückt, förmlich sehen.

"Gut, dann lass ich euch mal nach dem langweiligen Stein suchen", höre ich Toni sagen, und ich schaue ihm hinterher, als er die Tür öffnet und durch sie verschwindet - nicht ohne mir nochmal einen bedeutungsschwangeren Blick zuzuwerfen.

In dem Moment, in dem die Tür zufällt, lässt Ronja einen kleinen Freudenschrei los. "Flora!", ruft sie und packt mich bei den Händen, während sie auf ihren Füßen rumhüpft wie ein kleines Kind. "Er hat dich sowas von angeflirtet!"

"Ich kann nicht glauben, dass du ihn einfach gefragt hast, ob er eine Freundin hat!", gebe ich zurück. Ich bin irgendwo ein bisschen angepisst, aber das Gefühl in meinen Wangen und in meinem Bauch ist viel zu groß, als dass ich wirklich etwas anderes fühlen könnte.

"Ich auch nicht!", quietscht Ronja. "Und noch viel weniger, dass er geantwortet hat!"

"Und jetzt ruhig, er kann uns hören!", zische ich, lasse Ronjas Hände los und versuche mich auf den Escape Room zu konzentrieren. Es fällt mir schwerer als sonst. Das Gefühl in meinem Bauch versucht ständig, sich vor meine Gedanken zu schieben.

Ratlos starre ich auf die Signaturen der eingerahmten Bilder von Kräutern, die an den Wänden hängen. Alle von uns gefundenen Hinweise und Rätsel liegen auf dem Tisch. Ein altes, in Leder gebundenes Buch, das mit einem Drehschloss verschlossen ist, auf dem seltsame Runen zu sehen sind. Eine Tafel, die diese seltsamen Runen in unser Alphabet übersetzt, aber es fehlt noch etwas. Ein Hinweis, was wir mit der Tafel tun müssen.

„Es muss doch irgendwo etwas geben, was wir übersetzen können", fluche ich leise vor mich hin. Ronja und ich haben den ganzen Raum abgesucht, unter den Tisch geschaut, hinter die Schädel im Regal gelunst.

„Ich habe keinen blassen Schimmer, Flo", quengelt Ronja und setzt sich demonstrativ auf den Schreibtisch. „Lass uns einen Tipp nehmen. Toni hilft uns bestimmt gerne." Sie zwinkert mir zu.

Ich versuche, die ungebetene Röte zu ignorieren. „Nein, wir schaffen das", antworte ich und schaue mich noch einmal im Raum um. Mir kommt ein Gedanke. Hinter die Bilder haben wir noch nicht geschaut.

Schnell nehme ich die Bilder von ihren Haken an der Wand – und tatsächlich. Aus einem der drei fällt raschelnd ein dickes Blatt Papier. Es ist alt und vergilbt, und mit verblichener Tinte beschrieben. Ein freudiges „Aha!" kommt aus meinem Mund, als ich voller Stolz meinen Fund Ronja präsentiere. Sie sieht wenig begeistert aus.

„Aber, der Tipp!"

„Ach Papperlapapp", falle ich ihr ins Wort und nehme eine der falschen Kerzen vom Regal, um das Pergament lesen zu können. „Wir schaffen das auch alleine."

Die verblichene Schrift ist teilweise schwer zu lesen, aber ich strenge meine Augen ein bisschen an.

Alter Schmöker lässt euch nicht ein,

bis ihr das Zauberwort wisst.

Sucht des Lichtes flackernd Schein,

der nicht wie die anderen ist.

Das Zauberwort ist unsichtbar,

doch Hitze macht es für euch wahr.

„Eine Kerze!", rufe ich aufgeregt. „Wir müssen eine Kerze finden!"

„Du hast eine in der Hand", meint Ronja und deutet auf die flackernde Plastiklampe in meiner Hand.

„Nein, eine richtige Kerze!" Ich halte ihr das Pergament und die Kerze hin, die sie mir nicht sonderlich begeistert abnimmt und bin schon zum Regal weitergesprungen, bevor sie sich das Gedicht richtig durchlesen konnte. Ich habe nämlich eine echte Wachskerze auf einem Schädel erspäht. Sie ist aus. „Wo sind die Streichhölzer, die wir gefunden haben?", frage ich Ronja.

Sie nimmt die kleine Box, die wir zuvor in einer der Schubladen des Schreibtisches gefunden haben, und reicht sie mir.

Vor lauter Aufregung bricht mir das erste Feuerholz ab, aber mit dem zweiten schaffe ich es, die Kerze zu entzünden.

„Komm her", weise ich Ronja an, „und halt das Gedicht über die Flamme."

„Zitronensaft?", fragt sie und spielt damit auf den Spionagetrick an, bei dem man eine Botschaft mit Zitronensaft schreibt.

„Ich rechne fest damit!"

Gespannt beobachte ich das Blatt, als Ronja es über die Flamme hält – und tatsächlich! Es bilden sich bräunliche Buchstaben auf dem Papier, die ein Wort aus drei Buchstaben offenbaren.

A U F

Sofort springe ich zum Tisch zurück und zücke das Schloss an dem alten Buch und die Tabelle. Schnell übersetze ich das AUF in die seltsamen Runen und stelle sie auf dem Schloss ein. Mit einem Schnappen geht es auf und ich kann das Buch öffnen. Es ist ausgehöhlt und in seinem Inneren liegt ein angerosteter Schlüssel, der eine ähnliche Farbe hat wie das Schloss an der Truhe in der Ecke des Raumes.

„Wir haben den Schlüssel!", teile ich Ronja mit, und bin sofort bei der alten Truhe. Angerostete Eisenbänder halten die Holzlatten zusammen und ein riesiges Vorhängeschloss verschließt sie. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss. Mit einem befriedigenden Klacken dreht sich der Schlüssel herum und ich kann die Truhe öffnen. Mein Herz springt bei dem Geräusch vor Freude und schlägt danach doppelt so schnell weiter. Ronja kommt mit einem breiten Grinsen neben mich getreten. „Na los, mach schon auf!"

Langsam hebe ich den Deckel an. Die Truhe ist mit blauem Samt ausgekleidet und auf einem schwarzen Kissen liegt – ich würde gerne sagen ein Stein, aber nein. Da liegt ein weiteres Stück beschriebenes Papier. Ich greife danach.

„Was steht drauf?", fragt Ronja mich aufgeregt.

„Ich brauche eine Kerze, um dir das sagen zu können."

Sie reicht mir eine und laut lese ich vor:

„Wen auch immer diese Nachricht erreichen mag,

ihr habt es geschafft! Ihr habt erfolgreich den Ort ausgemacht, wo der Stein der Weisen die längste Zeit aufbewahrt wurde. Aber nehmt nicht an, dass ich aufgrund meines Alters fahrlässig geworden wäre. Vor Dieben wie euch schütze ich den Stein. Ich hüte ihn besser als meinen Augapfel. Deswegen lasst alle Hoffnung fahren, dass ihr ihn jemals zu Gesicht bekommt. Eher zerfallen meine Knochen zu Staub, als dass ihr ihn findet.

Gezeichnet Merlin, oberster Zauberer."

Ich zeige Ronja den Brief. „Drei Wörter sind fett: Augapfel, Gesicht und Knochen."

Gedankenverloren wiederholt Ronja die Worte. „Vielleicht liegt sein Schädel hier irgendwo?", schlägt sie nach einiger Zeit vor.

„Und dann?"

„Und dann liegt der Stein der Weisen in einer der Augenhöhlen. Dort hütet er sie besser als seinen Augapfel. Und ein Gesicht aus Knochen ist der Schädel", erklärt sie ihren Gedankengang.

„Klingt nicht abstruser als irgendeine andere Erklärung", gebe ich ihr recht und gehe zum Regal, um mir die Schädel anzusehen. Es gibt vier verschiedene: einen schwarzen, den mit der Kerze auf dem Kopf, einen kleinen Kinderschädel und -

„Der hier hat Augen!", rufe ich aufgeregt, während ich versuche, die Augäpfel aus den Augenhöhlen zu popeln. Sie sind weich und irgendwie schleimig. Sie erinnern mich an den armen Fisch, den wir mal in einer Biologiestunde seziert haben. Mich überfährt ein kalter Schauer. Angeekelt lasse ich meine Hände sinken und schlucke. Was, wenn das echte Augen sind...?

Ein lautes Knacken ertönt und mir entfährt ein Schrei. Oh Gott, was, wenn der Schädel gleich anfängt, zu sprechen?

„Das ist nicht die richtige Lösung", dröhnt Tonis belustigte Stimme aus einem unsichtbaren Lautsprecher. „Macht bitte den Schädel nicht kaputt."

Erleichtert fasse ich mir an die Brust. Doch nicht der Schädel, der unter mysteriösen Umständen zum Leben erweckt. Mein Herz rast vor sich hin wie ein galoppierendes Pferd und will sich gar nicht mehr beruhigen.

„Wie, das ist nicht die Lösung?", empört sich Ronja neben mir. „Was sollen wir dann machen?"

„Heißt das, ihr wollt einen Tipp?", fragt Toni zurück.

„Aber sowas von!", antwortet Ronja und ehe ich „Nein" sagen kann, hat Toni uns schon weitergeholfen.

„Schaut euch die Buchrücken nochmal genauer an", rät er.

Ronja schaut sich um, fasst sich in die Haare. „Die Buchrücken?", fragt sie, ein bisschen hysterisch. „Ja, welche denn? Es gibt hier drin ungefähr eine Millionen Bücher!"

Das stimmt. An fast jeder Wand des Raumes sind Regale mit in Fake-Leder gebunden Büchern gestellt. Die alle genau anzuschauen... Das ist niemals in nur einer Stunde möglich. Aber Toni hat uns das geraten, und er wird uns wohl nicht auf eine falsche Fährte locken wollen. Und vielleicht finden wir ja ein Muster!

„Na komm, Ronja. Versuchen wir es mal", versuche ich meine Freundin zu beruhigen und trete auf das mir am nächsten stehende Regal zu. Das erste Buch, das ich mir ansehe, hat keine Rückenprägung. Ich will es herausziehen, aber es geht nicht. Es ist nur eine Buchrücken-Attrappe, gar kein richtiges Buch. Das gleiche bei den anderen Büchern im Regalfach – sie alle sind nur Attrappen, ohne Namen, Titelblatt oder richtigem Umschlag.

„Ronja, schau mal", winke ich sie zu mir. „Versuch das Buch mal rauszuziehen", weise ich sie an.

„Warum?", fragt sie aufmüpfig, tut aber, wie ich es ihr gesagt habe. Ihre Augen weiten sich, als sie versteht, was ich ihr zeigen wollte. „Warte mal, das sind ja gar keine richtigen Bücher!"

„Ja, so wie die Kerzen auch nicht. Also müssen wir wohl die Bücher finden, die wirklich Bücher sind!", schlage ich vor. Ronja nickt und wir machen uns an die Arbeit.

Es dauert nicht lange, bis Ronja das erste Buch gefunden hat. Es ist das erste, das sich aus den Buchreihen herausziehen lässt. „Schau mal", ruft Ronja aufgeregt und hält mir die Vorderseite hin. „Da ist ein Auge darauf!"

Tatsächlich ist in das Leder ein runder Augapfel eingestanzt.

„Genau wie die dicken Wörter in dem Brief des Zauberers!", teilt Ronja mir begeistert ihre Erkenntnis mit.

„Stimmt!" Ich schlage das Buch auf. Die Seiten sind eine um die andere gefaltet, aber immer ein bisschen anders. Ich runzele die Stirn. Irgendwoher kommt mir diese Falttechniken bekannt vor.

„Das ist Buchorigami!", meint Ronja und nimmt mir das Buch aus der Hand. Sie klappt es zu und schaut sich den Seitenschnitt an. Tatsächlich bilden die gefalteten Seiten einen verschnörkelten Buchstaben.

M

Jetzt, wo wir wissen, wonach wir suchen, finden wir noch fünf andere echte Bücher, deren Seitenschnitt einen Buchstaben ergibt. Aber drei von ihnen haben kein Symbol in den Deckel gestanzt, das im Brief von Merlin vorkommt. Wir haben die Bücher mit dem Gesicht, Knochen und Augapfel in die Reihenfolge gebracht, in der sie auch im Brief vorkommen. Sie ergeben eine Buchstabenfolge.

M i H

„Aha", gibt Ronja wenig begeistert von sich. „Und was soll uns das jetzt sagen?"

Ich zucke mit den Schultern. Ich habe genauso wenig eine Ahnung, was das sein soll. Auch eine längere Untersuchung des Raums bringt mich keinen Schritt näher an die Lösung des Rätsels. Nach drei Minuten ergebnisloser Suche gebe ich schließlich Ronja nach, die einen Tipp von Toni einfordert.

Er scheint für einen Moment zu überlegen, denn es dauert, bis er antwortet: „Gezeichnete Blumen sind hübsch, aber Flora ist hübscher." Ich kann das Zwinkern in seiner Stimme durch die Lautsprecher nur zu gut hören. Hitze schießt mir ins Gesicht.

Sogar Ronja sucht kurz nach Worten. „Das ist dein Tipp? Gewagt, Toni, gewagt."

„Hat es denn etwas gebracht?", fragt er nach.

Ronja schaut zu mir, mit dem breitesten Grinsen, das ich je an ihr gesehen habe. Sie scheint sehr zu mögen, was Toni anstellt. „Kommt drauf an, was du meinst. Bei Flora hat es auf jeden Fall was gebracht. Beim Rätsel bin ich jetzt genauso weit wie davor."

„Hm, schade", sagt Toni, aber in seiner Stimme schwingt alles andere als ein bedauernswerter Tonfall mit, „dabei ist es so noch offensichtlicher, als den Tipp, den ich euch eigentlich sonst geben sollte."

Ich kann mein Gesicht vor lauter Hitze nicht fühlen. So viel offensichtliches Interesse ist mir unbekannt. Ich wurde noch nie von jemandem so angeflirtet. Es fällt mir extrem schwer, mit dieser Aufmerksamkeit umzugehen. Wie reagiert man auf Flirten? Wie flirte ich zurück? Will ich zurück flirten?

Ronja lacht auf und hebt dann tadelnd den Zeigefinger: „Toni, Toni. Ich habe das Gefühl, du flirtest öfter mit wehrlosen Mädchen im Escape Room."

Oh. Der Gedanke, dass Toni nicht nur mit mir flirtet, ist ernüchternd. Ja, das würde Sinn machen. So smooth sind keine Jungs in meinem Alter, die nicht schon Meister im Flirten sind. Natürlich ist das nicht sein erstes Mal.

Mit einem Mal fühle ich mich richtig schlecht und benutzt. Am liebsten würde ich sofort im Erdboden versinken. Mich einfach der Situation entziehen.

„Das ist üble Nachrede, Ronja", antwortet Toni durch die unsichtbare Lautsprecheranlage.

Das wäre ich jetzt auch gerne: Unsichtbar.

Aber leider stehe ich immer noch genau dort, wo ich davor auch stand: Neben dem Schreibtisch, die drei Bücher aufgerichtet vor mir.

Die Buchstaben scheinen mich höhnisch auszulachen. Dass ich wirklich gedacht hatte, ich wäre etwas Besonderes, weil Toni mich anflirtet. Lächerlich. Einfach nur lächerlich.

„Aber du hast es nicht abgestritten", stichelt Ronja.

Ich sinke tiefer in mich hinein.

„Schuldig im Sinne der Anklage. Wenn ich ein hübsches Mädchen sehe, dann ist es eben um mich geschehen", antwortet Toni.

Bei seinen Worten stirbt auch die letzte Hoffnung, die sich irgendwo in mir festgeklammert hatte. Mir ist nach Heulen zumute. Ich kneife die Augen zusammen, damit keine Tränen kommen.

Ich will hier nicht mehr sein. Ich will hier raus.

„Flora?", fragt Ronja.

Ich antworte ihr nicht. Ich bin nicht da.

„Ach komm, Flora. Du musst dich doch nicht verstecken", sagt Ronja in einem versöhnlichen Tonfall. „Toni ist halt ein schlimmer Finger."

Sie macht es nicht besser. Kein Stück. Es ist ja schön, dass sie damit kein Problem hat, aber ich habe eins. Ich wäre gerne etwas Besonderes gewesen. Und dieses Wunschdenken gebrochen zu bekommen, trifft mich gerade härter, als mir lieb ist.

Mich überkommt der innere Drang, hier rauszukommen. Aber das ist ein Escape Room. Da ist die Tür verschlossen.

„Flora, komm raus. Ich mach mir Sorgen", bittet Ronja neben mir.

Ich will hier raus. Probieren geht über Studieren. Also probiere ich es einfach aus. Ich gehe zur Tür – und tatsächlich, ich kann sie einfach öffnen. Vielleicht weil wir nur einen Stein finden mussten. Es ist mir aber auch egal.

„Soll die Tür einfach so aufgehen?"

„Flora! Ihr habt den Stein noch nicht gefunden!", dringt Tonis Stimme hinter mir aus dem Zimmer und ich beschleunige meine Schritte. Ich steuere auf die Garderobe zu, nehme mir meine Jacke und Rucksack und werfe sie über.

Zu meinem Entsetzen tritt Toni aus einer Tür hinter dem Tresen. Ich bleibe wie zur Salzsäule erstarrt vor der Garderobe stehen.

Sein Blick schnellt zu mir und...

Keine Regung ist in seinem Gesicht zu erkennen. Er flucht leise und geht dann in den Gang zu den Escape Rooms zurück, aus dem ich gerade kam.

Sobald er aus meinem Sichtfeld verschwunden ist, renne ich auf die Tür zu und verlasse das Gebäude.

Was ist da gerade passiert?

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