umgesehen

Es war die morgendliche Flut, die mich am nächsten Tag weckte. Vom Schlaf verwirrt war ich zunächst nicht in der Lage, das Geräusch einzuordnen und glaubte mich wieder in meiner Heimat Reedeen, an meinem Lieblingsplatz am Wasserfall der Vane. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ich dort eingeschlafen war. Ich hatte mich oft dorthin zurückgezogen, um eine kurze Erholung von der täglichen Plackerei am Webstuhl und den ständigen Anfragen der Menschen, die meine Heiltränke benötigten zu genießen. Und mehrmals war ich dann etwas später erwacht, mit Gras im Haar, vom Wasserfall benetzter Bluse und vom Liegen auf dem harten Boden verspannten Rücken.

Das alles war aber jetzt nicht der Fall, im Gegenteil, ich hatte selten so gut geschlafen wie in dieser Nacht. Als ich meine Unterlage abtastete, erwies sie sich als Matratze. Nicht mit Stroh gepolsterte Jute, wie ich es gewöhnt war, sondern fest mit Rosshaar gestopftes feines Leinen. Die Decken über mir bestanden aus weichen Fellen und mit zarten Daunen gefüllte Seide. Einen solchen Luxus habe ich niemals genießen können; wie es sich anfühlt, wusste ich nur aus der Zeit, als ich auf dem Schloss Dienst getan hatte.

Inzwischen war mir eingefallen, wo ich mich befand und wie ich dahin gekommen war. Und nun konnte ich auch das Geräusch identifizieren; das war kein stetes Fließen wie von einem Fluss und einem Wasserfall, sondern das auf- und abschwellende Rauschen von Wellen, die ans Ufer schlagen. Und es klang so nahe, dass ich halb und halb erwartete, den Boden voll Wasser vorzufinden. Immerhin war ich gestrigen Tag doch ziemlich nahe am Ufer aufgeschlagen, oder etwa nicht?

Aber der Boden war trocken. Ich stand rasch auf; jetzt, wo es hell war, wollte ich als erstes einmal meine Umgebung erforschen. Und mich nach dem Hausbewohner umsehen. Schließlich konnte ich mich nicht einfach hier einnisten, ohne irgendjemanden um Erlaubnis zu fragen.

Das Zimmer, in welchem ich geschlafen hatte, erwies sich als Schlafzimmer, war aber so groß, dass meine ganze Kate in Reedeen hineingepasst hätte. Ich hatte in einem Bett geschlafen, welches mühelos drei oder vier Personen Platz geboten hätte und bei dieser Erkenntnis fragte ich mich prompt, ob der Hausherr vielleicht neben mir genächtigt hatte. Ich konnte allerdings keine Spuren finden, die darauf hinwiesen; die Decken und Felle waren nur dort zerwühlt, wo ich gelegen hatte und die Kissen auf der anderen Seite waren glatt, während meines ziemlich verknüllt aussah.

Während ich mir Rock und Bluse überstreifte und die Bänder zuknüpfte, sah ich mich weiter um. Mehrere große Kisten standen an der einen Wand, gegenüber befand sich eine große Kommode mit tiefen Schubladen. Auf der Kommode lagen zwei kurze, kräftige Messer, wie man sie zum Aufhebeln von Muscheln benutzt, einige Dolche verschiedener Machart, drei getrocknete Seesterne in leuchtenden Farben, eine Schale mit sorgfältig polierten und geschliffenen Steinen und zunächst des Fensters ein Topf mit einem gut einen halben Meter hohen Lavendelstrauch. Das erklärte mir den frischen Geruch im Zimmer sowie den Umstand, dass ich trotz der Schrecken des vergangenen Tages ruhig und ohne Alpträume geschlafen hatte. Die entspannende und schlaffördernde Wirkung des Lavendels hatte ich selbst oft genutzt; einer der Gründe, warum man mich als Hexe bezeichnet hatte. Gott hat uns die Heilkräuter gegeben, aber wer weiß, wie sie anzuwenden sind, kann sein Wissen nur vom Teufel haben. Das ist zumindest die Logik der Hexenjäger, der ich mich bis heute nicht anzuschließen vermag.

Der Lavendel sah gut gepflegt aus und als ich probeweise den Finger in die Erde steckte, erwies sie sich als locker und leicht feucht. Irgendjemand hatte also die Pflanze in den letzten beiden Tagen gegossen. Das Haus war auf keinen Fall so verlassen, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Jetzt war ich erst recht neugierig auf die anderen Räumlichkeiten in diesem Haus voller Rätsel.

Der vordere Raum war mit einem gemauerten Herd mit Backröhre, einer Feuerstelle rechts davon und einem Spülstein auf der linken Seite versehen. Wer das konzipiert hatte, hatte wohl Wert auf Bequemlichkeit gelegt; der Spülstein befand sich mit dem Herd auf gleicher Höhe, so konnte das auf dem Herd erhitzte Wasser direkt hineingeschüttet werden. Zudem war das Becken mit einem Abfluss versehen und musste nach dem Waschen nicht ausgeschöpft werden. Wer immer das Haus hier erbaut hatte, war wohl einen gewissen Luxus gewöhnt.

Mitten in diesem Küchenraum stand ein Tisch, umgeben von zwei Lehnstühlen und zwei Sitzbänken. Auf dem Tisch lagen einige frische Äpfel, zwei kleine Stinte und ein Dorsch. Unter den Fischen war der Tisch feucht und sie rochen noch nicht, konnten also erst an diesem Morgen gefangen worden sein. Das deutete ebenfalls darauf hin, dass hier jemand lebte und vermutlich Fisch zum Frühstück wünschte.

Andererseits war das Spülbecken knochentrocken und Herd sowie Feuerstelle völlig frei von Asche und anderen Rückständen. Das Holz, welches in einer Kiste daneben aufbewahrt wurde, war so ausgetrocknet, dass es staubte und beinahe zerfiel, als ich es berührte. Und die Regale an zwei Wänden enthielten zwar Teller, Schüsseln und Kannen, aber keinerlei Vorräte. Es gab keinen Staub und keine Spinnennetze, aber auch kein Anzeichen dafür, dass sich in letzter Zeit jemand anders hier aufgehalten hatte als der Wind, der beständig von der See herüberwehte.

Das Ganze war mir ein Rätsel. Einerseits vermittelte die Behausung die leblose, hohle Atmosphäre einer lange schon leerstehenden Ruine, andererseits konnte ich ja erkennen, dass sich noch vor kaum einer Stunde jemand hier aufgehalten haben musste. Vielleicht jemand, der nicht hier wohnte, sich aber um das Haus kümmerte? Aber so jemand hätte mir kaum einfach etwas zu Essen hingestellt und wäre gegangen, nachdem er oder sie entdeckt hatte, dass sich jemand Fremdes eingenistet hatte. Und was für ein Geschöpf hatte mich gestern so energisch zum Eintreten aufgefordert? Irgendwie ergab das alles keinen Sinn.

Aber zuerst musste ich mich um mein Überleben kümmern. Ich verschob weitere Überlegungen sowie die genauere Durchsicht des Hauses auf später und ging nach draußen, um mich erst einmal mit der Umgebung vertraut zu machen.

Als erstes stellte ich fest, dass das Haus doch nicht so nahe am Strand lag, wie ich vermutet hatte. Von der Türschwelle aus erstreckte sich etwa fünfzig Meter weit eine noch junge Feuchtwiese, deren Gräser und Seggen sich erfolgreich gegen die Binsen und Soden behaupteten, welche dafür die nächsten dreihundert Meter Salzwiese dominierten. Danach war nur noch Schlickgras zu finden, welches somit die Zone anzeigte, die bei Flut unweigerlich überschwemmt wird. Anhand der Verteilung dieser Pflanzen konnte ich erkennen, dass sich auch bei Springfluten das Wasser mindestens fünfzig Meter vom Haus fernhalten würde.

Beim weiteren Umschauen erkannte ich, dass das Haus am strandfernsten Punkt einer Bucht stand. Tatsächlich lag es sogar noch weiter zurück als die Bucht reichte, denn es kauerte sich unter eine Aushöhlung der Klippe und war auf diese Art von oben nicht zu sehen. Für mich bot es somit die größtmögliche Sicherheit vor den Hexenjägern.

Meine Absturzstelle lag ein gutes Stück weiter nördlich, dicht an dem Punkt, an welchem die Klippe beinahe ans Meer reichte, um sich da aus wieder ins Land zurückzuziehen. Das hatten mir die Karten, die mir der Buchhändler aus seinem Geheimfach geholt hatte, vorher schon verraten; das Kliff bildete mehrere Buchten hintereinander, als fiele es ihm schwer, sich vom Meer zu trennen, bevor es sich endgültig tief ins Land bohrte. In den beiden größten Buchten lagen die zwei Dörfer, die anderen waren als unbewohnt gekennzeichnet gewesen. Das traf wohl auf diese Bucht hier nicht zu.

Als ich mich zum Haus umdrehte, wurde mir auch bewusst, dass die „kleine Hütte", die ich nachts zu sehen geglaubt hatte, alles andere als eine Hütte war. Von dem überhängenden Felsen beschattet hatte das Haus um einiges kleiner gewirkt; tatsächlich besaß es die Grundfläche eines Stadthauses und war sogar zweistöckig. Es war aus grob behauenen, jedoch von Zeit, Wasser und Wind glattgeschliffenen Steinen und Mörtel erbaut worden und mit hellen Schindeln aus Treibholz gedeckt. Auffallend waren die vielen großen Fenster, die mit lichtdurchlässigem Pergament bespannt waren und keine Läden aufwiesen. Der Erbauer des Hauses schien wohl niemals zu frieren und fürchtete auch keinen Wind. Ich beschloss umgehend, Fensterläden anzubringen, wenn ich länger bleiben würde. Vorausgesetzt natürlich, der oder die Besitzer des Hauses waren damit einverstanden.

Unweit des Hauses entdeckte ich eine der genialsten Konstruktionen, die mir je im Leben begegnet waren. Noch innerhalb der Aushöhlung der Klippe rieselte Wasser in dünnem, aber beständigem Strahl aus dem Felsen. Jemand hatte diese natürliche Quelle in einem dreifachen Becken aufgefangen, welches er direkt aus dem Felsen geschlagen hatte. Und er hatte sich die Arbeit alles andere als leicht gemacht, denn der gesamte Aufbau war gute zwei Meter breit.

Das unterste Becken war nicht nur die erwähnten zwei Meter breit, sondern auch ebenso lang und etwa achtzig Zentimeter tief. Unten war ein Abfluss gebohrt worden, durch den das Wasser beständig in einem schmalen Bachbett Richtung Meer floss. Dieses Becken war wohl als eine Art Badewanne gedacht gewesen.

Etwas schmaler, so dass sich die dreißig Zentimeter Rand um das untere Becken fortsetzten, erhob sich an der gegen die Klippe gerichtete Seite ein weiteres Becken, welches nur dreißig Zentimeter tief und fünfzig Zentimeter lang war. Auch hier gab es einen Abfluss, aus dem das Wasser in das Becken darunter rann. Und dieses Becken wiederum wurde von der dritten Kuhle darüber versorgt.

Dieses oberste Becken entsprach in den Maßen dem mittleren, war jedoch mit Sand gefüllt. Der Sinn dessen erschloss sich mir auf der Stelle; das Rinnsal aus der Klippe war gelblichbraun, aus dem Abfluss ergoss sich jedoch kristallklares Wasser. Zweifellos bestand die Füllung des obersten Becken aus verschiedenen Lagen Sand, Kies und Holzkohle und da sich auch einige Wasserpflanzen und Moos dort angesiedelt hatten, wurde das Wasser nicht nur von Schmutzpartikeln, sondern auch schädlichen Substanzen gereinigt.

Das Ganze war also gleichzeitig ein Wasserfilter, ein Becken zum Wasserschöpfen und eine Wanne zum Waschen und Baden. Zudem befand sich in jedem dieser Becken ein Ast, der hineingefallenen Tieren das Herausklettern ermöglichte. Hier hatte sich jemand eine Menge Gedanken gemacht.

Einen solchen Ort hätte ich mir niemals erträumt. Eigentlich fehlten nur noch einige Obstbäume und Gemüse- und Getreidefelder, um es hier ein Leben lang aushalten zu können. Und für Bäume und Felder war der Platz durchaus vorhanden. Blieb nur noch die Frage, warum legte jemand einen solchen Ort an und nutzte ihn dann nicht wirklich?

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