3 - Jeans statt Sommerkleid

Jeder von uns hatte einen Rucksack auf dem Rücken, an dem ein Schlafsack baumelte. Das war alles, was wir noch hatten. In diesem Rucksack war unser Leben.

Dad war in der Wohnung geblieben. Dort hatten wir uns auch tränenreich voneinander verabschiedet. Wir hatten keine Ahnung, wann und ob wir uns jemals wiedersehen würden. Aus diesem Grund hatte ich versucht mir jedes Detail von ihm einzuprägen. Seinen Geruch, seine Falten und seine Augen. Ich hatte auf meine Hand zwar viele Fotos von ihm, doch das war nicht das Gleiche. Ich wollte diese Bilder auch im Gedächtnis haben. Wir hatten uns ewig umarmt und geweint. Dann sprachen wir uns gegenseitig Mut zu und redete uns ein, dass wir uns wiedersehen würden. Wir wussten beide, dass es eine Lüge war, doch keiner wagte es, das auszusprechen.

Ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Ich hatte innerhalb weniger Stunden mein gesamtes Leben verloren. Alles, was mir übrig geblieben war, war dieser Rucksack und meine drei besten Freunde.

Wir standen hier vor diesem alten Fabrikgebäude, das mehr als Angst einflößend war. Nur der Mond spendete uns Licht. Wir hatten alle Angst, doch darüber sprachen wir nicht. Stattdessen sagten wir uns immer wieder, dass alles gut werden würde.

Ein weißer Kleintransporter fuhr vor.

Der Wagen blieb stehen.

Wir waren hier nicht alleine. Eine Familie und ein junger Mann wollten auch in Richtung Frankreich.

Die Fahrertür ging auf und ein Mann, der gefühlt doppelt so groß war, wie ich stieg aus. Zuerst wandte er sich an uns Mädchen.

„Ihr Vier wollt alle mit?", sprach er mit rauchiger Stimme.

Er stank nach Alkohol.

Wir nickten verängstigt.

„Pro Nase 10.000."

Das war absurd so viel Geld zu verlangen, doch wir alle zahlten. Wir hatten genug Geld. Unsere Eltern hatte alle immer gut bezahlte Jobs gehabt. Auch Greta, Paula und Kira und unglaublich viel Bargeld dabei.

Der Mann zählte eine ganze Weile diese Scheine.

Dann öffnete er die Tür zum Frachtraum. Viele Augen sahen mich an. Irgendwie hatte ich noch nicht damit gerechnet, dass da schon Menschen drin waren.

„Der ist doch schon voll", flüsterte Greta.

„Rein da!", sprach uns ein Mann mit harschem Ton an.

„Da passen wir doch niemals rein", protestierte Paula.

Wir alle hatten mittlerweile Jeans und fest Schuhe an. Unsere blutverschmierten Sommerkleider hatten wir zurückgelassen.

„Und ob ihr da rein passt", entgegnete er genervt.

Dann packte er Paula unsanft am Handgelenk und zerrte sie zur Tür. Geschockt sah ich zu, wie er sie in den Transporter quetschte.

„Autsch!", rief Paula.

Ich schluckte schwer. Wir anderen sahen uns an. Wir mussten da jetzt auch rein. Wir hatten keine Wahl. Bis zur französischen Grenze waren es bestimmt 5 oder 6 Stunden Fahrt. Vielleicht sogar noch mehr. Und das in diesem kleinen Ding? Mit Menschen, die ich nicht kannte? Mit denen ich aber eng an eng sitzen musste?

„Na los, kommt oder ich lass euch zurück!", drängte der Mann.

Zögerlich stiegen wir ein. Ich trat mindestens drei Menschen dabei auf die Füße und entschuldigte mich sofort. Es war stickig und heiß. Am schlimmsten war jedoch der Gestank. Es roch wie im Bahnhofsklo, nur tausend Mal schlimmer. Mir wurde schlecht.

Es war Punkt ein Uhr, als wir losfuhren. Eigentlich wollte ich nur schlafen. Schlafen und vergessen, was heute geschehen war.

Doch stattdessen saß ich eingepfercht wie ein Stück Vieh in einem Transporter. Die Türen schlossen sich und plötzlich war alles dunkel. Ich konnte mich kaum bewegen, weshalb ich auch nicht an mein Handy im Rucksack kam.

Ich dachte an Hühner in Käfighaltung. Genauso fühlte ich mich gerade. Wie ein Tier.

Ich traute mich nichts zu sagen, denn ich wusste, dass jeder mithören könnte, wenn ich meinen Freundinnen meine Ängste mitteilen würde. Keiner sagte etwas. Ich hörte nur ein leises Wimmern, das von einem Kind zu kommen schien.

Ich weinte auch leise. Ich dachte an meine Mum, die vielleicht schon tot war oder gerade gefoltert wurde. Es war allgemein bekannt, welche Methoden man anwendete. Stockschläge waren noch das Harmloseste. Ich wollte gar nicht daran denken, was sie alles mit ihr anstellen könnten, doch die Gedanken setzen sich in mir fest und verschlimmerten sich mit jeder Minute. Vielleicht rissen sie ihr die Fingernägel raus oder verbrannten ihr die Augen mit Säure, sodass sie nichts mehr sehen konnte. Sie könnten ihr auch die Zähne einzeln rausschlagen oder die Hand abhacken. Die Zunge rausschneiden oder ihre die Haare rausreißen. Man könnte sie mit heißem Wasser übergießen oder sie vergewaltigen.

Ich wurde verrückt in dieser Dunkelheit.

„Ich muss auf Klo", flüsterte Paula mir zu. Ihre Stimme war erstaunlich nahe.

„Ich glaube nicht, dass wir eine Pause machen", sagte ich leise, auch wenn mir bewusst war, dass alle es hören konnten.

„Aber ich muss echt dringend."

„Und ich hab meine Tage", sagte Kira jammernd.

Auch wenn es bei mir noch nicht so weit war, war mir bewusst, dass auch ich irgendwann mal eine Toilette benötigen würde. Ich kannte meine Blase zu gut.

„Laufen lassen", sprach eine fremde Frauenstimme mit nordischem Dialekt. „Früher oder später hat man keine Wahl."

Mir war bewusst gewesen, dass andere das schon gemacht hatten. Der Gestank kam schließlich nicht von irgendwo. Doch die Vorstellung mir in die Hose zu machen, widerstrebte mir. Ich war 16. Da machte man sich nicht in die Hose. Das konnte ich nicht.

„Ich kann das nicht", sagte auch Paula.

„Warte ab! Irgendwann kannst du", sagte die Frau, zu der ich kein Gesicht kannte.

Dann verfielen wir wieder ins Schweigen.

Ich verlor jegliches Zeitgefühl und durchlief mehrere Phasen.

Zuerst drehten meine Gedanken durch. Ich war unruhig und versuchte ständig meine Position irgendwie zu ändern. Dann wurde ich ruhiger. Ich ergab mich meinem Schicksal und versuchte mir in Gedanken auszumalen, dass ich eine schöne Zukunft haben könnte. Dass sich diese Strapazen hier lohen würden. Ich stellte mir vor, wie ich irgendwann mal meinen Kindern in einer friedlichen Welt von meiner Flucht erzählte. Ich würde berichten, wie ich in diesem Transporter gesessen hatte, nachdem ich meine Mutter verloren hatte. Wie ich geflohen war, um eine Chance auf leben zu haben. Dann kam die Phase der Angst. Vielleicht würde ich nie eine Familie haben, weil ich die Flucht nicht überlebte. Vielleicht starb ich heute oder in den nächsten Tagen. Viele kamen auf der Flucht ums Leben. Das hatte sich herumgesprochen. Wer sagte mir, dass ich die USA erreichen würde? Und dann kam die Phase, in der ich merkte, wie schwach ich geworden war. Ich bekam kaum noch Luft. Es war unglaublich stickig. Meine Atmung war flach und die Haut glühte. Der Todeskampf begann.

„Ich kann nicht mehr", flüsterte ich.

„Ich auch nicht", hörte ich Greta.

„Meint ihr, wie fahren noch lange?", ertönte auch Kiras Stimme.

„Ich habe keine Ahnung, aber wenn wir hier noch lange drin bleiben, ersticken wir", raunte Paula deutlich geschwächt.

Es verging eine weitere Ewigkeit, in der mich immer mehr die Kräfte verließen. Dann hörte ich ein Klopfen. Jemand klopfte aus unserem Laderaum gegen die Wand zum Fahrerhäuschen. Wer immer das auch war: ich war erstaunt, dass er die Kraft hatte so heftig dagegen zu schlagen.

Es kam jedoch keine Reaktion vom Fahrer. Das Auto fuhr weiter.

Irgendwann gab er das Klopfen auf.

Es folgten wieder qualvollen Minuten in der Dunkelheit.

Dann fing eine Frau an, wie am Spieß zu schreien. Ich spürte wie Dynamik in unsere Gruppe kam. Alle versuchten sich irgendwie zu bewegen, was aufgrund des Platzmangels eigentlich nicht möglich war. Ich hatte Schmerz, weil mein Köper zusammengestaucht wurde. Panik brach aus und ich wusste nicht warum.

„Mein Baby!", schrie eine Frau. „Mein Baby!"

Auch wenn sie nicht sagte, was mit ihrem Baby war, war ich mir sicher, dass es nicht mehr lebte. Anders konnte ich mir den Schmerz und ihre Verzweiflung in der Stimme nicht erklären. Sie schrie immer und immer wieder „Mein Baby". Am Anfang tat sie mir leid. Dann war ich genervt und dann tat sie mir wieder leid. Das hier war alles wie ein furchtbarer Alptraum und ich bekam zunehmend das ungute Gefühl, dass ich nicht mehr daraus aufwachen würde. Aus ihrem Schreien wurde immer mehr ein Flüstern. Ich hörte Wimmern und Schluchzen.

Viele Menschen atmeten mittlerweile schwer. Wir waren hier gefangen.

Dann lehnte ein männlicher, verschwitzter Körper an mir. Ich begann nach einem Puls zu suchen, wurde aber nicht fündig.

Bitte nicht.

Es lehnte gerade tatsächlich eine Leiche an mir. Ein Toter.

Wann hatte der Horror endlich ein Ende?

Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht. Ich versuchte erfolglos den Körper von mir wegzudrücken.

Ich wollte hier noch nur raus.

Ich war kurz davor komplett durchzudrehen.

Ich hatte gewusst, dass eine Flucht schwer war, aber ich hätte nicht gedacht, dass ich so schnell in Lebensgefahr sein würde. Ich war doch gerade erst aufgebrochen und schon saß ich hier zwischen Toten und war wahrscheinlich selbst bald eine von ihnen.

„Seid ihr okay?", fragte ich meine Mädels.

Es kamen drei leise Jas.

Immerhin etwas.

Ich wedelte mir meiner Hand vor meiner Nase herum, um mir irgendwie Luft zu fächeln zu können, jedoch erfolglos. Meine Klamotten klebten mittlerweile an meinem nassen Körper. Auch die Haare waren pitschnass. Ich hoffte mein Vater würde, falls ich hier drin sterben sollte, nie davon erfahren.

Der Wagen blieb plötzlich stehen. Durch das Bremsen wurden wir alle durchgeschüttelt.

Ich hörte eine Autotür zu klappen.

„Sind wir da?", fragte ein kleines Kind, ohne eine Antwort zu bekommen.

Dann wurde die Tür aufgeschoben.

Ich hatte mich noch nie so sehr über frische Luft gefreut. Das Sonnenlicht brannte zwar in den Augen, doch der Genuss von Sauerstoff überwältigte mich im Moment.


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