2 - Ohne Eltern, aber mit viel Angst

Ich befand mich in der Hölle.

Eben war das hier noch eine normale Kreuzung gewesen, an Menschen in Cafés saßen und nun sah ich nur einen Kriegsschauplatz.

Ich sah eine Frau, die wie eine lebende Fackel über die Kreuzung lief. Ich konnte meinen Blick von ihr nicht abwenden. Gleichzeitig war ich erstaunt, wie weit sie ihren Körper mit all den Flammen schleppen konnte. Die Frau schrie wie am Spieß, doch niemand half ihr. Sie lief fast 30 Meter ehe sie zusammenbrach. Dann verbrannte ihr Körper. Wie Adrian zuckte auch sie noch, ehe sie endgültig starb und von den Schmerzen erlöst wurde.

Auf meine Haut breitete sich eine Gänsehaut aus.

Autos brannten.

Überall war Feuer und es war heiß.

Menschen schleppten über den Betonboden.

Mein Blick fiel auf einen Mann, von dessen rechter Gesichtshälfte die Haut in Fetzen herunterhing. Er trug ein kleines Kind, das leblos in seinen Armen hing.

Es roch nach verbranntem Fleisch.

„WIR MÜSSEN HIER WEG!", schrie Kira.

Ich war froh ihre kräftige Stimme zu hören. Ihr konnte nichts Schlimmes passiert sein.

Ich spürte Hände, die mich hochzogen.

„Komm Lola! Wir müssen hier weg! Du weißt, dass eine zweite Explosion kommt!"

Ja, das wusste ich. Die erste Explosionswelle sollte Zivilisten treffen. Die Zweite sollte die töten, die den Verletzten helfen wollten.

Wir mussten uns beeilen.

Ich sah nun auch Greta und Paula. Außer ein paar Schürfwunden sahen alle okay aus. Wieder liefen wir los. In ständiger Angst, dass es gleich wieder knallen könnte.

Ich wusste nicht woher ich dir Kraft hatte noch zu rennen, aber Fakt war, dass meine Beine sich erstaunlich schnell und regelmäßig bewegten.

Während ich rannte, sah auf den Boden.

Das war ein Fehler.

Da war Blut. Überall. Ich lief durch einen See von Blut.

Das Blut der Unschuldigen.

Mit jedem Schritt spritzte es. Es klebte an meinen Füßen und an meinen nackten Unterschenkeln.

Ich sah Körperteile, ohne die passenden Körper zu sehen. Manche waren so klein, dass sie zu Kindern gehört haben mussten. Ich musste Leichen ausweichen und über Wrackteile klettern.

Kira ließ meine Hand nicht los. Sie trieb mich voran.

Wir liefen in die Straße, in der ich mit meinen Eltern wohnte.

„Alle okay?", brachte ich über die Lippen.

„Glaube schon", antworte Paula als erstes.

Die anderen Zwei nickten nur mit weitaufgerissenen Augen, in denen sich das Grauen widerspiegelte.

Dann hörten wir die zweite Explosion. Sie kam mir leiser vor. Wir waren weit genug weg, um nicht von ihr erwischt zu werden. Trotzdem schmissen wir uns instinktiv auf den Boden. So hatten wir es in der Schule gelernt.

Wir warteten kurz ab. Als uns bewusst wurde, dass uns keine Druckwelle erreichte, flüchteten wir in mein Wohnhaus.

Es kam mir vor, als wäre die Treppe doppelt so lang, als gewöhnlich.

Irgendwann musste ich meine Tasche verloren haben. Mein Handy hatte ich aus irgendeinem Grund jedoch noch in der Hand. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich es aus der Tasche genommen hatte, aber ich war froh, es nicht verloren zu haben.

Ich hatte keinen Schlüssel, also hämmerte ich fünf Mal gegen die Tür, machte dann eine Pause und hämmerte dann drei Mal. Das war unser Erkennungszeichen. Zwar hatten wir auch einen Spion, doch unsere Tür war nicht kugelsicher. Meine Eltern hatten auf diese Sicherheitsmaßnahe Wert gelegt. In den letzten Jahren waren sie sehr vorsichtig geworden.

Dad riss die Tür auf und fiel mir um den Hals. Er weinte. Wir alle drängten in den kleinen Flur und schlossen dann die Tür hinter uns. Unsere blutigen Fußabdrücke brachten wir jedoch mit in die Wohnung.

„Du lebst!", schluchzte er.

Ihm war die Explosion offensichtlich nicht entgangen.

„Wo ist Mum?", fragte ich sofort.

Sein Gesicht wurde ganz rot und die Augen wässrig. Er schaffte es nicht mir in die Augen zu sehen.

„Dad?", fragte ich mit Nachdruck. „Wo ist Mum?"

Er schüttelte den Kopf und da wusste ich es. Sie würde nicht wieder kommen.

„Sie haben Sie mitgenommen?", flüsterte ich und suchte Halt an einer Kommode.

Er hatte Mühe seinen Kopf zu einem Nicken zu bewegen.

„Auf Arbeit haben sie sie abgefangen", erklärte er mit schwacher Stimme. Auch Greta, Kira und Paula lauschten mit aschfahlen Gesichtern. „Sie haben fast die ganze Redaktion mitgenommen. Nur ein paar Mitarbeiter konnten fliehen. Deine Mutter leider nicht."

Ich biss mir auf die Lippe um nicht laut loszuschreien. Wenn Mum Glück hatte, war sie jetzt tot. Wenn sie Pech hatte, steckte man sie ins Gefängnis, wo man sie qualvoll foltern würde.

Ich hatte immer gewusst, dass ihre Arbeit für die Freiheitszeitung gefährlich war, doch erst jetzt begriff ich es. Ich hatte soeben meine Mutter verloren. Ich würde sie nie wiedersehen. Ich war jetzt Halbwaise. Ich wollte mich einfach auf den Boden schmeißen und heulen. Ich hatte den Gedanken, dass einer meiner Eltern sterben könnte, immer verdrängt. Umso heftiger traf mich nun diese Nachricht.

„Lola, du hörst mir jetzt zu!", sagte Dad eindringlich und versuchte sich zusammenzureißen. „Du musst hier weg. Sie haben die gesamte Stadt heute angegriffen. Hier ist man nirgends mehr sicher. Du hast hier keine Zukunft. Sie haben die Universität gesprengt und viele Schulen. Auch das Krankenhaus. Es gibt hier kein Leben mehr."

„Dad, was redest du da?", fragte ich weinerlich.

Ich konnte seine Verzweiflung spüren. Ich hatte meinen Vater noch nie so erlebt, wie jetzt.

„Du musst fliehen!"

„WIR müssen fliehen", korrigierte ich ihn. „Wir beide müssen hier weg."

Tränen strömten über sein Gesicht. Er nahm meine Hände.

„Ich kann hier nicht weg. Deine Grandma schafft keine Flucht. Ich kann sie nicht zurücklassen. Du musst allein gehen!"

Unmöglich!

„Ich kann das nicht allein!", widersprach ich sofort.

„Doch. Du musst. Ich habe schon lange darüber nachgedacht. Ich habe genug Bargeld zurückgelegt. Du musst über Frankreich und Spanien nach Gibraltar. Von dort kommst du nach Marokko. Und von dort aus bringen sie Flüchtlinge in die USA. Tante Julia würde dich aufnehmen."

Was redete er da?

„Ich soll allein durch ganz Europa?"

Panik stieg in mir auf. Das konnte ich unmöglich tun.

„Ich komm mit", hörte ich Kiras Stimme sagen.

Entgeistert sah ich zu ihr.

„WAS?"

Sie schluckte schwer.

„Mein Vater wollte mich auch schon zur Flucht überreden. Bis jetzt habe ich immer abgelehnt, aber dein Vater hat Recht, wenn wir hier bleiben, sterben wir."

Das konnte sie doch nicht ernst meinen. Ich würde meinen Vater nicht zurücklassen. Auf gar keinen Fall!

Doch Dad holte plötzlich einen Rucksack aus meinem Zimmer. Er war gepackt. Was geschah hier gerade? Er drückte ihn mir in die Hand. Hatte er sogar schon meine Sache gepackt?

„Ich liebe dich, Lola. Und genau deshalb muss du hier weg!" Er wischte sich eine Träne von der Wange. „Und zwar ohne mich."

Mein Vater hatte gerade seine Ehefrau verloren und jetzt sollte ich ihn auch noch verlassen? Das konnte ich ihm nicht tun.

„Dad, bitte", flehte ich. „Vielleicht bekommt die Regierung bald alles wieder unter Kontrolle."

Er schüttelte traurig den Kopf.

„Spätestens seit heute weiß jeder, dass die Regierung gar nichts mehr unter Kontrolle hat. Im ganzen Land waren am Abend Angriffe. Die DePa sind zu mächtig geworden und es wird nur noch schlimmer werden."

„Er hat Recht", flüsterte nun auch Greta. „Die DePa sind mittlerweile überall."

Die DePa- Die Deutsche Patrioten. Mit ihnen hatte das Grauen langsam Einzug genommen. Und irgendwann war alles außer Kontrolle geraten. Niemand konnte ihnen mehr etwas entgegensetzen. Wir lebten in Anarchie. Es gab keine Gesetze mehr, die galten.

„In deinem Rucksack ist eine Plastiktüte mit 50.000 US Dollar", sprach Dad weiter. „Deine Mum und ich habe sie genau für diesen Zweck gespart. Mit Dollar kommst weiter als mit Euro. Damit solltest du erst einmal ganz gut gewappnet sein. Ansonsten habe ich alles Wichtige in den Rucksack getan. Auch deine Reiseroute, wie du am schnellsten hieraus kommst."

Er meinte es ernst. Er meinte es wirklich ernst. Und er hatte nicht erst seit gestern darüber nachgedacht. Das hier war lange geplant gewesen. Warum hatten sie mir nichts erzählt?

Ich war 16. Wie sollte ich ganz alleine durch einen Kontinent reisen?

Dad umarmte mich.

„Du schaffst das. Du bist doch mein Mädchen und ich weiß, dass du stark bist."

Ich war unfähig etwas zu sagen. Ich hatte mehr Angst vor einer Flucht, als vor Bomben. Denn auf der Flucht würde ich ganz auf mich allein gestellt sein.

„Immer um ein Uhr morgens fährt an der alten Fabrikhalle ein Transporter an die Französische Grenze. Den musst du nehmen. In zwei Stunden fährt er ab. Man bezahlt vor Ort in Bar."

Das war alles zu viel für mich. Er stellte mich vor vollendete Tatsachen.

„Ich kann das nicht", wimmerte ich völlig verzweifelt.

Er konnte mich doch nicht von jetzt auf eben auf eine Flucht schicken. Diese Flucht bedeute auch, dass ich meine Heimat hinter mir ließ. Ich hatte doch Freunde hier und vor allem einen Dad. Wenn ich ging, würde n wir uns vielleicht nie wiedersehen. Ich würde ein ganzes Leben hinter mir lassen.

„Ich komm doch mit", sagte Kira. „Wir Zwei schaffen schon."

„Und dein Vater?", gab ich zu bedenken.

„Er hat keine Kraft mitzukommen. Wir haben da schon oft drüber gesprochen. Er will hier nicht weg. Zu viele aus unserer Familie sind hier gestorben. Er will hier auch sterben."

Manchmal vergaß ich, dass Kira schon deutlich länger von dem Terror betroffen war. Ihre Mutter und ihr Brüder waren schon vor längere Zeit dem Terror zum Opfer gefallen.

„Wir kommen auch mit", hörte ich plötzlich Paula und Greta sagen. „Unsere Eltern haben mit uns auch schon darüber gesprochen. Sie selbst können hier nicht weg, weil Leon noch zu klein ist, aber sie wollen fliehen, sobald er alt genug ist, um selbst ein paar Kilometer laufen zu können."

Ich sah wieder zu meinem Dad. Er schien einerseits froh, dass ich diese Flucht offensichtlich nicht alleine antreten musste, doch auf der anderen Seite war es sehr wahrscheinlich, dass wir uns nie wiedersehen würden. Diesen Gedanken konnte ich ihm vom Gesicht ablesen. Es war ein Abschied für immer.

Das konnte ich doch nicht tun. Ich liebte mein Vater und jetzt meine Mutter tot war, konnte ich ihn doch nicht alleine lassen.

Wir hatten nur noch zwei Stunden bis wir an der alten Fabrikhalle sein mussten.

„Wir treffen uns in zwei Stunden an der alten Fabrikhalle und hoffen, dass sie uns alle Vier mitnehmen, okay?", begann Paula nun konkret zu werden.

Offensichtlich passierte das hier gerade wirklich.

Ich würde fliehen.

Der Entschluss stand fest, auch wenn ich mich nicht erinnern konnte, dafür gestimmt zu haben.

Ich konnte meine Gefühle nicht sortieren. Ich hatte erst eben gesehen, wie jemand erschossen wurde. Dann war eine Bombe explodiert. Ich war über Leichen gestiegen und durch Blut gerannt, welches noch immer an meiner Kleidung und meinem Körper klebte. Ich hatte erfahren, dass meine Mutter praktisch tot war und ich sie nie wiedersehen würde und nun musste ich auch noch meine Heimat verlassen. Ohne Eltern. Und dafür mit noch mehr Ängsten.

Ich hatte weder Zeit zum Trauern, noch zum Verarbeiten.

Dad schien mir mein Gefühlschaos anzusehen. Er nahm mich in den Arm und drückte mich fest. Dann legte er seine Hände auf meine Wangen und sah mich an. Die Hände waren eiskalt, der Blick umso wärmer.

„Ich weiß, wie schwer das ist, aber du musst das tun! Du hast keine andere Chance. Wenn du mal eine Familie haben willst oder einen Job oder einfach nur ein normales Leben, dann musst du hier raus."

Das erste Mal nickte ich einsichtig.

Ich wollte auch mal eine Familie haben und die sollten in Frieden leben.

Also musste ich fliehen.


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