1 - Auf eine grandiose Zukunft!
„Ich seh furchtbar aus!", beschwerte sich Kira und zupfte ihre Haare noch einmal zu recht. „Los, noch eins!"
Wieder streckten wir unsere Gesichter in Richtung Frontkamera und grinsten, als wären wir mit Breitmaulfröschen verwandt.
„Ich hab die Augen zu", meckerte Paula beim nächsten Foto, also wurde wieder der Selfiestick in Richtung Himmel gereckt.
„Cheese!", rief ich und drückte den Auslöser.
Kaum war das Bild geschossen, begutachtete jeder kritisch sein Gesicht.
„Damit kann ich leben", gab sich Paula mehr oder weniger zufrieden und fand Zustimmung von uns.
Ich steckte mein Telefon wieder in die Tasche und kontrollierte, ob bei meinem Dekolleté noch alles saß. Dieses Kleid war nicht nur wunderhübsch, sondern durch den Tiefen Ausschnitt auch ein bisschen risikobehaftet.
Wir hatten alle Vier geblümte Kleider an und die Haare im französischen Stil geflochten. Wir könnten auch aus einer Astrid Lindgren Verfilmung entstammen. Es war der letzte Schultag gewesen und traditionell gab unsere Schule zum Anlass ein Sommerfest. Sogar dieses Jahr. Man hatte lange diskutiert, ob man es diesen Sommer nicht besser ausfallen lassen sollte, doch wir verbliebenden Schüler hatten auf unser Sommerfest bestanden. Wir wollten wenigstens ein bisschen Normalität erhalten, auch wenn uns bewusst war, dass im Moment alles andere als normal war.
Es sah trotzdem alles aus wie in den letzten Jahren. Es gab Stände mit Essen und Trinken. Überall waren bunte Luftballons angebracht und unsere Schulband coverte ein paar Songs. Bei diesem Anblick könnte man wirklich meinen, dass wir in einer friedlichen Welt lebten.
Der einzige Unterschied war, dass es nicht einmal halb so viele Schüler wie sonst kamen. Die meisten hatten Angst, andere waren geflüchtet und ein paar waren gestorben. Doch ich wollte mich nicht einschüchtern lassen. Das war mein Leben und das würde ich mir nicht nehmen lassen. Meine Eltern sahen es zum Glück genauso. Sie wollten sich nicht unterkriegen lassen. Sie waren Gegner der Deutschen Patrioten und somit auch Ziel von Attacken. Bis jetzt waren es zum Glück nur harmlose Farbbeutel gewesen, die an unseren Fenstern zerschellt waren und einmal waren die Reifen zerstochen gewesen, doch ansonsten waren wir verschont geblieben.
„Ich will einen Mango-Lassi!", rief Paula als sie das entsprechende Schild dafür erblickte. Sofort kramte sie in ihrem Portemonnaie herum.
Paula und Greta waren Zwillinge. Jedoch nicht die Art von Zwillingen, die stets im Partnerlook erschienen und die Gedanken lesen konnten. Sie sahen sich nicht einmal ähnlich. Paul war blond, Greta war rothaarig. Und genauso gegensätzlich waren auch ihre Charaktere. Paula war laut, Greta war zurückhaltend. Da sich Gegensätze bekanntermaßen jedoch anzogen, waren sie trotzdem die dicksten Freunde. Wir alle Vier waren das. Seit der siebten Klasse. Wir hatten uns schon am ersten Tag an der Schule gesucht und gefunden.
„Ich nehme auch einen", stimmte ich zu.
„Ich auch", kam es auch von Greta.
Wir alle wussten, dass Kira laktoseintolerant war und das joghurthaltige Getränk für sie somit flachfiel.
„Naja, ein frisch gepresster Orangensaft ist ja auch etwas Leckeres", versuchte ich sie aufzubauen.
Sie lächelte nur halbherzig.
Zwei Minuten später standen wir vor der Bühne und wippten zur Musik hin und her. Ich schoss noch mehr Fotos. So jung kamen wir schließlich nicht noch einmal zusammen.
„Was macht ihr denn hier?", hörte ich eine Stimme rufen.
Ich drehte mich um und sah, wie Adrian auf uns zukam. Er war ein Jahrgang über uns und wir hatten uns ein paar Mal gedatet. Sein Blick fiel sofort beeindruckt auf mein Dekolleté. Das Kleid hatte sein Wirkung also nicht verfehlt. Ich mochte ihn. Er war witzig und charmant. Gut aussehen tat er auch.
„Das Schulfest genießen", entgegnete ich selbstverständlich.
„Und das erlauben euch eure Eltern?"
Greta und Paula sahen beide zu Boden.
„Mir schon", sagten Kira und ich im Chor, woraufhin wir uns angrinsten.
„Ihr habt euch rausgeschlichen, nehme ich mal an", sprach Adrian die Blondine und den Rotschopf mahnend an, meinte es aber nicht so ernst, wie es klang.
„Wir wollen uns nicht all unseren Spaß nehmen lassen, nur weil irgendwelche Idioten meinen müssen Terror zu verbreiten", ergriff Paula das Wort.
„Sehe ich auch so. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass hier heute irgendetwas passiert. Da haben die doch ganz andere Ziele, als unsere kleine Schule."
Das hofften wir alle, doch sicher konnten wir uns nicht sein. Außerdem waren in letzter Zeit immer wieder öffentliche Einrichtungen zum Ziel geworden. Es war schon verrückt. Wir kannten die Gefahr. Jeder von uns hatte schon Menschen gehört, die einfach verschwunden waren. Wir alle hatten schon die Explosionen und Schüsse gehört. Und wir hatten auch schon Menschen verloren. Manche von uns sogar schon Familienmitglieder. Doch wir waren fest davon überzeugt, dass es uns nicht treffen würde.
„Auf eine grandiose Zukunft!", sagte ich in die Runde und erhob meinen Plastikbecher.
Optimismus war mein Kampf gegen den Terror.
Die Mädels taten es mir nach. Adrian streckte seine Bierflasche nach oben.
„Auf eine grandiose Zukunft", ertönte es im Chor.
Wir stießen an.
Wir waren jung und wir wollten uns auch so fühlen. Wir wollten ausgehen und Spaß haben. Und genau das taten wir heute. Wir lebten unser Leben so, wie es unsere Eltern damals gemacht hatten, als es noch keine Explosionen und Heckenschützen gab. Dieser Abend gehörte uns!
Die Stimmung wurde immer besser. Wir tanzten und lachten, als wäre die Welt in Ordnung.
Das Schulfest ging bis um zehn.
Dann begann es zu dämmern. Die Sonne küsste den Horizont und der Himmel wurde blutrot.
Die kommende Dunkelheit war gefährlich.
„Soll ich euch nach Hause bringen?", fragte Adrian, als wir in Aufbruchstimmung waren.
„Nein, brauchst du nicht. Wir können schon ganz gut auf uns aufpassen", beschwichtigte ich. „Außerdem sind wir zu Viert. Wir gehen alle noch nach zu mir nach Hause und ziehen uns noch eine DVD rein. Pass du lieber auf dich auf."
„Mach ich!"
Er umarmte uns. Ich war die einzige, die auch einen Wangenkuss von ihm bekam. Dann gingen wir in entgegengesetzte Richtungen.
Kaum war er außer Hörweite, fing Paula an loszuplappern.
„Man, wieso seid ihr nicht schon längst ein Paar? Ihr seid echt süß zusammen", schwärmte sie.
Ich verdrehte die Augen.
„Man muss doch nichts überstürzen", tat ich es mit leicht roten Wangen ab.
Ein Knall riss mich aus den Gedanken.
Er war laut.
Wir alle wirbelten erschrocken herum. Wir kannten dieses Geräusch, auch wenn ich es noch nie so nahe gehört hatte.
Es war ein Schuss gewesen.
Und als ich mich umdrehte, sah ich auch wer den Schuss abbekommen hatte.
„Adrian!", kam er heiser aus meiner Kehle.
Er lag auf dem Boden. Sein gesamter Körper zuckte unkontrolliert.
Meine Luftröhre zog sich zusammen und ließ mich nur schwer atmen.
Ich wollte zu ihm rennen, doch eine Hand packte mich am Unterarm.
„Nicht, Lola!", schrie Kira panisch. „Wir müssen rennen."
Ihre Augen waren weit aufgerissen.
Ich schüttelte hysterisch den Kopf.
„Aber Adrian braucht Hilfe", kreischte ich zurück.
Kira zog mit der Stärke eines Tigers an meinem Handgelenk.
„Komm! Wir müssen rennen! Wenn du zu ihm gehst, erschießen sie dich auch!"
Ich blieb wie angewurzelt stehen. Ich konnte Adrian doch nicht zurücklassen. Er lag dort in seinem eigenen Blut. Ein zweiter Schuss erklang. Ich setzte mich in Bewegung. Es war die Todesangst, die mich von Adrians Körper wegrennen ließ. Der nächste Schuss könnte mich treffen.
Wir Vier rannten um unser Leben. Wir kannten die Gefahr von Heckenschützen, doch noch nie war einer in unserem Viertel gewesen. Unsere Wohngegend hatte immer noch als sicher gegolten, doch nun hatten sie Adrian getötet und langsam wurde mir bewusst, dass der Terror auch mein Leben erreicht hatte.
Immer wieder stolperten wir und kamen ins Straucheln. Keine von uns hatte Schuhe an, die zum Rennen geeignet waren. Mein Herz schlug schnell. Zu schnell.
Wir rannten bestimmt einen Kilometer, ehe wir uns sicher genug fühlten, um das Tempo zu verlangsamen. Ich sah in kreidebleiche Gesichter. Wir alle hechelten und zitterten.
Wir konnten nicht glauben, dass Adrian, mit dem wir den gesamten Abend verbracht hatten, soeben vor unseren Augen erschossen wurde.
„Meint ihr, er ist tot?", fragte Greta vorsichtig und mit wässrigen Augen.
Sie war de naivste von uns und das zeigte auch ihre Frage.
„Natürlich ist er das. Heckenschützen lassen niemanden am Leben", sagte Kira kühl.
Sie hatte schon zwei Brüder durch Heckenschützen verloren. Ihre Mutter war bei einer Explosion in der U-Bahn ums Leben gekommen. Aus diesem Grund hatte sie heute auch mit aufs Schulfest kommen können. Sie hatte nur noch ihren Vater und dieser war ein psychisches Wrack, welches unfähig war, sich noch um seine Tochter zu kümmern.
Greta vergrub ihr Gesicht in den Händen und weinte.
„Komm!", sagte Paula und zog sie am Arm „Wir müssen weiter. Bald ist es ganz dunkel."
Eigentlich hatten wir den Bus nehmen wollen, doch nun waren wir soweit gerannt, sodass wir den Rest auch laufen konnten.
Wir liefen schweigend weiter.
Jeder versunken in seinen eigenen Gedanken.
Mir ging Adrian nicht aus dem Kopf. Ich hoffte, dass er schon tot war und sich nicht mehr quälen musste. Die Vorstellung, dass er voller Schmerzen noch auf der Straße lag, trieb auch mir die Tränen in die Augen. Auch wenn ich nicht gläubig war, betete ist dafür, dass er schnell gestorben war.
Plötzlich spürte ich, wie eine Hand meine Finger umgriffen. Es war Kira. Sie sah mich mit weichen Gesichtszügen an.
„Tut mir leid", flüsterte sie. „Ich weiß, wie sehr du ihn gemocht hast."
Ja, ich hatte ihn gemocht. Er hatte mich sogar auf die Wange geküsst. Vielleicht war ich sogar in ihn verliebt gewesen.
„Er hat das nicht verdient", schluchzte ich.
Mir kam das Bild wieder in den Kopf, wie er in seiner Blutlache dort gelegen hatte. Sein Körper hatte gezuckt wie ein Fisch, den man achtlos aufs Trockene geworfen hatte.
„Ich weiß", hauchte sie und drückte meine Hand fester.
Sie ließ meine Hand nicht mehr los und so gingen wir händchenhaltend durch die Straßen. Wir versuchten nahe an der Hauswand zu gehen, um irgendwie Schutz vor Heckenschützen zu haben. Es war dunkel und das ließ die ganze Szenerie noch unheimlich wirken. Es war mal wieder Stromausfall und so waren selbst die Laternen nicht an. Auf die Taschenlampen unserer Smartphones verzichteten wir, um nicht aufzufallen. Bei jeder Bewegung wurden wir hellhörig.
Wir mussten eine letzte Kreuzung überqueren, ehe wir bei mir zu Hause waren. Es war eine vielbefahrene Straße. Die Scheinwerfer der Autos spendeten uns Licht. Mittlerweile hielten wir uns alle an den Händen.
Schmerz war leichter zu ertragen, wenn man ihn teilen konnte.
Es waren viele Menschen an der Kreuzung und wir fühlten uns dadurch etwas sicherer. So gab es andere potenzielle Ziele als uns.
Und dann knallte es wieder.
Dieses Mal lauter.
Viel lauter.
Ich hatte das Gefühl, dass mein Trommelfell zersprang.
Das war kein Schuss aus einer Pistole gewesen. Das hier war deutlich größer.
Eine Druckwelle erwischte uns. Auf einmal hatte ich niemand mehr an der Hand. Dafür verlor ich kurz die Bodenhaftung und landeten dann schmerzhaft auf dem Boden. Ich sah einen Feuerball, der jedoch nicht bis zu mir reichte. Die Hitze konnte ich trotzdem spüren.
Menschen schrien.
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