Beitrag
Sie wähnte sich in Sicherheit. Wie konnte jemand nur so naiv sein? Und wie leicht sie es ihm machte, als wären die Mauern ihres Zimmers ein Hindernis für ihn. Schritt um Schritt erklomm er die alte Holztreppe, bedacht darauf keinen Laut von sich zu geben. Seine rechte Hand hatte das knorrige Holz des Geländers umspannt. Weiß stachen die Knöchel aus seiner Haut. In der ersten Nachthälfte sterben die meisten Menschen, das hatte er mal irgendwo gelesen. Den ganzen Tag über hatte man die Hitze im Haus riechen können. Sie war unter der Türschwelle hindurchgekrochen und hatte sich in allen Ecken eingenistet. Auch zu später Stunde machte sie den Pflanzen und ihren Bewohnern zu schaffen. Mittlerweile focht sie einen unerbittlichen Kampf gegen die kühle Brise der Nacht. Und sie würde gewinnen, denn morgen sollte es wieder unerträglich heiß werden. Der heißeste Tag des Sommers. Mitten im Juli. Ihm konnte das nur recht sein. Die Menschen verkrochen sich in ihrem Zuhause und würden ihn in Frieden lassen. Die meisten von ihnen waren dumm und armselig.
Oben im Flur angekommen, schien das fahle Mondlicht gespenstisch auf die Tür. Er zögerte kurz. In der Helligkeit konnte er zahlreiche Kratzspuren und Einkerbungen im Türholz ausmachen. Dahinter war alles still, nur ein leichter Luftzug störte die Ruhe. Sie hatte wahrscheinlich die Balkontür aufgelassen. Fast lautlos betrat er das Schlafzimmer. Sein Atem ging erstaunlich ruhig. Er würde das rasch hinter sich bringen. Nachts waren seine Sinne am stärksten. Einer Katze gleich streifte er zum Nachttisch. Dort stand ein goldfarbener Blumenkübel mit violett blühendem Flieder. Vorsichtig brach er eine Blüte ab und sog den betörenden, lieblichen Geruch der Pflanze ein. Er zerrieb das feuchte Blatt zwischen seinen Fingerkuppen, während er weiter unverwandt auf das Bett starrte. Ihr Körper hob und senkte sich gleichmäßig im Einklang ihrer Atemzüge. Das lange schwarze Haar fiel ihr in leichten Wellen über die Schulter. Der porzellanfarbende Teint ihrer Haut war makellos. Als er sich weiter hinunter beugte, konnte er ein zaghaftes Lächeln erkennen, das ihre Lippen umspielte. Unwillkürlich musste er grinsen. Wie hübsch sie doch war. Nur würde sich niemand mehr ausgiebig an ihrer Schönheit erfreuen können. Er hatte es viel zu lange vor sich hingeschoben. Ihm durfte kein Fehler unterlaufen und die Zeit lief davon. Er wusste, wohin diese Unruhe ihn brachte. Seine Hände fingen an zu zittern. Rasch ergriffen sie ein Daunenkissen, welches durch seine Fülle lebendig wirkte. Mit aller Kraft zerdrückte er die Federn. Eine Übung, für das, was als nächstes geschehen sollte. Für das, was man von ihm erwartete. Das, was er selbst von sich erwartete.
Während er ausatmete, packte er das Kissen und presste es mit aller Wucht auf ihr friedlich schlafendes Gesicht. Kurz schreckte sie hoch, aber mit jeder Sekunde verlor sie an Lebenskraft, bis ihr Kopf in einer kurzen Bewegung zur Seite sackte. Ihre hohlen Augen, die sich unter zwei feinen Lidern versteckten, starrten ihn an, verklagten ihn für das soeben Geschehene. Eine Welle von Erleichterung durchströmte seine Adern. Versetzte seinen Puls in den normalen Rhythmus zurück. Er fühlte sich gut. Nie zuvor war er so energiegeladen gewesen. Doch auch diesmal meldete sich sein Perfektionismus wieder zu Wort. Er biss sich wütend auf die Lippen, sodass es blutete. Der Geschmack von Eisen widerte ihn an. Irgendetwas störte ihn. Die Art und Weise, wie sie vor ihm lag, sah zu unbeschwert aus, fast so, als hätte sie nicht leiden müssen. Und das musste sie. Zur Not auch im Tod. Ihm kam eine Idee und er ärgerte sich, nicht schon früher darauf gekommen zu sein. Er hatte es sich zu leicht gemacht. Mal wieder. Mit einem Knarren drang die Balkontür zurück in sein Bewusstsein. Er wusste, was er zu tun hatte.
Immer noch durchflutete Kraft jede seiner Sehnen. Es war ein Leichtes, ihren leblosen Körper in seine Arme zu schließen, in die er sie wie ein kleines Kind hielt. Das fahle Mondlicht begrüßte ihn. Der Ruf eines Uhus erklang aus den Weiden, die den Friedhof unter ihm umrahmten. Er musste sich beeilen. Tick. Tack. Tick. Tack. Die Zeit rannte ihm davon. Niemand durfte ihm das kaputt machen. Inzwischen hatte er das Geländer erreicht. Der Rost blätterte an den meisten Stellen ab und hinterließ ein hässliches Grau. Nur noch eine Bewegung. Erneut überkam ihn ein Glücksgefühl. Dann fiel sie. Ein dumpfer Aufschlag versicherte ihm, dass sie unten angekommen war.
»Auf Wiedersehen, Victoria«, sprach er. Ein schöner Name.
»Victoria. Victoria. Victoria.« Er ließ sich jeden einzelnen Buchstaben auf der Zunge zergehen.
Sie kamen, umschwirrten ihn, tanzten in der Luft. Er mochte diese Falter nicht. Die schuppenartigen Haare an Flügeln und Beinen ekelten ihn an. Er streckte die Hand nach den Tieren aus. Mit Erfolg. Eines der Exemplare kämpfte zwischen seinen Handflächen um ihr kleines erbärmliches Leben. Ein arabisches Sprichwort kam ihm in den Sinn.
»Fange einen Nachtfalter und du wirst jeden deiner Feinde erledigen.«
Mit einem breiten Lächeln im Gesicht drückte er seine Hand zu.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top