Kapitel 39

Clara Archer

Ich bekomme kaum Luft, so sehr ist meine Nase verstopft. Theo hockt vor mir und dem Sessel, hält mir die Packung Taschentücher hin, die ich seit einigen Minuten langsam leere.

>Er hat nicht aufgehört.< Meine Stimme klingt schrecklich. >Das war das erste Mal, dass ich wirklich dankbar war, Kickboxen zu machen.< Er sieht mich mitfühlend an, aber ich will sein Mitgefühl nicht. Das hilft mir überhaupt nicht und macht auch nichts besser oder erträglicher. >Es endet immer so. Sobald jemand weiß, wie ich aussehe, wird es komisch. Ich habe keine Ahnung, wie sie es herausgefunden haben, aber das alles war geplant. Das ganze Wochenende war auf dieses eine Ereignis ausgelegt. Und hätte er diesen einen Satz nicht gesagt, hätte er vielleicht bekommen, was er wollte.< Langsam werden die Tränen weniger, darum stellt er die Packung weg, bleibt aber bei mir.

>Ich verstehe dich jetzt viel besser<, sagt er langsam, als könnte ich ihn sonst nicht verstehen. >Dieses Erlebnis hat dich sehr verändert, nicht nur im Bezug auf deine Angst. Du hast dich in dich selbst zurückgezogen, du versteckst dich vor allem und jedem<, erklärt er, dabei weiß ich das alles. Ich lebe mein Leben selbst. Ich weiß, wie das alles abläuft. >Aber nicht jeder ist so.< Ich schüttle den Kopf, sehe weg.

>Das weiß ich, Theo. Aber wie kann ich es wissen? Wie kann ich wissen, ob der Mensch vor mir ehrlich ist, oder ob er mich belügt? Wie kann man das wissen?<, frage ich ihn, raufe mir die Haare. >Drei Monate. Viola hat mich volle drei Monate angelogen und war meine beste Freundin. Ich habe ihr alles anvertraut und die anderen haben alle mit gemacht. Sie alle haben davon gewusst oder den beiden geholfen.< Verzweifelt sehe ich Theo an, suche nach einer Antwort in seinem Gesicht. >Wie soll man denn Menschen vertrauen können, wenn man weiß, dass sie so lange lügen können? Ich bin jetzt wieder fast drei Monate auf der neuen Schule und alles wiederholt sich. Diesmal ist Max der Freund, der mir hilft und Randon der Typ, in den ich mich verliebt habe. Ich bin noch unscheinbar, aber es geht kaputt. Die Leute sehen mich, reden über mich. Es ist anders, aber gleichzeitig doch genau wie damals.< Sein Blick wird sanft, er hält mir seine Hand hin. Zögernd sehe ich ihn an, doch er schweigt. Wieder wische ich mir die Tränen mit einem Taschentuch weg, dann nehme ich seine Hand langsam.

>Vertrauen kostet Kraft und kann enttäuscht werden. Du hast da eine unglaublich schlechte Erfahrung gemacht, aber du kannst nicht einfach aufhören zu Leben. Nimm dir Zeit, vertraue den Menschen in deinem Leben nur so weit, wie du möchtest. So, dass du dich damit wohl fühlst<, erklärt er sanft, streicht mit dem Daumen über meinen Handrücken. >Deine Familie ist immer für dich da und wird dich niemals hintergehen und auch ich bin immer da. Im Leben wird man oft verletzt, auch ich habe solche Erfahrungen machen müssen. Aber genau die machen uns stärker.< Kopfschüttelnd will ich meine Hand aus seinem ziehe, doch er hält sie fest. Nicht so sehr, dass ich mich unwohl fühle, aber er gibt nicht einfach auf.

>Ich will nicht stark sein müssen.< Er lächelt, drückt meine Hand, dann lässt er sie los.

>Leider, liebe Clara, ist das unser Leben. Wir müssen alle stark sein.< Da kann ich ihm nur Recht geben.

Tief atme ich durch, nehme mir ein neues Taschentuch und putze mir die Nase. >Du hast jetzt einen neuen Namen, bist hunderte Kilometer von diesem Ort entfernt, mehr kann dir das Leben nicht geben. So viel haben die wenigsten, um neu anzufangen. Gib dich und deine Zukunft nicht auf, Valentina.< Stumm sehe ich ihn an, denke nach. Er hat mit all dem, was er sagt, vollkommen Recht. Nur weiß ich nicht, was mit mir passiert, wenn ich noch einmal verletzt werde. >Hab keine Angst<, bittet er mich, setzt sich auf seinen Sessel. >Das Leben ist zu kurz, um vor Dingen Angst zu haben, die sich nicht vermeiden lassen.< Langsam nicke ich, setzte mich ein wenig anders hin. Theo ist ein guter Psychologe, er beherrscht seinen Job. Letztes Mal hat er einen Fehler gemacht, aber ich vertraue tatsächlich darauf, dass dieser Rat ein guter ist.

>Mir geht es jetzt besser<, gebe ich zu, um auch zur Abwechslung Mal etwas Nettes zu sagen, lasse mich von seinem Lächeln anstecken.

>Na geht doch<, lobt er mich und ich rolle die Augen. Ich fühle mich jetzt wirklich leichter, erholter. Natürlich kann ich die Vergangenheit nicht ändern, aber ich kann daraus lernen und die Zukunft gestalten. Auch dann, wenn ich nicht vor allem Angst habe.

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Tristan hat die ganze Fahrt über eine Hand auf mein Bein gelegt, um mir das Gefühl zu geben, dass ich nicht allein bin, schätze ich. Ich bin ihm dankbar dafür und auch für alles andere. Er ist die ganze Zeit im Wartezimmer geblieben und hat auf mich gewartet.

>Danke.< Er sieht kurz zu mir, lächelt mich sanft an.

>Immer. Ich liebe dich, kleine Schwester.< Glücklich sehe ich zu meinem Bruder, lasse meinen Kopf gegen die Kopflehne fallen.

>Ich liebe dich, großer Bruder.< Er lacht leise, biegt ab und steuert der Parkplatz von einem Griechen an.

>Das hast du zum letzten Mal gesagt, als du fünf warst.< Schmunzelnd sehe ich wieder nach vorn und er nimmt seine Hand von meinem Bein, um besser einparken zu können.

>Du bist seitdem ja auch unheimlich nervig geworden.< Er schnaubt, stellt den Motor ab und wir steigen aus.

>Das Kompliment kann ich nur zurückgeben.< Mit einem Augenrollen begleite ich ihn über den Parkplatz zum Haupteingang, wo er mir die Tür aufhält, dann gehen wir nach drinnen.

>Ich lade dich ein<, beschließe ich spontan und er starrt mich an. Mit seiner Art lockert er mich wieder auf, macht das alles leichter und es ist das Mindeste, dass ich ihm etwas zu Essen in seinem liebsten Restaurant ausgebe. Ich schulde ihm viel mehr.

>Das solltest du vielleicht nächstes Mal erst sagen, wenn die Rechnung da ist<, zieht er mich auf, steuert den Tisch an, an welchem wir immer sitzen, wenn wir zusammen herkommen.

>Ah, hallo ihr zwei<, werden wir auch gleich von dem Kellner begrüßt, der uns immer bedient, mit seinem griechischen Akzent. Wir nicken ihm freundlich zu, dann hält er uns eine Speisekarte hin. >Braucht ihr die oder nehmt ihr dasselbe wie immer?<, will er wissen, woraufhin Tristan und ich nur einen kurzen Blick wechseln.

>Dasselbe wie immer<, antwortet Tristan für uns und der Kellner geht mit einem heiteren Lächeln. >Wir sind eindeutig zu oft hier.< Kopfschüttelnd lehne ich mich zurück, sehe mich um, entdecke aber zum Glück keine bekannten Gesichter. Somit folgt auf diesen anstrengenden Tag zumindest ein entspannter Abend.

>Du isst ja sonst nichts, außer Ente mit Erdnusssoße.< Er hebt die Schultern, stützt die Arme auf den Tisch ab.

>Was ist mit dem Essen, das du kochst? Das esse ich doch auch.< Natürlich weiß ich, dass er sich nur wieder einschleimen will.

>Der Hunger treibt es rein.< Er lacht auf, dann kommt der Kellner schon zurück und bringt uns die Getränke.

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Müde lasse ich mich in mein Bett fallen, schließe die Augen. Der Tag war wirklich viel zu lang und morgen ist schon wieder Schule. Und natürlich darf ich mich dann dort mit Randon auseinandersetzten. Nur will ich nicht mehr weglaufen. Selbstverständlich werde ich ihm nicht sagen, dass ich mich in ihn verliebt habe, aber ich werde durchaus dafür sorgen, dass diese Anna auffliegt. Notfalls sage ich es Randon auch direkt ins Gesicht.

Okay nein, das schaffe ich nicht.

Das leise Rattern vom Hamsterrad lässt mich lächeln.

>Guten Morgen Finn<, wünsche ich ihm, schließlich ist es zwar mein Abend, aber sein Morgen. Er läuft fröhlich weiter und ich stehe auf, um ins Bad zu gehen, schließlich muss ich mich noch frisch machen und umziehen.

Wir sind eben erst vom Griechen gekommen und habe schon auf der Fahrt gemerkt, dass ich eindeutig zu viel gegessen habe. Was mich jetzt natürlich träge macht.

>Hallo Zombie<, grüßt mich mein Bruder, als er aus dem Bad kommt. Er ist offenbar schon fertig und sieht genau so müde aus, wie ich mich fühle.

>Hallo Nervensäge.< Er grinst, dann geht er zu seinem Zimmer.

>Schlaf gut.< Ich nicke knapp, öffne die Badezimmertür wieder.

Ich habe Lust auf was Süßes.

>Du auch.< Vielleicht geht das sogar. In meinem Zimmer liegt mein Schulrucksack und da ist noch die Tüte mit den übrigen Cookies drinnen, die ich durchaus noch essen könnte.

Ganz egal, wie voll mein Bauch ist, diese himmlischen Cookies gehen auf jeden Fall noch.

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30.12.2019

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