Kapitel 13
Clara Archer
Mir ist fast schlecht vor Sorge. Nein, mir ist sogar wirklich schlecht. Den ganzen Tag über habe ich versucht herauszufinden, was los ist. Die unauffällige, unbedeutende Schülerin, die ich nun einmal bin, hat aber nichts erfahren. Es gibt keinen Klatsch oder Tratsch, die Lehrer haben nur gesagt, dass Randon von seiner Mutter für den Tag entschuldigt wurde und sonst ist alles normal. Lesley ist da und tut so, als wäre nichts.
Wahrscheinlich ist er nur krank.
Den Gedanken hatte ich heute schon einige Male, aber irgendwie fühlt es sich falsch an. Heute Morgen war er auch in der Schule und hat das Essen von mir geholt, demnach war nicht geplant, dass er heute zu Hause bleibt. Ich glaube einfach nicht, dass er wegen einer Krankheit zu Hause ist. Schon gar nicht nach dem gestrigen Abend. Er hat mir immerhin erzählt, dass ihn die Sache mit Lesley beschäftigt und er klang auch sehr besorgt. Irgendwie scheint mir Lesley allerdings ungewöhnlich ausgelassen zu sein.
Grübelnd beiße ich in mein Brot, sehe rüber zu ihrem Tisch in der Kantine. Sie sitzt da wie immer in der großen Pause, umgeben von ihren Freundinnen und Randons drei besten Freunden. Ich glaube, Louis kennt er nicht so gut, aber er ist immer bei der Clique dabei.
Ihr Minirock ist so kurz wie eh und je, das Top so eng, dass es einfach nur schrecklich aussieht. Als sie mit Randon zusammen gekommen ist, hat sich das geändert. Sie hatte zwar noch kurze Sachen an, aber sie haben doch mehr verdeckt als diese Fummel. Seit Montag sind sie wieder jeden Tag kürzer geworden.
Warum achte ich auf so etwas?
Sie war schon immer dünn, aber so langsam ist sie nur noch ein Bett mit Brüsten. Das ist mir schon vor einer Weile aufgefallen aber langsam frage ich mich auch, ob sie das nicht selbst merkt. Oder was Randon wohl dazu sagt.
Kopfschüttelnd widme ich mich wieder meinem Brot, sehe auf mein Handy, das vor mir auf dem Tisch liegt. Wie von mir zu erwarten habe ich ihm geschrieben. Ein paar Mal sogar, aber er antwortet nicht. Wenn ich das richtig sehe, hat er sich von der Außenwelt abgeschirmt. Noch ein Beweis dafür, dass er nicht krank ist, dann hätte er nämlich sicher Lust und Zeit mit Leuten zu schreiben.
Außer natürlich, er ist von seinem Fieber bewusstlos geworden.
Nüchtern lege ich den Rest von meinem Brot zurück in die Dose, schließe sie. An solche Sachen sollte ich gar nicht denken. Am Ende laufe ich noch zu ihm, um nach ihm zu sehen. Vorausgesetzt natürlich, ich bekomme von irgendwem seine Adresse. Und meine schüchterne Seite müsste ich dann auch begraben.
Tun wir einfach mal so, als wäre das möglich.
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Der Nachmittagsunterricht ist absolut öde. Wenn man das Unterricht nennen kann. Unsere Lehrerin ist krank, deshalb haben wir ein Arbeitsblatt bekommen, das nichts, aber auch überhaupt gar nichts mit dem eigentlichen Stoff zu tun hat. Wenn wir damit fertig sind, dürfen wir nach Hause. Damit wir nicht gehen, ohne es zu machen, müssen wir die Aufgaben bei dem Lehrer in der Nachbarklasse abgeben, wenn wir fertig sind.
Woher soll ich denn wissen, was „Additive Polygenie" bedeutet?
Aus einem reinen Gefühl würde ich das zu Biologie zuordnen und wenn das Stimmt, handelt der Text von Genen.
Seit wann nehmen wir Genetik durch?
Frustriert schlage ich mein Biologiebuch auf und versuche mein Glück. Natürlich ist mir klar, dass ich die Einzige sein werde, die überhaupt irgendetwas auf dem Blatt stehen hat, aber das ist mir egal. Ich will eben nicht wie die Anderen Musik hören, herum albern oder mir sonst irgendwie die Zeit vertreiben. Vielleicht lerne ich ja sogar was.
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Gegen Ende der Stunde wird mir klar, wie lächerlich diese Hoffnung war. Im hinteren Teil von meinem Buch werden einige Fachwörter erklärt, darunter auch das Gesuchte. „Additive Polygenie" bedeutet, dass sich die Wirkungen mehrerer Gene auf ein und dasselbe Merkmal summieren. Leider habe ich Biologie nie studiert und kann damit nichts anfangen. Somit ist die erste Aufgabe ausgefallen und bei den anderen neun geht es genau so weiter. Ein blödes Fremdwort und dazu eine verwirrende Aufgabenstellung.
Bei der Nummer zehn ist gefragt, was „Uniformität" bedeutet, aber mein schlaues Biologiebuch gibt mir keine Informationen darüber. Ohne mein Handy kann ich die Aufgabe nicht lösen und das will ich nicht. Allerdings bedeutet das, mir bleibt nichts weiter übrig, als die Zeit hier abzusitzen.
So viel zu unserem tollen Schulsystem.
Kurzentschlossen hole ich mein Headset aus meinem Rucksack, verbinde es mit meinem Handy. Sobald die App für meine Musik geöffnet ist, will ich nach einem Stück von Antonio Vivaldi suchen, doch da erscheint ein Fenster am oberen Rand.
Er hat geantwortet!
Mein Finger tippt auf die Nachricht, woraufhin sich der Chat sofort öffnet.
„Randon: Entschuldige, dass ich nicht geantwortet habe. Das Müsli war perfekt, danke dafür", hat er geschrieben, was zwar nicht viel ist, aber immerhin etwas.
Was soll ich jetzt antworten?
„Randon: Lesley und ich sind nicht mehr zusammen." Überrascht, verwirrt und auch ein bisschen überfordert starre ich seine zweite Nachricht an.
Wenn es ihm deshalb so schlecht geht, hat sicher sie Schluss gemacht. Aber warum ist Lesley dann so gut drauf heute? Und was in Gottes Namen soll ich darauf antworten?
Grübelnd kaue ich auf meiner Lippe, versuche Antworten auf diese Fragen zu finden.
Werde ich aber nicht. Dafür kenne ich die beiden zu wenig und weiß rein gar nichts über ihre Beziehung. Ausgenommen der Spannungen in den letzten Tagen.
„Clara: Kann ich irgendetwas für dich tun?" Wenigstens habe ich ihm eine normale Antwort geben können. Ihn mit Fragen zu bombardieren wäre sicher überhaupt nicht gut. Es geht mich auch gar nichts an, was genau vorgefallen ist.
„Randon: Schon gut, ich werde mit einem von dem Jungs reden, wenn die Schule aus ist." Automatisch huscht mein Blick von meinem Handy nach oben und durch den Raum, bis er an Lesley hängen bleibt.
Wie schon in der Pause klebt sie praktisch an Phil und im Moment sitzt sie sogar auf seinem Schoß. Maximilian ist wie immer in sein Handy vertieft und Louis flirtet mit Elli. Zumindest glaube ich, dass sie so heißt. Wenn ich das richtig deute verbringen die beiden den Rest des Tages zusammen, damit er sich wie üblich morgen die Nächste anlachen kann.
„Clara: Das ist wieder etwas, wo ich mich nicht einmischen sollte, trotzdem würde ich dir Maximilian empfehlen." Besser kann ich das nicht schreiben. Zumindest nicht, ohne mich zu verraten und ihm auch noch auf das Auge zudrücken, dass Lesley ihr Singleleben schon in vollen Zügen genießt. Ich verstehe auch überhaupt nicht, was das darstellen soll.
Randons Exfreundin mit einem seiner besten Freunde?
In meinen Augen sehen sie ziemlich vertraut aus und das nicht auf freundschaftliche Weise, aber ich sehe oft mehr in Dingen, als da wirklich ist.
So ist das eben, wenn man zu einhundert Prozent unerfahren mit allem ist, was mit Jungs zu tun hat.
„Clara: Wenn wir von denselben drei Freunden sprechen, die immer bei dir sind." Tatsächlich kann ich sehen, dass er den Chat offen und meine Nachrichten sofort gelesen hat, trotzdem schreibt er nicht gleich.
Das kann viele Gründe haben. Er muss nicht sauer sein oder wirklich denken, dass ich mich zu sehr einmische.
Eine Nachricht von meinem Bruder lässt mich den Chat wechseln und dann die Augen rollen.
„Tristan: Stehe auf dem Parkplatz. Meine Princess wird heute entführt." Ich will gar nicht wissen, was er wieder geplant hat. Irgendetwas verrücktes, wie ich ihn kenne.
„Clara: Okay", schreibe ich nur knapp und wechsle den Chat wieder, denn Randon schreibt.
„Randon: Ich soll nicht fragen, oder?" Ja, mein Randon ist ein kluger Junge. Auch, wenn ich mir wünsche, dass er das nicht merkt und nicht nachfragt, weil er dann auch nicht darüber nachdenkt.
„Clara: Besser nicht. Was darf es morgen sein?" Vielleicht kann ich ihn mit der Frage ablenken. Die Uhr in der oberen Ecke von meinem Handy verrät mir, dass der Unterricht gleich zu Ende ist, darum setzte ich mein Headset ab und packe es wieder ein. Dazu kommen auch mein Biologiebuch und mein Block, dann das Mäppchen. Das Arbeitsblatt ist so gut wie leer. Bei den Fremdwörtern habe ich dazu geschrieben, was sie bedeuten, aber mehr steht nicht darauf.
Selbst schuld, wenn man uns so eine Aufgabe hin legt.
Irgendein Lehrer sammelt die Blätter an der Tür ein, wo wir alle nach draußen strömen, hinaus in die Freiheit.
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Bis zum Haupteingang schaffen es nur wenige, die Meisten sind vorher abgebogen. Auf diese Weise gibt es kein Gedrängel und ich komme ohne angerempelt zu werden nach draußen.
Die Sonne scheint, der Himmel ist fast klar, windig ist es nicht. Mehr gibt es nicht zu sagen. Außer vielleicht, dass mir warm ist. Sehr warm sogar. Im Schulgebäude laufen die Klimaanlagen, die vermisse ich hier draußen.
>Na, wie ist es heute in meinem Hoodie?<, nervt mich Tristan, der an seine Motorhaube gelehnt da steht, die Arme vor der Brust verschränkt.
>Kuschlig warm. Danke der Nachfrage<, gebe ich zuckersüß zurück. Er grinst breit. Es ist mehr als offensichtlich, dass er genau weiß, dass ich vor mich hin brüte. Schließlich steht ihm auch der Schweiß auf der Stirn und er trägt nur ein T-Shirt. Trotzdem lässt er mich hier stehen, anstatt endlich einzusteigen.
>Du weißt noch, dass meine Klimaanlage kaputt ist?< In seinem Gesicht kann ich unmöglich lesen, ob er mich ärgern will und dabei blufft oder nicht.
>Du warst doch letzte Woche in der Werkstatt.< Sein Lächeln wird breiter.
Nicht gut.
>Das stimmt. Aber nicht wegen der Klimaanlage.<
Vergiss es, nicht mit mir.
Schulterzuckend wende ich mich ab. In dem dunklen Auto werde ich gegart, das kann er sich abschminken.
>Ich laufe nach Hause, mach dir keine Umstände.< Er lacht auf, was mich nervt, weil das bedeutet, dass er gewonnen hat, doch dann höre ich die schrille Stimme von Anastasia, auch bekannt als „Miss Perfect".
>Bist du neu hier, Hotti?< Mein Fehler ist, dass ich mich umsehe und genau erkennen kann, wen sie meint. Mein Magen zieht sich so heftig zusammen, dass ich mich fast direkt übergebe.
Wen nennt sie hier „Hotti"? Meinen Bruder? Hat die sie noch alle?
Langsam versuche ich mich wieder in den Griff zu bekommen, gebe mir Mühe, die Lage einzuschätzen. Tatsächlich stolziert das Mädchen mit den zu langen, schwarzen Haaren in ihrem zu kurzen Kleid direkt auf Tristan zu. Hin und her gerissen versuche ich zu entscheiden, ob ich stumm oder schreiend davonlaufen soll.
>Nein, die Schule habe ich hinter mir. Ich bin nur hier um meine Princess abzuholen.< Alle Farbe weicht aus meinem Gesicht.
Das hat er jetzt nicht wirklich gesagt. Das hat er nicht gemacht.
Fassungslos starre ich meinen Bruder an, der mich nur anlächelt. Ich bin erst ein paar Meter weit gekommen, deshalb kann ich das bösartige Funkeln in seinen Augen genau sehen. Anastasias Kopf dreht sich, bis sie mich findet. Ich bin die Einzige, die er meinen kann. Neben mir steht niemand.
>Spinnst du?<, fahre ich meinen „Hotti"-Bruder an, der nur leise lacht. Ich könnte ihn zu Hackfleisch verarbeiten für diese Bloßstellung. Den Namen werde ich nie wieder los.
>Jetzt kocht sie über<, höre ich ihn sagen und eine Sekunde später packe ich ihn am Kragen, ziehe ihn zu mir herunter. Sein Lächeln ist verblasst, doch es versucht es irgendwie am Leben zu halten.
>Wir fahren jetzt irgendwo hin, wo ich dich verprügeln kann. Sofort!< Am Anfang war ich leise, nur das letzte Wort ist doch etwas laut geworden.
>Ja Chef<, meint er, tut ernst, doch ich weiß genau, dass er sich innerlich kaputt lacht.
>Was willst du mit der?<, höre ich Anastasia fragen und bevor ich sie anspringen kann, hat mich mein Bruder auf den Beifahrersitz verfrachtet. Sein Augenzwinkern in ihre Richtung ist mir jedoch keineswegs entgangen.
Das wird er mir büßen.
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30.11.2018
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