Kapitel 1
Clara Archer
Es ist einfach nicht zu fassen, wie grausam es ist, morgens geweckt zu werden. Jeden Tag dasselbe Spiel und immer hat mein liebster Bruder einen riesen Spaß dabei. Ich könnte ihn dafür umbringen, aber dann hätte ich niemanden mehr, den ich aus Rache den ganzen Tag lang nerven kann.
>Aufstehen, Princess. Die Schule wartet nicht auf dich<, höre ich seine ätzende Stimme, dann kommt er auch noch in mein Zimmer und reißt die Fenster auf. Er ist auch eben erst aufgestanden, das sehe ich an seinen vom Schlaf platt gedrückten, kurzen Haaren und dem zombiehaften Ausdruck in seinem Gesicht.
Ich sehe garantiert nicht besser aus.
>Tristan, lass mich in Ruhe und mach die Fenster wieder zu. Es ist eiskalt<, stöhne ich genervt und will mein Kissen nach ihm werfen, aber mir fehlt einfach die Kraft. So ein Morgen ist definitiv nicht meine Zeit. Ich bin eher nachtaktiv, so wie mein süßer, karamellfarbener Hamster Finn.
Noch dazu ist es ein Montagmorgen. Wie ich die hasse.
>Wir haben schon siebzehn Grad<, wiederspricht er, sieht mich eindringlich mit seinen grünen Augen an. Wir besitzen dieselben, hellen, blonden Haare und grünen Augen, obwohl unsere Eltern beide braune Haare und Augen haben. Manchmal scherzen wir darüber und überlegen, wie es wäre, wenn sich rausstellen würde, dass wir adoptiert sind. Aber abgesehen von diesen beiden Merkmalen sind wir unseren Eltern aus dem Gesicht geschnitten. Somit steht das außer Frage, außerdem lieben wir unsere Eltern.
Zur Antwort rolle ich die Augen und er seufzt, dann geht er endlich wieder. >Wenn du dich nicht beeilst, läufst du zur Schule<, mahnt er noch von draußen, dann geht er ins Bad. Da ich tatsächlich noch weniger zur Schule laufen will, als aufzustehen, wälze ich mich langsam aus dem Bett, werfe mir aber die Bettdecke über die Schultern und wickle mich darin ein.
Warum muss er immer ausnutzen, dass er ein eigenes Auto hat und ich nicht? Blöder, großer Bruder.
In kleinen Schritten tapse ich zu meinen beiden Fenstern und schließe sie, dann hole ich mir frische Klamotten aus dem Kleiderschrank.
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Da ich morgens immer halb tot bin, gehe ich grundsätzlich abends duschen, um länger liegen bleiben zu können. Auf diese Weise muss ich nur kurz ins Bad und mich frisch machen, bevor ich in die Küche gehe. Abgesehen von Wimperntusche lege ich keinen Wert auf Schminke, da ich eine Brille trage und das ganze Zeug an mir sowieso nur verschwendet wäre. Mich beachtet sowieso niemand.
Aus einem Schrank hole ich drei Dosen, dann besorge ich mir Brot, Salat, etwas Käse, Tomaten und Gurken. Während Tristan sich fertig macht, kümmere ich mich um die Pausenbrote, welche ich jeden Morgen zu Recht mache. Sogar Tristan bekommt welche von mir, obwohl er mich morgens weckt, denn zum einen würde ich sonst regelmäßig verschlafen und zum andern nimmt er mich ja auch jeden Tag in seinem Auto mit zur Schule.
Unsere Eltern sind diese Woche im Urlaub, deshalb gibt es kein gekochtes Ei dazu. Ich habe einfach kein Talent für Eier, egal ob sie nur gekocht, als Spiegel- oder Rührei enden sollen. Dafür kann ich so ziemlich alles andere kochen und backen, deshalb stört es mich nicht wirklich.
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Tristan kommt in die Küche, als ich grade das letzte Brot in seiner Dose verstaue und die Deckel schließe.
>Hast du schon wieder einen von meinen Pullovern an?<, fragt er genervt, zieht an einer meiner schulterlangen strähnen. Reflexartig schlage ich nach seiner Hand, aber leider bringt er sie rechtzeitig in Sicherheit, doch meine Brille ist dabei verrutscht, darum richte ich sie schnell wieder. >Wie kannst du überhaupt bei dem Wetter in so einem dicken Ding rumlaufen?< Wortlos reiche ich ihm sein Pausenbrot, nehme die anderen beiden Dosen und gehe in den Flur, wo meine Schultasche schon auf mich wartet.
Wir haben etliche Male über meinen Hang zu übergroßen Oberteilen geredet und wir beide wissen, dass es nie zu etwas führt. Ich fühle mich einfach wohler, wenn ich mich in einem T-Shirt oder einem Pullover einkuscheln kann. Hautenge Sachen mag ich nicht, höchstens Skinny Jeans. Die trage ich auch, nur sehen seine Oberteile dazu wie Kleider an mir aus, weil er ein ganzes Stück größer ist als ich. Und breiter. Er dagegen meint, ich würde mich in seinen Klamotten verstecken und das stört ihn. Er denkt immer, ich hätte irgendwelche Komplexe und würde deshalb in der Schule immer Übergrößen als Oberteil wählen, aber das ist mir egal. Wenn ich einen Komplex habe, dann hat er mit frühem aufstehen zu tun und sonst nichts.
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In seinem dunkelblauen Golf läuft wie immer sein komisches Elektro-Zeug, das ich mir zwar niemals selbst an machen würde, aber die zehn Minuten morgens ertrage ich es. Im Gegenzug sorge ich dafür, dass er meine Hip Hop oder Rock Songs alle hört, wenn ich Mal zu Hause die Musik aufdrehen will.
>Warum lächelst du schon wieder so hinterhältig?< Unschuldig sehe ich zu Tristan, der mit gerunzelter Stirn ab und zu einen Seitenblick auf mich wirft.
>Nichts weiter<, weiche ich aus, denn ich schmiede durchaus Pläne für meine Playlist heute Abend. Unsere Eltern sind nicht da und unser Haus steht frei, demnach gibt es bis zu einem gewissen Pegel keine Nachbarn, die sich beschweren. Außerdem weiß ich genau, welche Lieder er am wenigsten leiden kann.
Ungläubig sieht er noch einmal zu mir, dann hält er am Straßenrand, ein paar Meter vom Schultor entfernt.
>Ich bringe heute Abend was vom Asiaten mit. Schreib mir dann, was du haben willst.< Mit einem knappen nicken öffne ich die Tür, schnappe mir meinen Rucksack und steige aus.
>Mache ich. Bis dann.< Bevor er noch etwas sagen kann, werfe ich die Tür zu und laufe zum Tor. Unterwegs setzte ich mir meinen Rucksack richtig auf, richte den Pullover. Lächelnd ziehe ich die Hände zurück in die Ärmel, kuschle mich in den weichen Stoff.
Wir haben noch dreißig Minuten, bis der Unterricht los geht, demnach ist es hier wie ausgestorben. Mein Bruder muss um sieben bei der Arbeit sein und fährt zwanzig Minuten von meiner Schule aus, deshalb bin ich immer so früh schon hier.
Lieber dreißig Minuten zu früh, als so weit zu laufen. Außerdem will ich nicht beobachtet werden.
Wie üblich gehe ich direkt nach drinnen, durch den Eingangsbereich und dann in den linken Flur. Hier sind die Schließfächer für die Abschlussklassen, also auch meiner und der von Randon. Ein schüchternes Lächeln schleicht sich auf meine Züge, als ich an ihn denke.
Ruhig bleiben, sonst wirst du unvorsichtig.
Tief atme ich durch, laufe den Gang entlang, bis ich vor seinem Schließfach stehe. Unauffällig sehe ich mich um, dann wende ich mich an das Schloss. Sein Geburtsdatum zu verwenden war nicht sonderlich geistreich von ihm, aber das ist gut für mich. Denn nur deshalb kenne ich die Zahlenkombination und kann das Schloss öffnen.
Sobald die Tür offen ist, ziehe ich eine der Dosen aus meinem Rucksack und stelle sie an den üblichen Platz, tausche sie gegen die leere, ganz vorne in der Mitte. Leise verstaue ich die leere Dose in meinem Rucksack, schließe die Tür wieder, drehe einmal an dem Zahlenschloss, dann folge ich dem Gang weiter.
Seit meiner zweiten Woche hier mache ich jeden Morgen Frühstück für Randon, stelle es in sein Schließfach und freue mich jedes Mal, wenn ich dafür eine Leere wieder einpacken kann. Somit mache ich das seit etwa zwei Monaten.
Angefangen habe ich damit, weil ich auf ihn stehe, ihn aber niemals ansprechen würde. Nicht nur wegen seinem Aussehen, wie alle anderen Weiber hier, sondern wegen seiner Art, seinem schönen Lächeln, seinen strahlenden, bernsteinfarbenen Augen und natürlich, weil er klug ist.
Okay, zugegeben. Das waren zu neunundneunzig Prozent nur oberflächliche Argumente.
Klugheit ist etwas, das auf herzlich wenige meiner Schulkameraden zutrifft, bei denen ich mich regelmäßig frage, wie sie es hier her geschafft haben. Doch er spielt einfach nicht in derselben Liga wie ich. Wahrscheinlich weiß er nicht einmal, dass es mich gibt. Aber er mag meine Pausenbrote und das macht mich glücklich.
Tristan denkt, dass ich einfach nur abnormal viel esse, aber ich werde ihn nicht korrigieren. Er würde mich für verrückt erklären oder irgendwann hier auftauchen und Randon alles erzählen.
Das wäre einfach unglaublich peinlich.
Am Anfang hat Randon meine Pausenbrote weggeworfen, mitsamt der Dose. Darum habe ich ihm einen Zettel dazu gelegt. „Ich beiße nicht und giftig bin ich auch nicht. Nur gesund und lecker" habe ich darauf geschrieben und tatsächlich habe ich ihn an diesem Tag mit meinem belegten Brot auf dem Gang gesehen. Seitdem isst er es jedes Mal und wenn er etwas übrig lässt, gehe ich davon aus, dass er es nicht mag und er bekommt es nicht wieder. Deshalb weiß ich auch, dass er keine Radieschen und Oliven mag, Karotten und Paprika dagegen schon. Andere Beilagen habe ich noch keine gemacht, aber vielleicht überleg ich mir für morgen etwas Neues.
Ein bisschen traurig finde ich nur, dass er mich nie gefragt hat, wer ich bin. Also mit einem Zettel auf oder in der leeren Dose zum Beispiel. Selbstverständlich hätte ich es ihm nicht gesagt. Aber allein der Gedanke, er könnte sich für die Person interessieren, die ihm jeden Morgen ein Pausenbrot macht, würde mich sehr glücklich machen.
Seufzend biege ich in den Gang ab, in welchem ich die nächsten beiden Stunden habe. Der Stoff fällt mir leicht, in kaum einem Fach habe ich Probleme und gebe sogar meinem Bruder Nachhilfe in Englisch. Er war in der Schule nie sehr gut darin, braucht es aber jetzt in der Ausbildung. Der Unterricht in der Berufsschule scheint nur dürftig zu sein und mir schadet die Wiederholung nicht, deshalb helfe ich ihm gerne.
Mein einziges Problemfach ist Sport. Dank Kent, einem Freund von meinem Vater, habe ich aber ein Attest und muss nie mitmachen. Die anderen Mädchen hassen mich dafür, aber das ist mir egal.
Ich werde in dieser Schule keinen Sportunterricht mit machen, sonst endet es nurwieder wie auf der vorletzten Schule.
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20.11.2018
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