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„Und du willst wirklich Kiara fragen, ob sie mitkommt? Ich meine, du weißt ja wie sie ist. Außerdem kann Jayla noch auf zwei Beinen stehen. Und es würde sie nicht umbringen mitzukommen. Ganz im Gegenteil", höre ich eine leicht aufgebrachte Stimme aus unserem Internatszimmer sagen und halte inne, kurz bevor ich die Tür hätte öffnen können.

„Spinnst du? Sie ist auf Extacy, wir werden sie so mit Sicherheit nicht mitnehmen. Ihre Gesundheit und Sicherheit gehen ja wohl vor ihre Schwärmerei für Van, findest du nicht?", erwidert Ravenna mindestens ebenso aufgebracht.

„Aber Kiara? Ich kann mich nicht daran erinnern sie jemals mit einem Kerl auch nur flirten gesehen zu haben. Wenn sie nein sagt, wird das Ganze ein totaler Flop, dabei habe ich mich schon so lange darauf gefreut. Du weißt, wie es mit Cobie und mir läuft."

„Jetzt schieb kein Drama, bevor du Kiaras Antwort noch nicht kennst, Bonnie."

„Und was machen wir mit Jayla? Hier kann sie ja offenbar nicht bleiben."

„Immer mit der Ruhe, ich habe ihre Mitbewohnerin schon angerufen, die kommt sie gleich abholen", versucht Ravenna das andere Mädchen namens Bonnie zu beruhigen. Ich erinnere mich daran, ihren Namen von Ravenna schon mal gehört zu haben, habe aber kein Gesicht im Kopf.

Bevor das Gespräch weitergehen kann, richte ich noch einmal meine Ponyfransen und betrete anschließend das Zimmer. Ravenna und Bonnie werfen mir undefinierbare Blicke zu, während Jayla lächelt und durch unser Fenster sieht, als würden sich ihr dort statt dem Schultrubel- nicht so richtig, weil wir es schon fünf Uhr am Nachmittag und dazu noch Wochenende haben- neue Welten offenbaren.

„Hi", begrüße ich die Drei und stelle meinen Rucksack neben meinem Bett ab, auf das ich mich anschließend fallen lasse und Ravenna einen gespannten Blick zu werfe.

Kurz rufe ich das Gespräch mit meinen drei neuen Freunden erneut in meinen Gedanken auf.

„Willst du damit sagen, dass du mich aufgrund meiner atemberaubenden Persönlichkeit sofort daten würdest, auch wenn du auf Mädchen stehst?"

Sie kennen mich gerade mal ein paar Wochen und erkennen sofort ein Geheimnis, welches Ravenna nach vier Jahren nicht herausgefunden hat? Ist sie einfach nur schwer von Begriff, oder fällt es den anderen Dreien einfach leichter so etwas zu erkennen, weil sie selbst davon betroffen sind? In diesem Moment schwirren unglaublich viele Fragen durch meinen Kopf, doch ich wende meine Aufmerksamkeit trotzdem meiner besten Freundin zu.

„Da bist du ja", sagt Ravenna lächelnd und lässt sich neben mich fallen, während Bonnie mich nur misstrauisch mustert und mein Outfit beäugt. Ihr Blick geht von meiner ungestylten Frisur bis hin zu meinen abgelaufenen senffarbigen Vans und dann wieder hoch in mein Gesicht. Sie sieht nicht sonderlich überzeugt von dem aus, was ihr meine Erscheinung bietet. Aber wem mache ich etwas vor? Keiner von Ravennas Freunden ist jemals damit zufrieden wie ich aussehe. Sie wirken jedes Mal eher so, als würden sie sich bei meinem Anblick übergeben wollen.

Ich erwidere das Lächeln meiner besten Freundin und realisiere erst jetzt, dass die drei Mädchen sich mehr hergerichtet haben als sonst- auch wenn es da ehrlich gesagt keinen großen Unterschied gibt. Bonnie trägt ein hautenges, kurzes schwarzes Kleid, hohe Schuhe die mehr als nur schmerzhaft aussehen, einen falschen weißen Pelzmantel und riesige silberne Ohrringe. Ravenna hingegen trägt ein weißes Spitzentop, einen kurzen roten Rock in Lederoptik und klimpernde goldene Armbänder, sowie genauso tödlich aussehende Schuhe wie die, die Bonnier trägt. Ihre Outfits jagen mir fast schon einen Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke, dass sie tatsächlich vorhaben so in die Öffentlichkeit zu gehen. Aber ich sage nicht dazu, weil ich mich nicht mit Ravenna streiten möchte. Außerdem ist es ihre Entscheidung, wie sie sich der Welt zeigen wollen.

„Was gibt's?", frage ich und versuche den Mädchen nicht mein Unbehagen zu zeigen. Ravenna bemerkt es nicht, auch, wenn ich mich nicht gerade unauffällig verhalte- aber das ist auch keine Neuheit. Sie klammert sich stattdessen an meinen Oberarm.

„Tust du mir einen Gefallen, Kia?", fragt meine beste Freundin und verzieht ihre rot geschminkten Lippen zu einem Schmollmund. Dem kann ich sowieso nicht widerstehen, doch ich schaffe es erst einmal zu schweigen und lasse sie fortfahren. „Bitte, bitte, bitte?"

Für einen kurzen Moment schweige ich weiter, da ich ja noch nicht weiß worum es sich handelt, aber dann gebe ich mich doch geschlagen. „Von mir aus", sage ich also seufzend und warte darauf, dass die beiden mir erzählen worum es geht.

Doch „du bist die Beste", ist das Einzige was Ravenna sagt, bevor sie mich von meinem Bett hochzieht und in die Richtung ihres Kleiderschrankes zieht. Eigentlich sollen wir uns diesen teilen, doch er ist schon für Ravennas Kleidung zu klein, weshalb ich meine Sachen in den Schubladen meines Schreibtisches verstaue. Ich habe weder viel Kleidung noch anderen Eigentum, die ich dort verstauen könnte, also passt es ganz gut so, wie es ist.

„Okay, na dann", sagt Bonnie und fährt mit ihren Händen durch meine dunklen Haare und anschließend biegt sie mein Gesicht in alle erdenklichen Richtungen. „Eigentlich bist du ja ziemlich hübsch. Wenn man auf diese...seltsame Art steht."

Ich ziehe eine Augenbraue nach oben, weil ich nicht weiß, ob das großgewachsene Mädchen mir gerade ein Kompliment gegeben oder mich beleidigt hat.

„Was meinst du?", fragt Ravenna an Bonnie gerichtet und hält ihr ein paar Oberteile hin, die kleiner aussehen als alles, was ich in meiner Kindheit je getragen habe. Ich schlucke trocken, als ich feststelle, dass die beiden darüber diskutieren, was ich gleich anziehen soll.

„Das ist nicht ihre Farbe, das auch nicht", sagt Bonnie mit einem kritischen Blick und wischt zwei der fünf Kleidungsstücke mit einer Handbewegung weg. „Wie steht es damit?", fragt die Blondine an mich gerichtet und zeigt auf ein neongrünes Top mit viel zu viel Ausschnitt. Ich schüttele stark mit dem Kopf.

„Und die hier?", fragt Ravenna und zeigt auf ein trägerloses besches Top und ein enges weißes Shirt. Mein Blick ist immer noch skeptisch, da alle Kleidungsstücke die mir gezeigt wurden, genau das verkörpern, was mir nicht gefällt zu tragen. Enge Kleidung, die viel Haut zeigt. Von mir aus können andere Leute so etwas tragen, wenn es ihnen gefällt, aber ich fühle mich darin einfach nur unwohl.

Bonnie seufzt und zieht ein weiteres Oberteil aus Ravennas Schrank. „Du musst das Oberteil ja nicht einmal lange anhaben, genauso wenig wie du einen Rock tragen musst- da würdest du mit deinen schmalen Hüften sowieso direkt herausrutschen. Also tue uns doch bitte den gefallen und zieh eines der Oberteile an, wenn du schon diese...Hose tragen wirst", sagt die Blondine und verkneift sich offenbar einen weiteren Kommentar zu meiner weiten Jeans.

„Also, welches willst du?", fragt Ravenna und zeigt auf das Oberteil in Bonnies und anschließend auf das in ihrer Hand. Für ein paar Sekunden überlege ich schreiend aus dem Raum zu rennen, dann überwinde ich meinen inneren Schweinehund und wähle das Oberteil in Ravennas Händen.

„Ich wusste, dass es dir gefallen würde", sagt Ravenna zufrieden lächelnd und sorgt so für Schmetterlinge in meinem Bauch. Dann hält sie mir das gelbe Shirt mit den drei weißen und roten Streifen hin und ich bete, dass es länger ist, als es aussieht. Ich nehme es ihr ab und brauche einen Moment, bis ich bemerke, dass die beiden von mir erwarten, dass ich mich vor ihnen umziehe.

Ich räuspere mich also und schlucke meine Nervosität herunter. Normalerweise achte ich darauf mich umzuziehen, wenn Ravenna nicht hinsieht und auch nicht hinzusehen, wenn sie sich umzieht. Es fühlt sich sonst nämlich irgendwie falsch an. Schließlich können Mädchen die auf Jungs stehen auch nicht einfach in die Jungenumkleide gehen und die Leute dort beobachten- obwohl ich mir sicher bin, dass so ziemlich jeder Junge auf unserem Internat einwilligen würde, wenn eine der beiden Mädchen sie darum bitten würden, sich vor ihnen auszuziehen.

Ich schlucke und wende meinen Blick ab, dann ziehe ich mir mein großes Shirt über den Kopf, glücklich darüber, dass ich heute Morgen einen einigermaßen vorzeigbaren BH angezogen habe. Dann ziehe ich das gelbe Shirt von Ravenna von dem Kleiderbügel und über meinen Kopf. Als ich es dann anhabe nicken Bonnie und Ravenna, als wären sie mit dem Ergebnis zufrieden. Ich hingegen versuche nur das Shirt etwas herunterzuziehen, weil es nicht einmal eine Hand breit unter meinem BH endet.

„Warst du eigentlich sehr sauer, als ich mit deinem Cousin Schluss gemacht habe?", fragt Ravenna an die Blondine gerichtet, während diese meine Haare richtet und vorsichtig bunte Haarspangen an beiden Seiten befestigt.

„Mit Brexen?", fragt Bonnie lachend „spinnst du? Der Kerl ist der totale Depp. Ich wundere mich, dass du es überhaupt so lange mit ihm ausgehalten hast."

Daraufhin seufzt Ravenna erleichtert auf und trägt konzentriert Lidschatten auf meinen Augenlidern auf. Es gefällt mir sie so betrachten zu können, auch wenn ich gleichzeitig befürchte, dass mein Herz so laut pocht, dass sie es hören kann.

„Okay, gut. Da kann ich dir nur zustimmen. Brexen hat so viele Komplexe und ein so großes Ego, dass da für mich einfach kein Platz mehr ist", sagt Ravenna und daraufhin bricht die Blondine in schallendes Gelächter aus.

„Da fällt mir gerade etwas zu ein", erwidert Bonnie und versucht sich von ihrem plötzlichen Lachanfall zu beruhigen „Van hat mir erzählt, dass Brexen letztens ein Mädchen geschlagen hat, weil sie sein Ego beleidigt hat."

Kaum habe ich die Worte der Blondine verarbeitet, bekomme ich einen Hustenanfall und lenke so die Aufmerksamkeit der beiden anderen Mädchen auf mich. Sogar Jayla, die in der Mitte des Zimmers auf dem Boden liegt und lächelnd die Decke anstarrt, sieht in unsere Richtung.

„Das überrascht mich nicht. Die Arme", sagt Ravenna mitfühlend und wischt mit ihrem Daumen die Wimperntusche von meinem Wangenknochen, die sie versehentlich dort verteilt hat, als ich plötzlich einen Hustenanfall bekommen habe. Ich zucke bei der Berührung leicht zusammen und dass nicht nur, weil ihre Berührungen auf mich eine elektrisierende Wirkung haben, sondern weil es genau die Stelle ist, an der der blonde Arsch- Brexen- mich geschlagen hat.

„Sorry", entschuldigt sich Ravenna, als ihr auffällt, dass die Stelle zwar nicht mehr bläulich, dafür aber grünlich ist. Sie wischt noch einmal- dieses Mal deutlich vorsichtiger- über die Stelle um die letzten Reste zu entfernen.

Ihre Augen werden plötzlich groß, als sich all die Puzzleteile zusammenfügen. Ich habe zum ersten Mal in der Geschichte ein blaues Auge und frage komischer Weise nach ihrem Exfreund, auch wenn mich ihre Beziehungen nicht interessieren. Zufälligerweise hat genau dieser Exfreund letztens einem Mädchen ins Gesicht geschlagen und zufälligerweise bekomme ich bei der Erzählung davon einen Hustenanfall. Das sind nun auch für Ravenna ein paar zu viele Zufälle.

Meine Augen werden ebenfalls groß und ich schüttele unauffällig den Kopf, als Ravenna dazu ansetzt mich mit ihrer Vermutung zu konfrontieren. Sie sieht mich misstrauisch an und dreht sich anschließend zu Bonnie um, dann sieht sie wieder zu mir. Ihr Blick sagt mir, dass das Thema noch nicht beendet ist. Doch wenn ich es mit ihr diskutieren muss, dann nicht vor dem blonden Plappermaul. Auch wenn die beiden miteinander befreundet sind. Ich kenne diese Arten von Freundschaften; diese Leute, die einfach nur falsch sind und sich die Probleme anderer nur anhören, um später darüber herziehen zu können.

Wenig später klopft jemand an unsere Zimmertür und Bonnie erhebt sich, um sie zu öffnen, weil Ravenna gerade damit beschäftigt ist mir Lippenstift aufzutragen. Sie sieht mindestens genauso konzentriert wie zuvor beim Auftragen der Schminke um meine Augen herum aus und ich muss mich zurückhalten zu lächeln. Meine Lippen kribbeln unter dem Lippenstift und eine Gänsehaut bildet sich an Kopfhaut und Nacken, weil Ravenna mich an letzterem festhält, um Widerstand beim Auftragen zu haben.

Ich entscheide, dass ich Schminke doch mag.

Das Mädchen an der Tür ist offenbar Jaylas Zimmermitbewohnerin, die gekommen ist, um sie abzuholen. Ich fühle mit dem Mädchen mit, weil dies eine Situation ist, in der ich mich und Ravenna auch sehen kann. Sie ist bei irgendeinem Kerl betrunken im Zimmer, oder auf irgendeiner Party und so betrunken, dass sie sich selbst nicht mehr auf den Beinen halten kann. Natürlich bin ich als die einzig übrige nüchternde Freundin, die dazu noch keine Bitte abschlagen kann, die richtige Adresse.

Da Ravenna mit dem Umgestalten meines Gesichts fertig ist, stehen wir auf und Ravenna und Bonnie greifen Jayla unter die Arme und überreichen sie der Zimmergenossin.

„Und du bist sicher, dass du das schaffst?", fragt Ravenna mitfühlend, was mir einen kurzen Stich versetzt. Ist sie zu mir in diesem oder letztem Schuljahr jemals so führsorglich gewesen? Hat sie mich jemals so angesehen? Vermutlich habe ich es mir selbst verspielt, weil ich jedes Mal ihren Bitten nachgehe.

Die Zimmergenossin nickt nur und nimmt die kichernde Jayla auf ihren Rücken. „Ich wünsche euch noch viel Spaß bei dem Date", sagt sie und verabschiedet sich mit einer Kussbewegung ihrer Lippen. Die beiden Mädchen erwidern die Geste und ich lasse mir ihre Worte noch einmal durch den Kopf gehen.

„Moment mal- was?"



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