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Das kann doch nicht wahr sein, denke ich und verstecke mich hinter einer der blauen Klokabinen. Meine Augen werden heiß und ich spüre wie Tränen in mir aufkommen.
Das hat mir gerade noch gefehlt.
„Wie wäre es, wenn du den Kurs schwänzt und wir zu mir gehen?", fragt der grünhaarige Junge von eben auf dem Schulhof und ich merke schnell, dass ich seine Stimme noch viel unerträglicher als die des blonden Freundes von vor einer Woche finde. Unter ihm an die Wand einer Kabine gedrückt, steht Ravenna, die ihn daraufhin nur verführerisch anlächelt und sich gespielt nervös auf die Lippe beißt.
„Es ist irgendwie verdammt heiß mit einem Kerl von einer Privatschule auszugehen", flüstert sie.
„Oh ja. Wenn du mich fragst, kann ich dir diese Vorteile gerne unter Beweis stellen, Liebes", erwidert der Emo und Ravenna kichert.
Die beiden sind so sehr miteinander beschäftigt, dass sie gar nicht gemerkt haben, dass ich reingekommen bin. Verdammt, in diesem Moment wäre ich überall lieber, als hier. Denn gleich darauf beugt sich der schlaksige Kerl nach vorne und gibt Ravenna einen leidenschaftlichen Kuss.
Ich spüre wie mir die erste Träne die Wange hinunter läuft und wische sie schnell weg, auch wenn da niemand ist, der sie sehen könnte. Mein Körper bebt, weil ich angestrengt laute Schluchzer zurückhalte. Doch ich will nun mal nichts lieber verhindern, als dass Ravenna bemerkt, dass ich sie und diesen Kerl weinend ausspioniere. Dann wäre unsere Freundschaft wirklich Geschichte.
Mist, Mist, Mist!
Ich schlucke also meinen Kummer herunter und warte die nächsten Küsse und Flirtsprüche ab, die beide sich gegenseitig an den Kopf werfen, bis sie dann endlich das Mädchenklo verlassen.
Jetzt gibt es keinen Halt mehr für mich und Tränen laufen über meine Wangen und mein Körper bebt, weil ich kaum noch Luft bekomme. Ich sinke auf den Boden, wie ein in sich zusammenfallender Sack und frage mich, wieso gerade ich diese Art von psychischem Schmerz erleiden muss und womit ich es mir verdient habe. Mir fällt nichts ein. Schon meine Kindheit ist verdammt schmerzhaft gewesen und ich finde, dass ich endlich mal etwas Glück im Leben verdient habe. Nicht, dass es mir schlecht geht. Ich habe einfach nur hin und wieder Momente, in denen ich emotional abstürze und fast schon Heulattacken erleide.
Ich verstehe nicht einmal wieso. Irgendwie tut es unglaublich weh zu sehen, wie Ravenna Spaß mit anderen Kerlen hat und mich dabei komplett vergisst. Es tut weh, wenn sie mich übergeht oder sogar absichtlich versetzt, nur um mit jemand anderem Zeit zu verbringen. Und es tut weh, dass ich offensichtlich viel mehr für sie empfinde, als sie für mich.
Ich versuche mich zu beruhigen und tief durchzuatmen, wie ich es immer tue, nachdem das Schlimmste meiner Heulattacke überstanden ist. Dann wische ich mir die Tränen von den Wangen und schließe die Augen, weil sie brennen. Ich erlaube mir für eine Minute einfach nur dazusitzen und nichts zu tun, mich einfach nur auf meine Atmung zu konzentrieren und so herunterzukommen.
Als mein Herzschlag und mein Puls dann wieder ein normales Tempo erreicht haben, stehe ich auf und werfe einen kurzen Blick in den Spiegel. Ich sehe grauenvoll aus. Meine Augen sind verquollen, mein Gesicht rot und leicht gereizt. Alles in einem sehe ich aus, als ob ich die letzte Woche nur eine Stunde Schlaf bekommen und anschließend einen Marathon gelaufen wäre.
Ich mache einen der Wasserhähne am Waschbeckenblock an und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, in der Hoffnung, dass ich so etwas wacher aussehe. Es hilft nicht wirklich, doch ich beschließe es einfach dabei zu belassen. Ich zucke also mit den Schultern, wende mich von meinem Spiegelbild ab und verlasse das Mädchenklo. Den neuen Kurs, dessen Namen eine unverständliche Abkürzung ist, werde ich jetzt ganz bestimmt nicht mehr besuchen.
Stattdessen gehe ich geradewegs zurück in den Flur aus dem ich gekommen bin. Ich möchte einfach nur das Schulgebäude verlassen und irgendwo ein bisschen Zeit für mich haben. Auch wenn ich weiß, dass diese Zeit meisten dazu ausartet, dass ich von meinen Gedanken erdrückt werde und eine neue Heulattacke bekomme. Doch diese Aussicht gefällt mir deutlich besser, als die Attacke irgendwo im Nirgendwo zu bekommen, also mitten im Klassenraum.
Ich ziehe mir meinen Rucksack enger an den Köper und puste meine Ponyfransen im Laufen aus dem Gesicht. Plötzlich überkommt mich das Bedürfnis das Internatszimmer zu wechseln. Denn es tut verdammt weh, Ravenna jeden Tag mit irgendwelchen Kerlen zu sehen. Zu sehen, wie sie lächelnd mit ihnen Nachrichten austauscht oder wie sie strahlend lächelt, wenn einer von ihnen bei uns an die Tür klopft, um sie zu einem Date abzuholen.
Aber es tut auch weh Ravenna nicht zu sehen. Ich bin verwirrt und weiß überhaupt nicht mehr, was ich eigentlich will.
„Ravenna, diese Schlampe, denkt auch sie wäre eine Göttin oder so was", höre ich eine bekannte Stimme sagen und bleibe abrupt stehen. Es der blonde Exfreund von Ravenna von vor zwei Wochen, der nun mit seinen Freunden lachend im Hauptflur steht. Ich muss ihn gar nicht erst sehen, da kocht schon Wut in mir hoch.
Dabei bin ich gar nicht so richtig wütend auf ihn, sondern eher auf mich selbst. Schließlich bin ich diejenige, die es nicht schafft Ravenna meine Gefühle zu gestehen- oder sie gar selbst zuzugeben. Trotzdem hat der Blonde in meinen Augen keinerlei Recht so über Ravenna herzuziehen.
„Ach komm schon, Mann, du bist einfach nur beleidigt, weil du durch diesen reichen grünhaarigen Spaßt ersetzt wurdest", fügt einer der Jungs neben ihm hinzu und schlägt dem Blonden freundschaftlich gegen die Brust.
„Von wegen, dieses Miststück kann mich mal", fährt der Blonde fort und es gefällt mir überhaupt nicht, wie abwertend er von meiner besten Freundin spricht. Ob mir die Weise wie sie mich zurzeit behandelt gefällt oder nicht. „Erst erlaubt sie sich mir das Geld aus der Tasche zu ziehen und dann schafft sie es nicht einmal mich dafür zu bezahlen, wenn ihr wisst was ich meine."
Wieder lachen die Jungs um ihn herum und ich balle meine Hände zu Fäusten. So wenige Gehirnzellen auf einem Platz habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Meine Trauer ist auf einmal wie in Luft aufgelöst und stattdessen gewinnt Wut die Überhand.
„Ganz schön hinterhältig, diese Schlampe", sagt einer seiner Freunde „und was wirst du deswegen tun?"
„Na was wohl? Ich werde es diesem Miststück heimzahlen. Sie wird schon erkennen, dass es falsch war mich abzuservieren", sagt der Blonde und spuckt mitten auf den Flur. Ich verziehe angewidert das Gesicht, bin aber immer noch nicht in der Lage mich von Ort und Stelle zu bewegen.
„Na, das hört sich ja mal nach einem Plan an."
„Und wie. Kommt ihr mit Jungs? Ich erledige meine Abmachungen gerne so früh wie möglich", sagt der Blonde und sieht seine beiden Freunde herausfordernd an. Die Jungs nicken nur und machen Anstalten sich wegzubewegen und ihre Abmachung in die Tat umzusetzen. Ich weiß nicht was sie vorhaben, doch plötzlich schreit alles in mir, dass ich sie aufhalten muss.
„Was kann Ravenna denn dafür, dass du so blöd warst ihr jeden Wunsch zu erfüllen, obwohl ihr gerade erst ein paar Tage zusammen wart?", frage ich, während ich mit verschränkten Armen vor die Gruppe Jungs trete. Meine Stimme zittert kein bisschen, auch wenn ich eigentlich unglaublich nervös bin. Erst sehen die Jungs mich irritiert an, dann verstehen sie, dass ich über ihr Gespräch rede.
„Und was geht dich das an?", fragt der Blonde und mustert mich abschätzig. Natürlich tut er das, denn ich bin genau das Gegenteil von dem, was er sich unter einem hübschen Mädchen vorstellt. Ich bin klein, habe keine Kurven, sorge mich nicht um mein Aussehen und vor allem nicht darum irgendjemanden zu beeindrucken.
„Ehrlich gesagt frage ich mich, was für Komplexe du hast, dass du an einem Mädchen, welches vermutlich aus verständlichen Gründen mit dir Schluss gemacht hat, Rache nehmen musst", fahre ich fort ohne auf seine Frage zu antworten. Ich provoziere ihn, ohne mich selbst davon abhalten zu können.
Ich bin einfach so... wütend.
Der Blonde wird rasend, als er meine Worte hört und tritt ein Schritt näher auf mich zu. Doch es stört mich nicht, ich fühle mich kein bisschen eingeschüchtert, obwohl er fast zwei Köpfe größer als ich ist. Ich schlucke bloß trocken und trete ebenfalls einen Schritt auf den Jungen zu.
„Was willst du von mir, Kleine?", fragt der Blonde und spuckt seine Worte förmlich auf mich herab. Seine zwei Freunde beobachten gespannt die Vorstellung. „Glaubst du, dass du mit diesem Verhalten meine Aufmerksamkeit bekommst? Glaubst du ich steh' auf so was? Du bist echt tief gesunken."
„Ich denke es ist nicht möglich tiefer als du zu sinken, der von seinen Freunden Hilfe braucht, um an einem Mädchen Rache zu nehmen. Und das, weil sein viel zu großes Ego verletzt wurde", gifte ich zurück.
„Du kleines Miststück", erwidert der Blonde überreizt und hat, bevor ich es merke, eine Hand angehoben. Ich schaffe es nicht mehr rechtzeitig mich unter der Bewegung wegzuducken, weil diese Reaktion so überraschend kommt. Es dauert keinen Wimpernschlag, da hat mir der Blonde auch schon einen gewaltigen Schlag ins Gesicht verpasst. Seine Freunde sehen ihn perplex an, als hätten auch sie nicht damit gerechnet, dass er gleich zuschlagen würde.
„Interessant, wie du deine Probleme löst", fahre ich fort, denn ich bin noch immer kein bisschen eingeschüchtert. Soll er mich doch schlagen. Dann wird er seine Aggressionen wenigstens nicht an Ravenna auslassen, die so ein blaues Auge sicher mehr belasten würde als mich.
„Hast du immer noch nicht genug?", fragt der Blonde und setzt zu einem neuen Schlag an. Doch bevor er ihn in die Tat umsetzen kann, wird er von einem weiteren Jungen aufgehalten.
„Alter, lass das. Sie ist ein Mädchen", sagt er und ich fange langsam an, den Jungen, der dazu gekommen ist, wiederzuerkennen. Die meisten nennen ihn Van, weil sein Nachname Sullivan ist und ich glaube mich daran zu erinnern, dass er letztes Jahr mit meiner besten Freundin auf ein paar Verabredungen war.
Ich verziehe den Mund. Es ist kein bisschen schmeichelnd von jemandem verteidigt zu werden, nur weil man aus dessen Ansichten aufgrund seines Geschlechtes zu schwach ist.
Ohne darüber nachzudenken schreite ich noch einen Schritt auf den Blonden und Van zu und schlage Letzterem mitten ins Gesicht. Es tut mehr auf meinen Fingerknöcheln weh, als ich erwartet habe und ich bereue es sofort, doch trotzdem fühlt es sich irgendwie gut an. Jetzt sehen mich alle vier Jungs noch perplexer an als in dem Moment, in dem der Blonde zugeschlagen hat.
Der blonde Junge- Brex, wenn ich mich richtig an seinen Namen erinnere- ist zwar ein totales Arschloch, doch auf mich wirkt es so, als würde es einen Grund dafür geben, als würden seine Eltern ihn verhätscheln, oder ihn nicht genug lieben oder so; was natürlich noch lange keine Rechtfertigung für seine Worte ist. Aber ich weiß eben, wie man wird, wenn man von den falschen Leuten erzogen wird.
Van hingegen hat etwas von sich gegeben, was ich wirklich nicht ab kann. Sexismus sollte im einundzwanzigsten Jahrhundert nun wirklich kein Thema mehr sein. Vermutlich reagiere ich jedoch einfach über. Doch in diesem Moment kreist nur ein einziger Gedanke in meinem Kopf umher.
Du bist heute gerade so davon gekommen, weil du noch ein Kind und noch dazu ein Mädchen bist. Aber glaub ja nicht, dass ich deswegen das nächste Mal über deine Untaten hinwegsehen werde. Es sind die Worte meines Vaters, die sich über all die Jahre in mein Gehirn gebrannt haben.
„Und weil ich als Mädchen geboren wurde, bedeutet das, dass ich automatisch nicht in der Lage dazu bin, mich selbst zu verteidigen, du sexistisches Arschloch?", frage ich und schüttele meine rechte Hand, um den Schmerz zu vertreiben.
„Wie auch immer, ihr verschwendet meine Zeit", füge ich noch hinzu, als die Jungs eine geschlagene Minute nicht antworten und mich immer noch fassungslos anstarren. Ich trete von Van zu dem Blonden herüber. „Ich hoffe für dich, dass sich deine Abmachung, wie du sie nennst, erledigt hat, sonst wird es verdammt ungemütlich."
Und mit diesen Worten wende ich mich von den Jungs ab und verlasse das Gebäude. Was ich gesagt habe, war unklug. Wie sollte ich es mit vier Typen aufnehmen, die im Vergleich zu mir gebaut sind wie Schränke? Ich sollte meine Gefühle besser unter Kontrolle haben.
Auf meinem Weg über den Schulhof wird Adrenalin durch meine Adern gepumpt und mein Herzschlag verläuft viel zu schnell. Meine Wange tut an der Stelle weh, an der der Blonde darauf eingeschlagen hat, doch ich empfinde den Schmerz seltsamer Weise als erfrischend.
Ich bin von mir selbst überrascht, weil ich eigentlich stark gegen Gewalt bin. Ich verabscheue sie sogar, weil ich keine guten Erfahrungen damit gemacht habe- aber wer tut das schon? Dies ist auch einer der Gründe warum ich mir keine Actionfilme ansehen kann: weil mir Gewalt unglaublich nahe geht. Überraschender Weise empfinde ich es jedoch als nicht so schlimm, wenn ich selbst darin verwickelt bin.
Ich zucke also nur mit den Schultern und laufe über das Schulgelände, um mir einen ruhigen Ort zu suchen, an dem ich ein bisschen alleine sein kann, bevor ich zurück in das Zimmer kehre, welches ich mir mit Ravenna teile.
Allein wenn ich an sie denke, tut mein Herz weh. Besonders, weil ich weiß, was sie jetzt gerade tut. Sie hat ihren Spaß mit diesem grünhaarigen Kerl, den ich nicht ausstehen kann. Wobei ich fairer Weise dazu sagen muss, dass ich keinen ihrer festen Freunde auch nur ansatzweise mag oder jemals gemocht habe. Aber Ravenna hat sowieso die Angewohnheit sich immer die größten Player und die schlimmsten Arschlöcher zum Daten auszusuchen.
Ich kenne ihre Gründe, schließlich sind wir beste Freundinnen. Sie nimmt sich traurigerweise ein Beispiel an ihrem Vater, welcher nach der Trennung mit Ravennas Mutter nichts anderes tut, als irgendwelche Frauen zu treffen, sie auszunutzen und dann fallen zu lassen. Wahrscheinlich glaubt Ravenna, dass es so sein muss, auch wenn sie genau weiß, wie unglücklich ihre Mutter deswegen ist.
Doch dass ich Ravennas Gründe kenne bedeutet noch lange nicht, dass ich sie nachvollziehen kann.
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