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Als ich bemerke, dass meine Hände leicht zittern, verstecke ich sie unauffällig unter dem Tisch. Mein Herz klopft wie wild und Adrenalin wird durch meine Adern gepumpt. Ist das der Moment, vor dem ich mich die letzten Jahre so gefürchtet habe? Der Moment, in dem Ravenna erfährt, was ich für sie empfinde, von ihr gekorbt werde und so unsere Freundschaft für immer zerstört ist? Wenn nicht, dann muss ich mir ganz schnell überlegen, was ich auf Vans Frage antworten soll.
„Also ich-", beginne ich, weiß aber nicht so ganz, was ich sagen soll, weshalb ich mich erst einmal räuspere. „Ja, das stimmt, aber ich habe ehrlich gesagt nicht sonderlich viel von der Situation mitbekommen", füge ich wage hinzu, woraufhin Van belustigt eine Augenbraue nach oben zieht.
„Ach wirklich?", fragt mein Gegenüber provozierend und ich atme nur tief ein und aus, um meinen Ärger herunterzufahren. Ich habe meine Gefühle für meine beste Freundin mit Sicherheit nicht so lange geheim gehalten, nur damit irgendso ein dahergelaufener Depp ihr davon erzählt.
„Ja, ich habe diese...schreckliche Darstellung irgendwie verdrängt", erwidere ich und trete Van nun auf den anderen Fuß. Zum Glück kommt Bonnie zur Sprache, bevor Van noch genauer darauf eingehen kann.
„Oh Gott, das verstehe ich. Tut mir leid, falls ich harsch geklungen habe, ich war lediglich überrascht", sagt die Blondine und legt mir lächelnd ihre Hand auf den Unterarm.
„Alles gut", erwidere ich nur und schüttele mit dem Kopf. Für ein paar Sekunden wird es still an unserem Tisch, dann beginnt der Grünhaarige etwas zu erzählen und ich schalte ab. Denn ich will wirklich nichts von seinen ach so gefährlichen Motorradtouren oder Alligatorkämpfen oder wovon er auch immer gerade prallt, wissen.
Stattdessen beobachte ich Ravenna, wie sie ihn ansieht, lacht, etwas erzählt. Sie ist so verdammt schön. Sie sieht so verdammt gut aus, wenn sie lacht. Mein Herzschlag brummt schon in meinen Ohren, so sehr beflügelt mich ihr Anblick. Ich vergesse für einen kurzen Augenblick, dass wir niemals die Beziehung zueinander haben werden, die ich mir wünsche und genieße den Augenblick. Ich gieße, dass ich sie ansehen kann, dass wir Zeit miteinander verbringen und dass ich mich zur Abwechslung mal nicht wie eine totale Verliererin in ihrer Anwesenheit fühle.
Ich habe schon fast vergessen, wie gut sich das Gefühl jemanden zu mögen anfühlen kann- auch wenn es nicht erwidert wird.
Ein Kellner bringt uns das Essen, welches wir bestellt haben und das Gespräch wird fortgeführt. Neben mir erhasche ich einen Blick auf Bonnies und Cobies Hände, die unter dem Tisch ihren Weg zueinander gefunden haben. Beide grinsen über beide Ohren und ich freue mich für sie, dass ihre Liebe erwidert wird- egal wie bitter sich dieser Gedanke auf meiner Zunge anfühlt.
Anders als Ravenna und Ian, lassen Bonnie und Cobie ihre Hände nicht los, als die beiden anfangen zu essen. Schnell stelle ich fest, dass das daran liegt, dass Ravenna und Ian beide Rechtshänder sind, Bonnie jedoch eine Linkshänderin. Cobies Grinsen nach zu urteilen, gefällt ihm dieses Detail ziemlich gut.
„Lecker", sagt Van und leckt sich dabei demonstrativ um den Mund. Auf seinem Teller befindet sich ein Stück Lasagne und der Rest des Tellers ist mit Rohkost verziert.
„Kein Wunder, da du dich nur von Fertiggerichten ernährst, würde dir absolut alles schmecken", gibt Bonnie grinsend zurück und schiebt sich anschließend einen Löffel von ihrem Spargel-Risotto in den Mund, wobei sie ganz genau darauf achtet, dass sie dabei nicht ihren rosa Lippenstift verschmiert.
„Ja, aber anders als Cobie habe ich keine Herdplatte in meinem Zimmer stehen und will mir das Essen in unserer Cafeteria beim besten Willen nicht zumuten."
„Selbst wenn du eine Herdplatte hättest, Kochen kannst du sowieso nicht."
„Du stellst dich auch noch gegen mich, Ravenna? Hast du schon unsere beiden romantischen Dates vor zwei Jahren vergessen? Ich war verdammt nett zu dir?"
„Ich denke ich würde mich daran erinnern, wenn diese Verabredungen romantisch gewesen wären", gibt Ravenna zurück, worauf hin Van die Dunkelhaarige beleidigt anschmollt.
„Liegt es an dem Afro, den ich damals hatte?"
„Ravenna hatte doch auch einen Afro", fügt Cobie grinsend hinzu und kassiert dafür einen Schlag von Ravenna mitten über den Tisch. „Was? Ist doch wahr."
„Sag mal Van, bist du auf den Kopf gefallen, oder hast du wirklich vergessen, wobei es sich bei unseren Treffen gehalten hat?"
„Oh, jetzt wird es aber interessant", sagt Bonnie, legt ihre Gabel auf den Tisch und hört Ravenna gespannt zu. Van scheint für einen Moment sprachlos zu sein.
„Du erinnerst dich noch daran?", fragt der Dunkelhäutige etwas perplex und legt sein Ego, welches er wohl für unglaublich lustig hält, für einen Moment ab.
„An jedes Wort", gibt sie zurück und Van schluckt trocken. Es scheint ihm unangenehm zu sein, was dazu führt, dass auch ich auf einmal an dem Gespräch interessiert bin, obwohl ich noch immer keinen einzigen Happen von meinem Essen probiert habe.
„Ach, war das etwa-?", Bonnies Augen werden groß, als auch sie sich daran zu erinnern scheint.
„Du warst doch überhaupt nicht bei unseren Treffen dabei woher willst du-"
„Alter Van. Wir sind beste Freunde, schick mich zur Hölle, wenn ich nicht mehr weiß, wer dir vor zwei Jahren gewaltig den Kopf verdreht hat."
Überrascht ziehe ich eine Augenbraue nach oben. Van hatte also gar kein Date mit Ravenna, weil er an ihr interessiert war, sondern an jemand anderem? Jetzt ergibt es einen Sinn, dass die beiden nie ein paar gewesen sind.
„Du hast Bonnie davon erzählt, mir aber nicht? Ich bin schwer enttäuscht", sagt Cobie nun beleidigt und wieder entdecke ich eine Eigenschaft an dem Rothaarigen, die ich nur zu gut von Shane kenne. Schließlich habe ich mir diese Nummer in den letzten Wochen auch angewöhnt.
„Verdammte Scheiße. Wir sind Jungs und müssen unsere Männlichkeit unter Beweis stellen. Wir können nicht weich werden und uns von irgendwelchen Mädchen vorschwärmen", obwohl ich weiß, dass Van nur scherzt, fällt mir erneut auf, dass er die Rollen der Geschlechter pauschalisiert. Das ist ein Charakterzug, den ich einfach nicht ausstehen kann; mein Vater hat genauso gedacht und wer weiß, vielleicht tut er es immer noch.
Ich will gerade den ersten Bissen von meinem Gericht probieren, da klingelt mein Handy und unterbricht das Gespräch der übrigen Anwesenden. Ich werfe einen Blick auf das Display, um in Erfahrung zu bringen, wer mich anruft. Doch statt einem Namen wird darauf nur eine Nummer angezeigt. Eine Nummer, von der ich jede einzelne Ziffer auswendig kenne. Vor Überraschung fällt mir die Gabel aus der Hand und ich stehe kurz davor den Anruf abzulehnen.
Ich möchte nicht mit ihm sprechen.
Nicht in hundert Jahren.
„Du kannst ruhig drangehen", sagt Bonnie zu mir und will mich beruhigend an der Schulter berühren, doch ich zucke geschockt zusammen.
Ich brauche dringend frische Luft. Ich schaffe es nicht der Blondine zu antworten, weshalb ich nur nicke und mich von dem Tisch erhebe. Mein Atem geht nun Stoßweise und ich will mir gar nicht vorstellen, wie meine Reaktion auf den Anruf aussieht und was die anderen diesbezüglich über mich denken.
Meine Schritte sind wackelig, als ich auf die Tür des Restaurants zugehe. Mittlerweile klingelt mein Handy nicht mehr, doch ich weiß aus Gewohnheit, dass es nicht sonderlich lange dauern wird, bis der nächste Anruf eintrifft. Ich hasse mich selbst für meine ängstliche Reaktion und die Art wie mich ein bloßer Anruf in Panik versetzt. Ich muss mich anstrengen, weiter zu atmen, um nicht auch noch ohnmächtig zu werden.
Auch wenn ich damit gerechnet habe, zucke ich erschrocken zusammen, als mein Handy erneut klingelt. Es ist dieselbe Nummer auf dem Display zu sehen, wie gerade eben auch schon, doch trotzdem nehme ich nicht ab. Ich bin unschlüssig, also richte ich meinen Blick erstmal zum Himmel hinauf und atme tief durch. Es ist mittlerweile schon dunkel, doch die Temperatur ist kaum gesunken.
Das Klingeln verstummt wieder und ich werde in der Stille alleine gelassen. Obwohl das auch nicht ganz richtig ist. Draußen laufen noch ein paar Leute an der abgelegenen Straße entlang und auch die Geräusche innerhalb des Restaurants sind zu hören. Trotzdem fühlt es sich ohne das Klingeln meines Telefons unerträglich still an- auch wenn mir der Anruf dieser Nummer jedes Mal Angst macht.
Ich atme noch einmal tief ein und aus und setze einen Fuß in die Richtung des Restaurants, um zurückzugehen, da klingelt mein Handy ein drittes Mal. Endlich gehe ich dran und bewege mich in derselben Bewegung zurück in die andere Richtung.
„Oh, du bist aber schnell dran gegangen", sagt die Stimme auf der anderen Seite der Verbindung überrascht und ich ziehe die Augenbrauen hoch. Denn der Anrufer ist jemand anderes, als der, den ich erwartet hatte. Ich nehme mein Handy also von meinem Ohr und werfe einen Blick auf das Display. Tatsächlich ist es dieses Mal ein eingespeicherter Kontakt, der mich angerufen hat. Es ist meine Mutter, die sich entschieden hat zufällig im selben Monet anzurufen, wie diese andere Nummer. Es hätte mir früher auffallen können, weil die beiden einen unterschiedlichen Klingelton haben.
„Eh, ja", stammele ich überrascht und halte das Handy wieder an mein Ohr. Dann gehe ich auf die Mauer des Hauses neben dem Restaurant zu und lehne mich dagegen, denn ich befürchte, dass ich von dem Schock des Anrufes ansonsten zusammenbreche.
„Wie geht es dir?", fragt meine Mutter zuckersüß, was in mir nur einen Kotzreiz auslöst. Da muss irgendetwas sein, dass sie von mir will, sonst würde sie mich nicht so gut behandeln- ach was rede ich mir ein, sonst würde sie mich nicht einmal anrufen!
„Ganz gut", antworte ich kurz angebunden. Sie ist nicht wirklich daran interessiert wie es mir wirklich geht und ich möchte es sie auch nicht wissen lassen.
„Schatz, ich muss dich um etwas bitten", sagt die junge Frau nach einiger Zeit in den Hörer und ich verdrehe die Augen. Natürlich will sie etwas von mir, denn für etwas anderes braucht sie mich nicht. Ich muss den Drang unterdrücken mein Handy mit voller Wucht auf den Bürgersteg zu werfen, weil ich nicht wissen will, was sie dieses Mal braucht. Wofür sie mich dieses Mal ausnutzen will.
Ich gebe einen Laut von mir, der sie dazu animieren soll fortzufahren. Ich wage es nicht in ganzen Sätzen mit ihr zu sprechen, weil ich befürchte, dass ich sie dann anschreie.
„Also weiß du, da ist diese Handtasche", sagt meine Mutter vorsichtig, aber immer noch in diesem überfreundlichen Tonfall, der bei mir Kopfschmerzen auslöst „Ich habe schon lange ein Auge auf sie geworfen und sie ist dieses Wochenende runtergesetzt. Ich habe meinen Monatslohn aber schon aufgebraucht. Ich wollte dich also fragen, ob du mir ein bisschen Geld überweisen könntest. Ich gebe es dir auch innerhalb des nächsten halben Jahres zurück- Nein sogar in fünf Monaten".
Ich unterdrücke einen Seufzer. Geld. Natürlich will meine Mutter Geld von mir. Denn seit ich auf das Primrose Internat gehe, habe ich mein eigenes Konto. Darauf geht mein Kindergeld, das Taschengeld meiner Großeltern mütterlicherseits, das Geld, dass mein Vater mir jeden Monat überweist, seit er und meine Mutter getrennt sind und das Geld, welches ich mit meinem Blog verdiene. Und das Einzige was davon abgeht, sind meine Essenkosten und hin und wieder eine neue Linse für meine Kamera oder ein Buch für die Schule. Denn mein Aufenthalt auf dem Internat, sowie meine außerschulischen Kurse werden vom Staat bezahlt.
„Wie viel?", frage ich und klinge dabei deutlich schroffer, als ich es eigentlich beabsichtigt habe.
„Danke, Schatz. Du rettest mich, danke", erwidert sie und ich kann mir vorstellen, wie glücklich sie gerade aussehen muss, jetzt wo sie mein Geld bekommt.
„Ich habe nicht gesagt, dass ich zustimme", sage ich kalt, woraufhin es für einen kurzen Moment still in der Leitung wird. Meine Laune befindet sich jetzt noch tiefer im Keller.
Meine Mutter bettelt weiter und nennt mir ihre Summe. Es ist ihr offenbar egal, wie sehr sie sich selbst demütigt und auf welche Stufe sie sich mit ihrem Anruf begibt. Es ist nicht einmal zwei Wochen her, seit sie mir ihre letzten Schulden abbezahlt hat und dabei bin ich so nett gewesen, ihr keine Zinsen zu geben. Es tut schon längst nicht mehr weh, dass meine Eltern mich nicht lieben.
Meine ganze Familie tut es nicht. Meine Eltern sind getrennt und geben einen Scheiß auf mich. Mein Stiefvater und meine Halbschwester können mich nicht ausstehen und meine Großeltern überweisen mir Verlegenheitsgeld, weil es ihnen unangenehm ist, dass ich von ihrer Tochter großgezogen werde, bei dessen Erziehung sie so kläglich gescheitert sind. Alles in einem könnte man sagen, dass ich von niemandem geliebt werde.
Nicht einmal meine beste Freundin scheut sich davor, mich nach Strich und faden auszunutzen. Es überrascht mich manchmal selbst, dass ich anhand der Umstände noch nicht zerbrochen bin. Vielleicht bin ich es auch einfach schon immer gewesen.
„Ich gebe dir die Hälfte", sage ich irgendwann kalt und unterbreche sie in ihrem Gejammer und Gebettel. Ich kann ihre Stimme einfach nicht mehr ertragen „und wenn du mir das Geld nicht innerhalb von vier Monaten zurückgegeben hast, bekomme ich das Doppelte von dir zurück."
Ich warte ihre Antwort gar nicht ab, sondern lege einfach auf. Und kaum habe ich ihr das Geld über mein Handy überwiesen, sehe ich einen Tropfen Wasser auf dem Bildschirm. Ich sehe zum Himmel hinauf, weil ich annehme, dass es regnet, doch der Himmel ist klar und dunkel blau. Kaum Wolken sind zu sehen und der Mond scheint unglaublich strahlend. Ich frage mich, wieso die Nächte an denen es mir so verdammt beschissen geht, immer so schön sein müssen.
Als ich meinen Blick wieder zum Bildschirm meines Handys wende, landet ein weiterer Tropfen darauf und dieses Mal verstehe ich, um was es sich dabei handelt. Ich weine, ohne es bemerkt zu haben. Automatisch wische ich mir übers Gesicht, wie ich es immer mache. Doch dieses Mal ist es anders. Dieses Mal bin ich schon seit zu lange Zeit draußen, um zu telefonieren. Dieses Mal sitzen Leute in einem Restaurant und warten auf mich. Dieses Mal habe ich Schminke im Gesicht, die ich total verschmiert habe.
Als mir letzteres auffällt, schalte ich die Innenkamera ein und werfe einen Blick auf mein Gesicht. Ich sehe absolut grausam aus. Seufzend sinke ich an der Wand auf den Bürgersteig und lasse zu, dass ein paar weitere Tränen über mein Gesicht rollen. Mein Aussehen ist ja sowieso schon zerstört und ich habe keine Ahnung, wie ich es schaffen soll, wieder in das Restaurant zu gehen. Es ist mir unangenehm, auch schon ohne die Tatsache, dass ich mit der verschmierten Schminke aussehe wie ein Zombie. Und ich befürchte, dass ich wieder eine Heulattacke bekomme, wenn ich gleich auch noch Ravenna mit ihrem Freund flirten sehen muss. Also bleibe ich an Ort und Stelle sitzen, um mich erstmal zu beruhigen.
Nach einiger Zeit der Stille, bekomme ich eine Nachricht von Ravenna, in der sie fragt, ob alles in Ordnung ist. Und da das die Frage ist, über die ich so gut wie immer Lüge, fällt es mir nicht schwer, mir eine Ausrede einfallen zu lassen.
Ich habe vergessen, dass ich morgen eine Arbeit schreibe. Ich gehe also ein bisschen früher, um noch zu lernen. Ich wünsche euch aber trotzdem einen schönen Abend.
Ich setze keinen Emoji hinter meine Nachricht und warte auch keine Antwort ab. Stattdessen erhebe ich mich von meinem Plätzchen der Schande und gehe zurück zum Internat.
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