Kapitel 9: In Gefangenschaft
Es dauerte nicht lange, bis Vera jedes Zeitgefühl verloren hatte. Es kam ihr jedenfalls wie eine Ewigkeit vor.
Nun, ihren Schlafplatz schien sie wohl bekommen zu haben, aber das war absolut nicht, was sie sich darunter vorgestellt oder sich gar gewünscht hatte. Im Gegenteil, alle Albträume, die sie jemals über das Schlafen außerhalb ihres eigenen Zuhause gehabt hatte, schienen hier Wirklichkeit zu sein. Gefesselt an Händen und Füßen, auf einem schmutzigen Boden unter einem alten Baum, in Sichtweite zu drei äußerst verdächtigen und unfreundlichen Gestalten. Von denen eine nicht ganz dicht zu sein schien, eine dringend ein Bad benötigte, und der Anführer mit seiner Stimme den Eindruck erweckte, als könne er das, was seine Begleiter ständig androhten, auch tatsächlich tun. Nur weil er es noch nicht tat und stattdessen sogar die beiden anderen davon abhielt, Vera ein Haar zu krümmen, hieß das nicht, dass er nicht noch etwas Schlimmeres mit ihr plante. Wobei sie sich das wirklich kaum vorstellen konnte. Was konnte denn schlimmer sein, als die Klippe runtergeworfen oder mit dem Messer zerschnitten zu werden?
Eine Möglichkeit kam ihr unmittelbar danach in den Sinn: Ewig hier sitzen bleiben zu müssen. Ihre Hände kribbelten und pochten, langsam verlor sie jedes Gefühl in den Fingern. Sie hatte schon alles versucht, was ihr einfiel – sie hatte mit Geschick probiert, ihre Hände vorsichtig aus den Schlingen zu ziehen; sie hatte auch rohe Gewalt versucht, was aber nur zur Folge hatte, dass es noch mehr weh tat. Nicht einmal ihr kleines Überlebensmesser konnte ihr helfen, denn es steckte in einer der Jackentaschen, und da kam sie beim besten Willen nicht heran. Sie hatte auch probiert, mit ihren Fingern den Knoten zu erreichen, mit dem ihre Hände gesichert waren, aber selbst wenn das funktioniert hätte, hätte es sie kaum weitergebracht – sie hatte keine Ahnung von Knoten.
Und langsam wurde Vera wütend. Nicht einfach sauer wie damals auf ihren Vater, sondern dieses Mal richtig wütend. Andere Mädchen in ihrer Situation hätten Angst gehabt und wahrscheinlich geweint und gejammert, aber nicht Vera. Ihre Befreiungsversuche untermalte sie mit immer böserem Knurren und Grunzen, und mehr als einmal gab sie alle Vorsicht auf und zerrte mit aller Gewalt an ihren Fesseln, bis die Schmerzen sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholten. Sie verabscheute diese Situation, in der sie völlig hilflos und der Gnade dieser drei Schurken ausgeliefert war, denn nichts Anderes konnten Johnson und seine zwei Psychopathen sein.
Immer wieder blickte sie zurück zum Feuer, das so weit weg war, dass es ihr keine Wärme spenden konnte, und beobachtete das Trio, wie es sich unterhielt. Dabei konnte sie auch sehen, dass der Riese den Inhalt ihres Rucksacks betrachtete und ihn Johnson zeigte, der einen kurzen Blick hineinwarf und dann etwas Unverständliches murmelte. Der Riese, den die anderen beiden wohl Whitmore nannten, wühlte dann in Veras Rucksack und holte die Schachtel mit den Zuckerriegeln heraus. Doch ein scharfer Ruf von Johnson und eine eindeutige Geste brachten ihn dazu, sie wieder zurückzulegen.
Je länger sie die drei beobachtete, desto mehr zeichnete sich ein Muster ab. Wieder musste sie an die verschiedenen Söldnergruppen denken, die in der Akademie gewesen waren. Die Dawn Serpents, die Dark Wolves und andere Gruppierungen, die in Massen anrückten und jedes Problem mit einem Gewitter aus Laserschüssen zu lösen versuchten, zählten nicht dazu. Eher die kleinen Gruppen, die aus nicht mehr als einer Handvoll Söldner bestanden, deren Fähigkeiten sich so ergänzten, dass sie mit allem fertig werden konnten. An diese Gruppen erinnerte Vera das Trio.
Whitmore war offensichtlich wegen seiner Muskelkraft hier. Mindestens zwei Meter groß, fast genauso breit, und der abgetragene Kampfpanzer spannte sich sehr unter dem Berg von Muskeln. Außerdem kannte sie seinen festen Griff aus erster Hand. Er schien auf jeden Befehl seines Anführers zu hören, doch obwohl Vera ihn nicht als allzu intelligent einschätzte, wirkte er hellwach und aufmerskam. Die Frau Sykes hingegen war schnell, geschickt mit den Händen und machte einen nervösen, abgehetzten Eindruck. Zudem, dessen war sich Vera sicher, konnte sie Kinder nicht ausstehen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit spielte sie mit ihren Messern herum und warf mehr als einmal einen unheilvollen Blick in die Richtung, in der ihre Gefangene angebunden war. Doch es steckte mehr dahinter – so unruhig, wie sich Sykes gab, machte sie den Eindruck, als wäre sie psychisch nicht ganz da.
Und Johnson... Vera wurde aus ihm nicht schlau. Er besaß eine Autorität und ein Charisma, wie sie es selten bei Anführern von Söldnern erlebt hatte. In keinem einzigen Moment schien er die Kontrolle zu verlieren oder nicht zu wissen, was er tat. Wenn seine Begleiter aus der Reihe tanzten, genügte ihm ein scharfer, wortloser Ruf, um sie wieder zur Räson zu bringen. Und obwohl sie es sich ungern eingestand: Vera hatte Angst vor ihm. Er wirkte wie jemand, der seine Probleme eher mit Worten als mit Waffen löste, sich aber nicht zu schade war, beides zu benutzen. Und wenn er eine Drohung aussprach, dann wusste Vera, dass er bereit war, sie mit Taten zu untermauern.
Von den anderen beiden Erwachsenen hatte sie nichts zu befürchten. Nur von ihm.
Plötzlich kam Johnson zu ihr hinüber, den Rucksack mit ihrem Proviant in einer Hand. Vera blickte ihm gespannt entgegen. In der Dunkelheit konnte sie sein Gesicht nicht erkennen, nur seine Körperhaltung deutete darauf hin, was er dachte. Vera bezweifelte, dass seine Absichten gut waren. Aber vielleicht war es nur ihre Furcht, die sie das denken ließ.
Mit einem Plumpsen ließ Johnson den Rucksack direkt vor ihre Füße fallen. Dann kauerte er sich vor ihr hin. Mit dem Feuer hinter sich, sein Gesicht in Schatten getaucht, sah er gespenstisch aus. „Du bist also von zu Hause ausgerissen?" In seiner Frage lag etwas Lauerndes, als würde er etwas ahnen.
Vera starrte ihn an und nickte wortlos. Johnson erwiderte langsam das Nicken.
„Das erklärt auch, warum du soviel Essen dabei hast", stellte er fest. Er klang ruhig, und es lag eine Wärme in seiner Stimme, die Vera überraschte. Vielleicht war er doch nicht so fies, wie sie angenommen hatte. „Du wolltest dich wahrscheinlich eine ganze Weile in der Wildnis durchschlagen. Aber was hättest du gemacht, wenn dir die Vorräte ausgegangen wären?"
Mit jedem Herzschlag befürchtete Vera, dass die Lüge aufflog. Sie war von ihren Eltern zur Ehrlichkeit erzogen worden, und jemanden anzulügen fiel ihr sehr schwer. Doch sie hatte keine Wahl. Wenn Johnson von dem abgestürzten Shuttle erfuhr... und von Tammy... Innerlich fasste sie sich. „Ich weiß es nicht", antwortete sie verschüchtert. „Ich habe nicht darüber nachgedacht."
Johnson seufzte verständnisvoll. Mit einem kurzen Schulterblick sah er sich nach seinen beiden Begleitern um. Auch Vera schaute sich um, als er es tat. Doch ihr Blick währte länger als seiner, und er konnte ihren angewiderten Gesichtsausdruck sehen, als sie beobachtete, wie Whitmore einen Schluck aus einer Flasche nahm, die bestimmt kein Wasser enthielt. Als sie den Anführer wieder ansah, bemerkte sie, dass er schwach lächelte.
„Du hast keine Angst vor den beiden", bemerkte er, halb im Frageton. Als er Vera erwartungsvoll ansah und auf eine Antwort zu warten schien, schüttelte sie stumm den Kopf. „Aber vor mir hast du Angst?"
Sie wollte es nicht zugeben. Doch fast automatisch nickte Vera auf diese Frage. Johnsons Lächeln wurde etwas breiter, es war selbst in der Dunkelheit gut zu sehen. „Na, sieh mal an", meinte er. „Du bist tatsächlich bedeutend klüger, als du gerade tust, nicht wahr?"
Vera sah ihn ratlos an, zuckte mit den Schultern. Was sollte sie darauf antworten? Es machte sie nervös, dass er sie so leicht durchschaute. Doch vielleicht war er für den Charme empfänglich, den Hank Bodderias ihr bescheinigte. Dieses unschuldige Kind-Sein... Auch wenn sie sich selbst dafür verachtete, es war ein Versuch wert. „Bitte", flüsterte sie flehend. „Ich will doch nur nach Hause. Es ist mir egal, was Sie hier machen. Ich werde niemandem davon erzählen. Versprochen!"
„Ich glaube dir", gab Johnson zurück und überraschte sie damit ein weiteres Mal. „Ich meine, was sollst du denn sonst sein, außer einer unwissenden Ausreißerin? Wärst du älter, würde ich vielleicht vermuten, dass du als Söldner oder Spion geschickt wurdest. Aber wie alt bist du, dreizehn?"
Es war eine Falle! Vera war sich sicher. „Zwölf", antwortete sie schnell. Mit Sicherheit kannte Johnson die Gesetze auf dem Planeten, und er wusste bestimmt, dass sie mit dreizehn Jahren unter andere Regelungen fiel und nicht mehr als Kind galt. Die Art und Weise, wie er die Frage gestellt hatte, machte es deutlich – er horchte sie aus. Zum Glück war ihr Geburtstag erst gestern gewesen, sodass ihre Antwort noch glaubwürdig erschien. „Ich bin doch keine Gefahr für Sie. Lassen Sie mich bitte frei!"
Eine Zeitlang schien Johnson darüber nachzudenken. Als er schließlich den Kopf schüttelte, sank Veras Herz in ihre Hose. „Tut mir Leid, Mädchen, aber das Risiko kann ich im Moment nicht eingehen. Nicht so lange unsere Arbeit hier nicht beendet ist."
„Aber..." Vera sah ihn entsetzt an. Wenn er sie nicht gehen ließ, was würde er dann mit ihr tun?
Er stand auf. „An deiner Stelle würde ich mich erst einmal damit abfinden. Du bist von zu Hause weggelaufen. Jetzt musst du damit leben."
Vera schluchzte. Und dieses Mal war es nur zum Teil gespielt. Sie machte einen letzten verzweifelten Versuch: „Wenn Sie mich laufen lassen... dann gehe ich tiefer in die Wildnis, wo mich keiner finden kann. Egal, was Sie hier machen, Sie werden ganz bestimmt damit fertig sein, bevor ich jemandem erzählen kann, dass Sie hier sind."
Nachdenklich sah Johnson auf sie herab. „Das klingt vernünftig", meinte er schließlich. „Ich werde darüber nachdenken." Als er sich umdrehte und zum Feuer zurückgehen wollte, hielt er noch einmal inne. „Ich werde dir eine Decke und etwas zu essen bringen lassen. Bis ich meine Entscheidung getroffen habe, hast du erstmal nichts zu befürchten. Vorausgesetzt, du benimmst dich." In seinen letzten Worten lag wieder der drohende Unterton. Und Vera wäre nicht im Traum eingefallen, ihm da zu widersprechen. Ganz abgesehen davon, dass sie im Moment gar nichts tun konnte.
Einige Zeit verging – für Vera schienen es Stunden zu sein. Doch Johnson hielt sein Wort. Und Vera bemerkte, dass es unter den Gestalten, die sich um das Feuer getummelt hatten, wohl eine gab, die sie bislang nicht zu Gesicht bekommen hatte. Diese war es dann, die mit einer Decke und einer Metallschale, aus der es leicht dampfte, zu ihr herüberkam. Es war ein Junge, kaum älter als sie. Er näherte sich ihr mit schüchternen Bewegungen, und als er sie aus der Nähe sah, stand ihm sein Mund offen und seine Augen starrten sie unentwegt an.
Vera fragte sich, was er da sah. Ein schöner Anblick war sie bestimmt nicht. Ihre Kleidung war von dem Marsch durch die Wildnis kaputt und dreckig, ihr Gesicht voller Schmutzflecken, ihr langes Haar offen und unordentlich, ihre Hände und Füße mit Seilen gefesselt... Sie fand sein Starren unangenehm und räusperte sich hörbar. Das löste den Jungen aus seiner Erstarrung. „Ich habe dir etwas zu essen gebracht", sagte er schüchtern und hielt ihr die Schale hin.
Knurrend meldete sich ihr Magen. Vera sah auf den Inhalt der Schale und schnupperte. Es roch nach fast gar nichts, aber es war heiß und hoffentlich essbar. Sie wandte den Blick zu dem Jungen. „Und?", fragte sie frech. „Soll ich hier sitzen und es anstarren, bis es sich auflöst?"
„Äh..." Der Junge ließ die Decke fallen und setzte sich neben sie. Es war klar, dass ihm die ganze Situation ebenso unangenehm war wie ihr. „Ich hatte hier auch irgendwo einen Löffel..."
Vera räusperte sich erneut, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie ihn an. „Weißt du, die ganze Sache wäre einfacher und weniger peinlich für uns beide, wenn du mich einfach losbinden würdest."
„Oh nein!", antwortete der Junge erschrocken und sah sich um, ob die anderen den Vorschlag gehört hatten. „Das darf ich nicht. Auf keinen Fall!"
Vera seufzte. „Tja, und was jetzt?" Es blieb ja wohl nur eine Möglichkeit. Und wenn er das wirklich tat, dann hatte dieser Tag für sie seinen endgültigen Tiefpunkt erreicht. Dann fiel ihr ein, dass es noch einen anderen Weg gab... und der hieß: hungern.
Der Junge hatte bereits den Löffel hervorgeholt und in der Schale versenkt. Einladend hielt er ihr den vollen Löffel vor den Mund. Kurz starrte sie darauf und zögerte. Es war nicht das Essen, was sie abstieß, im Gegenteil – der dampfende Eintopf wirkte ausgesprochen verlockend. Aber die Erniedrigung, die damit einherging, die störte sie maßlos. „Wenn du jetzt gleich dabei ein Raumschiff nachmachst, dann spucke ich dir alles ins Gesicht", drohte sie.
Der Junge ließ sich nicht beirren und schob ihr den Löffel in den geöffneten Mund. Vera keuchte auf. Mann, war das heiß! „Entschuldige!", sagte der Junge nur, als sie sich beschwerte. Bei dem zweiten Löffel pustete er ein wenig, um es abzukühlen. Vera schluckte auch die zweite Portion herunter. Es schmeckte so, wie es roch, nach ein wenig Salz und künstlichen Aromastoffen, ansonsten nach gar nichts. Doch das war momentan nebensächlich. Hauptsache, sie hatte etwas im Magen. Eine Weile ließ sie sich weiter löffelweise von dem Jungen füttern, obwohl sie eine Menge darum gegeben hätte, die Hände frei zu haben und ohne fremde Hilfe essen zu können.
Doch irgendwann war ihr ärgster Hunger gestillt, und ihr Stolz gewann wieder die Oberhand. Angewidert wandte sie sich von dem Löffel ab. „Was ist das überhaupt für ein Zeug?", fragte sie und verzog das Gesicht. Jetzt, wo sie satt wurde, schmeckte es auch nicht mehr ganz so gut.
Der Junge zuckte arglos mit den Schultern. „Marschration", antwortete er. „Gekocht mit Mais, Soja, Tomnüssen und Lebensmittelzusätzen."
Wieder beschlich sie ein ungutes Gefühl. „Ist da auch Fleisch drin?" Irgend etwas Solides hatte sie beim Essen auf der Zunge gehabt. Aber sie war sich nicht sicher, was es gewesen war.
„Nein, kein Fleisch", beruhigte der Junge sie. „Nur Goldfisch."
Mit Müh und Not gelang es Vera, das Essen bei sich zu behalten. Aber als sie das Gesicht des Jungen sah, war sie der festen Überzeugung, dass er sie nur auf den Arm nehmen wollte. Am Liebsten hätte sie nun ihre Drohung von eben wahr gemacht. Er hätte für diese Gemeinheit nicht weniger verdient. Doch selbst, wenn es stimmte – im Nachhinein betrachtet war das Essen gar nicht so schlecht gewesen.
Der Junge hielt ihr wieder den Löffel hin, doch sie schüttelte den Kopf und lehnte sich etwas zurück, als Zeichen dafür, dass sie genug hatte. Da die Erwachsenen am Feuer keinen einzigen Blick in ihre Richtung warfen oder irgendein Interesse an ihr zeigten, war es vielleicht an der Zeit, selbst etwas herauszufinden. Vielleicht war er etwas gesprächiger. Oder zumindest naiv genug, um auf ihren Charme hereinzufallen. Erst einmal hieß es, dass sie sein Vertrauen gewinnen musste. „Ich bin Vera", sagte sie schließlich zu dem Jungen.
Dieser sah sie verwirrt an, aber er lächelte schließlich. „Ich bin Jesper", antwortete er, nun schon etwas weniger schüchtern.
„Freut mich, Jesper." Der erste Schritt war nun getan. Vera deutete mit einem Kopfnicken in die Richtung des Rucksacks, der gut zwei Schritte von ihren zusammengebundenen Füßen entfernt auf dem Boden stand. „In meinem Rucksack habe ich was, das könnten wir als Nachtisch nehmen."
Jesper sah sich erneut nach den drei Erwachsenen um, aber diese ignorierten die beiden völlig. Unauffällig zog er den Rucksack zu sich heran. „Bist du wirklich abgehauen?", fragte er. Nach dem Klang seiner Stimme zu urteilen, schien er sie zu bewundern.
Und es fiel ihr schwer, ihn anzulügen. Schwerer noch als bei Johnson, der wie ein Raubtier auf einen Fehler von ihr gelauert hatte. „Ich habe es doch gesagt, oder nicht?", gab sie zurück, ohne die Frage tatsächlich zu beantworten.
„Wow!", entfuhr es Jesper beeindruckt. „Du musst ganz schön mutig sein." Er wühlte im Rucksack, und bald hatte er die Schachtel mit den Zuckerriegeln gefunden. Er zeigte sie Vera, und sie nichte zustimmend.
„Mit Mut hat das nicht viel zu tun", erklärte sie ihm dann, um auf seine Bemerkung zu reagieren. „Eher mit Dummheit. Und Langeweile."
Jesper hatte bereits einen Riegel aus der Schachtel gezogen und die Verpackung aufgerissen. Als er hineinbiss, veränderte sich sein Gesichtsausdruck merklich – er schien förmlich zu strahlen. Es musste ewig her sein, dachte sich Vera, dass er etwas Süßes zu essen bekommen hatte. „Was ist mit dir?", fragte sie schließlich. „Warum bist du hier draußen mit diesen Leuten unterwegs? Bist du auch ihr Gefangener?"
Jesper starrte sie entsetzt an. „Nein", entfuhr es ihm. Doch dann ruderte er etwas zurück. „Na ja...", murmelte er. „So wirklich freiwillig bin ich auch nicht hier. Mein Onkel..."
„Hey!", kam plötzlich ein lauter, zorniger Ruf aus Richtung des Feuers. „Du sollst das Mädchen füttern und nich' vollquatschen, du Trottel!" Es war Whitmore, der so brüllte, und sich nun zu seiner vollen Größe erhoben hatte. „Jetzt geh zurück ins Zelt, oder ich verpass' dir ein paar." Auch Sykes hatte sich erhoben und hob drohend eines ihrer großen Messer.
Das Gebrüll hatte auf Jesper eine ziemlich niederschlagende Wirkung. Er blickte Vera an, als wäre er gerade mit eiskaltem Wasser übergossen worden. „Dein Onkel?", fragte sie leise und deutete mit einer Kopfbewegung auf Whitmore. Jesper nickte nur stumm. Den Zuckerriegel verbarg er in seiner Hand, und ohne ein weiteres Wort eilte er zum Feuer zurück. Als er an Whitmore vorbeikam, gab dieser ihm einen Tritt in den Hintern. Es war einfach nur gemein, und Vera fühlte mit ihm. Doch Sykes hatte bereits ihre Aufmerksamkeit auf sie gerichtet.
„Und du, du kleines Miststück!", fauchte sie. „Wenn du nicht den Rest der Nacht mit einem Knebel im Mund verbringen willst, hältst du jetzt besser den Rand!"
Darauf war Vera wirklich nicht erpicht, und sie hielt wohlweislich den Mund. Doch als die Frau ihr wieder den Rücken zudrehte, warf das Mädchen ihr einen vernichtenden Blick zu. Warte du nur, dachte sie sich. Irgendwann bin ich frei und vorbereitet. Dann werden wir uns noch einmal darüber unterhalten, wer von uns beiden hier klein ist. Denn in einer Sache war sie sich absolut sicher: So böse und hasserfüllt sich Sykes gab, und so gerne sie Drohungen in Veras Richtung ausstieß, sie hatte absolut keine Ahnung, mit wem sie es eigentlich zu tun hatte.
Der Gedanke daran, was dann passieren würde, reichte sogar aus, um Vera in ihrer hoffnungslosen Situation ein wenig aufzuheitern.
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