Kapitel 8: Die Fremden
Die Nacht brach langsam über das Gebirge herein, und so langsam begann auch Vera, ihren Mut zu verlieren.
Immerhin, die Beule an ihrem Hinterkopf hatte endlich aufgehört zu pochen. Doch die aufziehende Dunkelheit machte sie nervös, und langsam wurde ihr klar, dass sie es in dieser Nacht wohl kaum an einen sicheren Ort schaffen würde. Sie war sich nicht sicher, ob sie lieber die ganze Nacht durchlaufen wollte, bis sie irgendwann die Zivilisation erreichte, oder sich lieber mitten in der Wildnis einen Platz zum Schlafen suchte. Beide Alternativen gefielen ihr nicht, und so zögerte sie die endgültige Entscheidung so weit wie möglich hinaus.
Doch es wurde immer schwerer, sich in der Dunkelheit zurecht zu finden. Das bisschen Abenddämmerung, das noch übrig war, reichte gerade so, um die Umrisse der Bergkuppen sichtbar zu machen, aber alles andere versank in trüber, gruseliger Düsternis. Und auch wenn Helen für ihre Tochter einen Rucksack voller Reiseproviant zusammengestellt hatte, mit dem sie eine Weltenumwanderung überleben würde – eine Decke oder ein Schlafsack war nicht dabei. Es war nicht wirklich kalt, dennoch fröstelte sie und zog den Kragen ihrer Jacke enger. Sie übernachtete nicht gerne entfernt von ihrem Zuhause, und eine Nacht im unbekannten Land, jenseits aller Siedlungen, war keine schöne Aussicht.
Als der Untergrund immer steiniger wurde, wurde Vera klar, dass sie bald nicht mehr weiter konnte. Im Dunklen war es zu gefährlich, über Felsen oder Anhöhen zu klettern. Sie konnte nicht einmal sehen, ob der dunkle Streifen direkt vor ihr die Ebene oder ein tiefer Abgrund war. Doch gerade, als sie überlegte, wo sie zuletzt einen halbwegs brauchbaren Schlafplatz passiert hatte, sah sie in der Ferne ein schwaches, aber warmes Licht. Orangerot und flackernd erhellte es die Nacht. Und es schien nicht weit weg zu sein. Vera schöpfte wieder Hoffnung und bewegte sich darauf zu.
Anscheinend hatte es doch noch andere Menschen in diesen Teil der Welt verschlagen.
Der Weg dorthin war auch nicht schwer, auf ihm ließ sich fast wie auf einer Straße laufen. Gelegentlich stolperte Vera, aber das lag eher an ihrer Müdigkeit als an einem Hindernis. Bald darauf konnte sie mehr erkennen. Es war ein offenes Feuer, anscheinend ein Lagerfeuer, und sie sah mehrere Schatten, die sich darum bewegten. Das konnten nur Menschen sein! Sie würden ihr bestimmt einen Platz zum Schlafen anbieten können. Vielleicht war sogar der Hund bei ihnen.
Doch je näher Vera diesem Ort kam, desto mulmiger wurde ihr. Und eine innere Stimme schien ihr warnend zuzuflüstern. Was war, wenn es keine freundlichen Menschen waren? Hatte ihr Vater nicht immer gesagt, dass man sich in seinem Beruf auch Feinde machte? Vera schüttelte über diesem Gedanken energisch den Kopf. Sie war dreizehn, sie war zu jung für Feinde. Wer wollte ihr denn schon Böses? Doch das ungute Gefühl blieb. Und ihr kam der Absturz des Shuttles in den Sinn – irgendjemand hatte auf sie geschossen, aus welchem Grund auch immer.
Als sie auf vielleicht hundert Meter heran war, sagte sich Vera, dass es nicht schaden konnte, vorsichtig zu sein. Die nächsten hundert Meter legte sie geduckt zurück und näherte sich einem Felsvorsprung, hinter dem sie unbemerkt das Lager in Augenschein nehmen konnte.
Die Schatten, die sie vorher bemerkt hatte, waren tatsächlich Menschen. Sie konnte zwei erkennen, einen Mann und eine Frau. Die Frau tigerte unruhig von einem Punkt des Lagers zum anderen. Der Mann saß unbewegt am Feuer und schien etwas zu studieren. Vera sah genauer hin, versuchte herauszufinden, wer oder was sie waren. Doch dann stockte ihr der Atem. Die beiden Menschen trugen Waffen! Laserpistolen, wie Vera sie zuhauf in der Akademie gesehen hatte, aber ohne die offensichtlichen Markierungen, die sie als Betäubungsstrahler kennzeichneten. Außerdem konnte sie am Gürtel der Frau die Griffe von mindestens zwei Messern sehen, die groß genug waren, um Vera komplett in zwei Hälften zu schneiden.
Es war keine gute Idee gewesen, hierher zu kommen. Sie musste hier weg!
Vorsichtig kroch Vera langsam vom Felsvorsprung weg und bemühte sich, in der Dunkelheit und im Schatten zu bleiben. Das Rascheln in den Büschen hinter ihr hörte sie zu spät.
Plötzlich wurde sie an ihren Oberarmen gepackt. Hände, so groß wie Bärenpranken, hielten sie in unbarmherzigen Griff, als wäre sie darin festgschweißt. Sie schrie auf, vor Schreck und Entsetzen. Eine tiefe, rauhe Stimme, die sich anhörte, als erklänge sie zwei Meter über ihrem Kopf, dröhnte: „Hab' ich dich!"
Sie hatte keine Chance. Wer auch immer sie gepackt hatte, er drehte sie um und schob sie in die Mitte des kleinen Lagers hinein. Die beiden Erwachsenen sahen sie überrascht an. Sie waren nun nahe genug, dass Vera Details von ihnen erkennen konnte. Und ihr gefiel nicht, was sie da sah.
Die Frau war jung – zwar deutlich älter als Vera und auch älter als Tammy, aber an Helens oder Igors Alter kam sie nicht heran. Dünn und sehnig machte sie den Eindruck, als würde sie nicht viel Nahrung zu sich nehmen. Im Schein des Feuers wirkte ihr langes, ungekämmtes Haar silbrig-blond, doch viel mehr Eindruck machten die Tätowierungen, die auf den nackten Unterarmen und auf den Teilen ihres Halses und der Brust zu sehen waren, den die Kleidung freiließ. Neben den Messern und dem Handlaser, die Vera schon gesehen hatte, waren noch andere scharfe Objekte am Gürtel und an anderen Teilen ihrer Kleidung angebracht.
Der Kerl hinter ihr, der sie geschnappt hatte, hielt sie so fest, dass sie sich kaum zu ihm umdrehen konnte, aber die Eindrücke von ihm, die sie bereits hatte, genügten ihr. Die Hände an ihren Oberarmen waren riesig und mit Flecken überzogen, die Fingernägel ungepflegt. Die Beine hinter ihr steckten in einer schäbigen Hose, und ihr Oberkörper wurde durch den Griff gegen einen gewaltigen Körperpanzer gepresst, der seine besten Tage längst hinter sich hatte. Als sie den Kopf in den Nacken legte, um etwas vom Gesicht zu erkennen, sah sie einen wüsten Vollbart und dahinter eine feiste, fiese Fratze. Am Schlimmsten war jedoch der Geruch: Die Kleidung war seit Langem nicht mehr gewaschen worden, und der Mann stank nach Schweiß, Zigarrenrauch und Schnaps.
Schließlich wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem dritten Erwachsenen zu. Ihr schien das Blut in den Adern zu gefrieren. Und sie wusste nicht einmal, warum. Der Mann war um die Vierzig, machte im Vergleich zu seinen Begleitern einen gepflegten Eindruck, und unter einem zurückweichenden Haaransatz sah sie ein bartloses, grimmiges, aber durchaus intelligent wirkendes Gesicht. Die Kleidung wirkte oft getragen, aber in gutem Zustand, und erinnerte Vera an manche dieser Glücksritter, die sich an der Akademie versucht hatten. Die einzige Waffe, die sie bei ihm erkennen konnte, war der Laser, und er schien mit seiner Körperhaltung nicht gerade geneigt, ihn sofort einzusetzen. All dies hätte sie eigentlich beruhigen müssen.
Doch dann sah sie in seine Augen... und fröstelte erneut. Sie brachte keinen weiteren Ton heraus.
„Was soll das denn?", fauchte die Frau aufgebracht. „Machen wir jetzt einen Kindergarten auf?" Ihre Stimme wirkte wie lange Fingernägel auf verrosteten Stahlplatten. Sie verursachte bei Vera Zahnschmerzen.
„Sie hat uns ausspioniert", erklärte der Riese, der sie gefangen hatte und immer noch festhielt. Zur Bekräftigung packte er Veras Arme noch fester, und Vera entfuhr ein leiser Schmerzensschrei. „Wir können sowas nich' zulassen, oder doch?"
„Nein, können wir nicht", stimmte der andere Mann zu. Vera hatte genug mit Söldnern und anderen Leuten dieser Art zu tun gehabt. Ihr war sofort klar: Er war der Anführer dieser kleinen Gruppe. Er trat einen Schritt näher und musterte sie eindringlich. „Was machst du hier, Mädchen?"
Sie hatte nun mehrere Möglichkeiten, aber die meisten von ihnen waren entweder erniedrigend, unrealistisch oder schlicht und einfach dämlich. Hätte Vera nun auf ihren Instinkt gehört, wäre ihr eine freche Bemerkung über die Lippen gekommen, für die diese drei Leute ihr mindestens eine hinter die Löffel gegeben hätten. Sie sah sich erneut in der Runde um, und ihr wurde eines klar: Das war entschieden der falsche Moment, um die Rotzgöre heraushängen zu lassen. Stattdessen versuchte sie es auf die herzerweichende Tour, die ihr Hank Bodderias für ihre Rolle bei den Trainingsmissionen nahegelegt hatte.
„Bitte", flehte sie und legte ein dezentes Schluchzen in ihre Stimme. „Ich bin alleine und habe mich verirrt. Ich wollte nur einen Platz zum Schlafen suchen."
Die Frau schnaubte verächtlich. „Schwachsinn!", spuckte sie fast aus. „Hier draußen hat niemand was verloren. Die nächste Siedlung ist meilenweit entfernt. Denk dir was Besseres aus!"
„Ganz ruhig!", beschwichtigte der Anführer sie. Aber auch er schien skeptisch. „Du bist ganz schön weit weg von deinem Zuhause, wo auch immer das sein mag. Also, warum bist du hier?"
Vera kamen die Geschichten in den Sinn, die sie gehört hatte. Nicht nur sie war von dem langweiligen Leben auf diesem Planeten genervt und angeödet gewesen, unter der Fuchtel einer Sicherheitsbehörde, die Kindern alles verbot. Es gab viele Kinder, die von ihrem Zuhause ausgerissen waren und versuchten, sich in der Wildnis auf eigene Faust durchzuschlagen. Und nach dem, was sie an Erfahrungen gesammelt hatte, war das eine bessere Ausrede als die meisten anderen Ideen, die sie hatte. „Ich bin von zu Hause weggelaufen", erklärte sie – nicht, ohne an ihrem Schluchzen festzuhalten und auch ein wenig Zittrigkeit zu spielen. „Ich habe es da nicht mehr ausgehalten. Ich wollte einfach nur weg."
„Ich glaub', da können wir helfen, nich' wahr, Johnson?" Der Riese stieß ein hämisches Lachen aus. „Wie wär' es, wenn wir sie einfach über die Klippe schmeißen? Dann sind wir sie los."
„Wir können sie auch vorher aufschlitzen", schlug die Frau vor. In ihren Augen blitzte es gefährlich, und eine ihrer Hände befand sich schon am Griff eines der großen Messer. „Die gibt dann bestimmt keinen Ton mehr von sich."
Das wurde Vera dann doch zuviel. „Was habe ich euch denn getan?", schrie sie aufgebracht. Ihre Rolle als unschuldiges Opfer vergaß sie völlig. „Ich will doch überhaupt nichts von euch! Warum könnt ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen?"
Das Messer blitzte im Feuerschein auf, als die Frau es blitzschnell zog. „Halt die Klappe! Sonst schneide ich dir die Zunge raus", fauchte sie tonlos und hielt Vera die Spitze der gefährlichen Klinge vor das Gesicht. Doch bevor noch etwas passieren konnte, packte der Anführer die Frau am Handgelenk.
„Lass das!", befahl er ihr – und sein Tonfall klang selbst für Vera furchteinflößend. Er sprach ruhig, erhob die Stimme nicht. Aber sein befehlender und drohender Unterton jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. Sie wusste nicht, was das Geheimnis dieses Mannes war. Aber wenn sie vor jemandem in dieser Runde Angst hatte, dann vor ihm. „Du lässt die Finger von ihr, Sykes, solange ich nichts Anderes sage. Hast du das kapiert?"
Einen kurzen Moment schien die Frau zu zögern. Doch dann fügte sie sich. „Wie du meinst", zischte sie und steckte widerwillig das Messer wieder ein.
Wieder wandte sich der Anführer an Vera. „Du bist also weggelaufen? Hast du keine Eltern, die dich vermissen?"
„Nein", antwortete Vera prompt und sah ihn trotzig an. „Meine Mutter kümmert sich nicht um mich, und mein Vater ist ständig in der Galaxis unterwegs, um Geld zu verdienen. Ich bin ihnen völlig egal." Doch in Gedanken leistete sie ihrer Mutter Abbitte, die sich immer rührend um sie kümmerte und sie noch nie im Stich gelassen hatte. Diese Lüge tat ihr fast mehr weh als der Griff des Riesen.
Eine Weile schien der Anführer – Johnson wurde er von den anderen genannt – über ihre Worte nachzudenken. Zumindest so lange, dass der Riese ungeduldig wurde. „Was machen wir mit ihr?", wollte er wissen.
Johnson blickte kurz zu ihm auf. „Ich muss darüber nachdenken. Ihr schafft sie da hinten hin und sorgt dafür, dass sie keinen Unfug machen kann." Mit einem Kopfnicken deutete er die Richtung an, und der Riese schleppte Vera ohne viel Federlesens dorthin. Unter einem Baum am Rand des Lagers, an den mehrere dichte Büsche anschlossen, blieben die beiden stehen.
Vera wusste genau, was Johnson mit seiner Anweisung meinte, und sie verzog das Gesicht. Das hasste sie. Wirklich. Aber es war immer noch besser, als sich von der Frau mit dem Messer abstechen oder aufschlitzen zu lassen. Als der Riese ihre Arme losließ und den Rucksack abnahm, dachte sie an einen Fluchtversuch. Aber da packte er schon ihre Handgelenke und drehte sie auf den Rücken. Plötzlich erinnerte sie sich an die Lektionen aus dem Befreiungskurs. Ihr persönlicher Rekord, aus einer solchen Lage zu entkommen, lag bei zwanzig Sekunden. Diese drei Leute würden noch ihr blaues Wunder erleben. Lange würde sie bestimmt nicht ihre Gefangene bleiben.
Die Frau, Sykes, kam dazu. Vera konnte nicht sehen, was sie hinter ihr machten. Sie spürte nur, wie sich etwas Festes um ihre Handgelenke legte und sie auf dem Rücken festhielt. Doch etwas stimmte nicht. Urplötzlich wurde ihr bewusst, dass sie in gewaltigen Schwierigkeiten war. Es waren keine dieser modernen Handschellen von den Sicherheitsbehörden oder ähnliche Fesseln. Sykes machte es auf die ganz primitive Art und Weise und benutzte ein Seil, um ihre Handgelenke zusammenzubinden. Es war so fest, dass sich das Seil in die Haut ihrer Handgelenke grub, und mit einem brutalen Ruck zog Sykes den Knoten zu. „Autsch!", entfuhr es Vera.
Sie musste sich auf den Boden setzen, und Sykes fesselte mit einem zweiten Seil ihre Fußknöchel aneinander. Es gab kaum jemanden in diesem Teil der Galaxis, der so etwas noch konnte – zumindest niemanden, von dem Vera gehört hatte. Und wären es nicht ihre eigenen Hände und Füße gewesen, die hier so grob behandelt wurden, so hätte sie es vielleicht faszinierend gefunden, wie geschickt die Frau dabei vorging. Es vergingen nur Sekunden, dann war Vera bewegungsunfähig. Grimmig erwiderte sie den feindseligen Blick, den Sykes ihr zuwarf. Ohne ein weiteres Wort gingen die beiden Erwachsenen zu ihrem Anführer zurück und ließen Vera alleine – wohl wissend, dass diese nicht die geringste Chance hatte, ihnen davonzulaufen.
Zwanzig Sekunden, dachte Vera sich nur und zerrte hilflos an ihren Fesseln. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Klar, die Ausbilder an der Akademie hatten es ihr leicht gemacht, und Vera hatte trotz allen Eifers und aller Wissbegierde lieber die Lektionen in Selbstverteidigung geübt als die Befreiungstechniken. Aber wie hätte sie ahnen sollen, dass sie einmal in einer Situation wäre, in der nicht einmal diese Techniken ihr helfen könnten? Was bei den modernen Handfesseln zu ihrem Vorteil gereichte, nämlich, dass sie bei ihren schmalen Handgelenken nicht richtig funktionierten, das half ihr in diesem Moment absolut nicht weiter. Im Gegenteil, es tat gemein weh, und sie spürte bereits ein Kribbeln in ihren Fingern, weil ihre Hände so eng verschnürt waren, dass die Blutzufuhr nicht mehr richtig funktionierte.
Kurz dachte Vera an Tammy, die sie im Wrack des Shuttles zurückgelassen hatte, schwer verletzt und ebenso hilflos, wie sie es nun selbst war. Ihr kamen die Tränen, als sie wieder daran dachte, wie wenig sie für ihre Freundin hatte tun können, und dass sie keine andere Wahl gehabt hatte, als sie im Stich zu lassen. Würde Tammy jemals gefunden werden? Und wenn ja, dann von wem? Hoffentlich nicht von diesen Leuten hier. Doch Vera machte sich auch Sorgen um sich selbst, und was wohl aus ihr werden würde, wenn sie es nicht schaffte, sich zu befreien.
Und so langsam beschlich sie das Gefühl, dass der Hausarrest vor zwei Jahren vielleicht doch die bessere Wahl gewesen wäre.
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