Kapitel 6: Überleben

Am Rand von Veras Bewusstsein schien ein ganz schwaches Licht zu glimmen. Doch der Rest blieb pechschwarze Dunkelheit.

Doch irgendwann begannen sich Fragen in ihre Gedanken zu drängen. Was ist passiert?, fragte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. Wo bin ich? Gefolgt von der weitaus schwerwiegenderen Frage: Bin ich tot?

Bei diesem Gedanken lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken. Immerhin, dies beantwortete ihre Frage – wäre sie tot, würde sie so etwas nicht fühlen können. Zumindest dachte sie sich das. Leben und Tod waren ihr vertraut, trotz ihres behüteten Lebens. Man konnte nicht mit einem Söldner als Vater aufwachsen, der täglich sein Leben riskierte und gegen andere kämpfte, ohne sich jemals über das Thema Sterblichkeit Gedanken zu machen. Sie war sich sicher, dass es bei ihr noch nicht so weit war. Abgesehen von den Schmerzen, die sie langsam, aber sicher spürte, und dem Schwindelgefühl, das nach und nach einsetzte, sodass sie sich bislang nicht traute, die Augen zu öffnen und sich umzusehen. Oder sie war noch nicht weit genug bei Bewusstsein, um die Augen aufzumachen.

Stück für Stück kam sie wieder zu sich, und ihre anderen Sinne meldeten sich. Sie hörte leises Knistern wie von offenen Flammen irgendwo in der Nähe. Es roch nach Rauch und verschmorten Schaltkreisen. Nach einigen Augenblicken spürte sie, dass sie auf dem Rücken lag, unter sich eine harte Oberfläche. An ihrem Hinterkopf pochte es schmerzhaft, und in ihren Handflächen tobte brennender Schmerz. Sie versuchte, ihre Finger zu bewegen, und es gelang ihr auch – aber es tat furchtbar weh. Und sie spürte, wie ihr etwas Warmes, Flüssiges über die Finger lief.

Je mehr sie all dies wahrnahm, desto besser konnte sie sich erinnern, was passiert war. Aber das machte es nicht besser. Denn bei dem Knistern und Zischen im Hintergrund, bei all den merkwürdigen Geräuschen, die sie momentan vernahm, fehlte eines. Ein Geräusch oder ein Zeichen, dass sie hier nicht alleine war...

Sie schlug die Augen auf.

Es war so schlimm, wie sie es sich ausgemalt hatte. Sie blickte zur Decke des Shuttle-Innenraums und bemerkte nach einigen Augenblicken, dass sie irgendwie hinten im Passagierteil gelandet war. Doch viel war davon nicht übrig. Die Beleuchtung war ausgefallen, doch das machte nichts, denn durch gewaltige klaffende Löcher in beiden Seiten des Shuttles strahlte Tageslicht herein. Die Sitze an den Seiten sahen aus, als wären sie in Stücke zerfetzt worden. Die Decke und Wände des Innenraums hatten überall Risse und Löcher, und es hingen Kabel heraus, von denen zeitweise Funken sprühten. Eines der Kabel zischte laut direkt in Veras Nähe, und sie zuckte dabei zusammen.

Als sie sich aufzustützen versuchte, um sich aufrecht hinzusetzen, schrie sie auf – ihre Hände brannten wie Feuer. Sie kam mit etwas Anstrengung dann doch hoch und warf einen Blick auf ihre Handflächen. Bei dem Anblick erschrak sie gewaltig. Ihre beiden Hände waren über und über mit Blut bedeckt. Das war die Flüssigkeit gewesen, die sie an ihren Fingern gespürt hatte. Mit zusammengebissenen Zähnen ballte sie eine Hand zur Faust. Es tat irrsinnig weh, aber sie schaffte es. Gebrochen war anscheinend nichts. Aber als sie die Handfläche wieder öffnete, fühlte sie sich schwindlig, und kurz wurde ihr schlecht. Das lag nicht an ihren Händen, dachte sie sich. Vielmehr dröhnte auch ihr Kopf, und an ihrem Hinterkopf ertastete sie vorsichtig eine stattliche Beule.

Die Kabel zischten und sprühten wieder Funken, und das erschreckte Vera abermals. Urplötzlich wurde ihr bewusst, dass sie hier nicht alleine war. Oder zumindest nicht sein sollte. „Tammy?", rief sie zögernd – ihre Stimme versagte fast bei dem beißenden Qualm, der die Kabine erfüllte, und sie hustete heftig, was ihre Kopfschmerzen verschlimmerte. Dennoch versuchte sie es erneut. „Tammy? Geht es dir gut?"

Als sie keine Antwort erhielt, bemühte sich Vera, wieder auf die Beine zu kommen. Es ging besser, als sie vermutet hatte – im Gegensatz zu ihrem Kopf und ihren Händen waren wohl ihre Beine unbeschadet geblieben, und als sie etwas wackelig auf ihren eigenen Füßen stand, fühlte sie sich schon etwas besser. Aber nicht für lange. Es waren nur wenige Schritte zum Vorderteil des Shuttles, wo das Cockpit unter einer zerborstenen Glaskanzel lag, durch die schwächer werdendes Tageslicht auf eine reglose Gestalt fiel, die mit dem Gesicht voran auf der Kontrolltafel des Shuttles lag.

Entsetzt schnappte Vera nach Luft, als sie dies sah. Sofort begann sie, sich vorsichtig nach vorne zu bewegen, um ins Cockpit zu kommen. Einmal stolperte sie und musste sich mit ihrer verletzten Hand an einem der vorderen Sitze festhalten, was erneut weh tat. Doch das war ihr egal. Sie erreichte den regungslosen Körper ihrer Freundin und stockte. Der Anblick war furchtbar. Tammy hatte die Augen geschlossen, das Gesicht war blutüberströmt. Ihre Hände, die neben ihrem Kopf auf den zersprungenen Kontrollfeldern lagen, wirkten genauso blutig wie Veras. Sie sah aus wie tot, und kein Geräusch von ihr überzeugte Vera vom Gegenteil.

„Oh... Oh Gott!" Vera griff entsetzt nach vorne, wollte Tammy berühren... doch sie hielt inne. Sie hatte Angst, ihre Freundin noch mehr zu verletzen. Aber sie musste doch etwas tun! Es gab sonst niemanden, der hier helfen konnte. Kurz nahm sie all ihren Mut zusammen und tastete nach Tammys Puls...

Tammy stöhnte auf. Vera machte vor Schreck beinahe einen Satz nach hinten und zog die Hand blitzschnell zurück. Doch dann glomm ein kleiner Hoffnungsschimmer in ihr auf. „Tammy?", fragte sie erneut. Mit sichtlicher Anstrengung drehte ihre große Freundin den Kopf. Das Gesicht sah wie eine schauerliche Maske aus, voller Blut und grässlichen Wunden. Die Augen waren wie verschleiert, doch sie sahen Vera dort stehen... und erkannten sie. Erleichtert atmete Vera auf. Es war doch noch nicht alles verloren.

Tammys Mund öffnete sich, und sie gab ein undeutliches Gemurmel von sich – zu mehr war sie nicht in der Lage. Aber als Vera sich vorsichtig nach vorne beugte, konnte sie zumindest ein Wort verstehen: „Medikit."

Es gab tatsächlich eines im Shuttle. Dies gehörte zur Standardausrüstung und war eigentlich in jedem Fahrzeug der Akademie vorhanden. Vera blickte sich suchend um. Sie hatte einmal gesehen, wo es in den Shuttles aufbewahrt wurde, aber es war schon eine Weile her. Und so chaotisch, wie das abgestürzte Shuttle gerade innen aussah, hatte sie nicht viel Hoffnung, es in brauchbarem Zustand vorzufinden. Doch dann erinnerte sie sich wieder. An der Unterseite zwischen der Cockpitwand und dem vordersten Sitz im Passagierteil war eine kleine Klappe. Sie war beschädigt und zur Hälfte geöffnet, und Vera sah durch die offene Klappe das Notfallpaket aufblitzen. Mit viel Mühe gelang es ihr, das Päckchen herauszuziehen.

Dieses enthielt nicht viel, womit sie etwas anfangen konnte, aber vielleicht wusste Tammy ja, was zu tun war. Sie nahm das Päckchen mit nach vorne und legte es geöffnet auf die zerstörte Konsole. Tammys Augen betrachteten es, und nach einiger Zeit zeigte sie mit sehr langsamen, zitternden Bewegungen auf eine Spritze. Vera verstand sofort und nahm sie zur Hand. Es war ein automatischer Injektor, der laut Aufschrift einen starken Schmerzstiller enthielt. Vera hatte noch nie so etwas gesehen oder gar benutzt, doch zum Glück war auf der Oberseite eine Gebrauchsanweisung aufgemalt. So, wie es dort gezeigt wurde, setzte sie den Injektor an Tammys Hals an und drückte den Auslöser. Mit einem leisen Klick war das Schmerzmittel verabreicht. Schnell zog Vera den Injektor zurück – nicht, dass sie doch noch etwas falsch machte...

Es wirkte nicht. Zumindest nicht sofort. Doch nach einigen bangen Herzschlägen schien Tammy sich etwas zu entspannen und einen langen Atgemzug auszustoßen, den sie anscheinend lange in sich aufbewahrt hatte. Vera betrachtete sie sorgenvoll, jederzeit bereit, noch etwas zu tun, wenn Tammy nur den Befehl dazu gab oder sie zumindest darum bat. Doch es kam keine Bitte, keine Anweisung. Und als Tammy wieder die Augen schloss, befürchtete Vera das Schlimmste. „Nein, Tammy!", flehte sie, den Tränen nahe. „Bleib bei mir! Du kannst nicht einfach aufgeben!"

Fast unmerklich verzogen sich die Lippen in Tammys geschundenem Gesicht zu einem schwachen Lächeln. „Keine... Angst", flüsterte sie schwach. „Ich... bin... noch da." Jedes einzelne Wort bereitete ihr große Mühe, und Vera hätte am Liebsten ihre Hand gehalten, um sie zu trösten. Nur der Anblick der verletzten, blutenden Hände ihrer Freundin, und dann auch ihrer eigenen Verwundungen, hielt sie davon ab. Es war wahrscheinlich keine so gute Idee.

Doch ihr fiel etwas anderes ein. Sie ging wieder zurück in den hinteren Teil des Shuttles. Ihr Rucksack lag auf dem Boden – an einem Gurt leicht angerissen, und mehrere Rußflecke auf der Oberfläche, aber er war ansonsten intakt. Und als sie ihn öffnete, sah sie, dass der Inhalt völlig unbeschädigt war. Sie holte die Dose mit der Geburtstagstorte heraus und lief zu Tammy. „Sieh nur!", rief sie. „Das habe ich dir mitgebracht. Die wollte ich zusammen mit dir essen." Bleib bei mir!, dachte sie verzweifelt. Ich tue alles für dich, wenn du nur bei mir bleibst.

Wieder hatte Tammy die Augen geschlossen, und ihr Atem ging sehr schwach. Vera wagte es nun tatsächlich, nach dem Puls zu fühlen. Er pochte fast unmerklich, aber er war da. Doch wie lange noch? Jeder Atemzug von Tammy wirkte so, als konnte er der letzte sein. Der Anblick ihres reglosen, wunden Gesichts jagte ihr Angst ein. Sie war ihre beste Freundin... es konnte so nicht enden... „Hörst du mich?", rief sie laut und schluchzte. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten... es war einfach zu viel. „Tammy, halte durch! Du wirst wieder gesund."

Langsam bewegte sich Tammys eine Hand und griff nach ihrer. Sanft umklammerte sie Veras Finger, die nicht so verletzt waren. Vera blickte in ihr Gesicht und sah, dass Tammy ihre Augen wieder öffnete. „Sei... stark!", flüsterte diese. „Hol... Hilfe!"

Vera wollte nicht. Sie wollte Tammy nicht im Stich lassen. Unter Tränen schüttelte sie den Kopf, doch Tammys Griff um ihre Finger wurde fester. „Geh!" Ihr Flüstern hatte den harten Klang eines Befehlstons angenommen. Und mit einem weiteren Druck ihrer Finger machte sie Vera klar, dass es keine Alternative gab. Und Vera wusste es. Hier konnte sie nichts tun. Das Shuttle war zerstört, die Energieversorgung hinüber, sämtliche Instrumente und Kontrollfelder lagen in Trümmern. Mit dem Kommunikator konnte sie keine Hilfe herbeirufen, und um Tammy zu verarzten, fehlten ihr jegliche Kenntnisse. Warum nur haben sie meine Zeit mit diesen Befreiungsübungen verschwendet?, dachte sie bitter. Warum habe ich keine Übungen über das Versorgen von Wunden gemacht? Sowas ist doch viel wichtiger!

All diese Gedanken halfen nicht und änderten nichts an der Tatsache. Und was noch viel wichtiger war: Sie wusste nicht, weshalb sie so plötzlich abgestürzt waren, aber es war bestimmt kein einfacher Unfall gewesen. Die Schläge, die das Shuttle erzittert hatten, bevor Vera das Bewusstsein verloren hatte... war dies ein Angriff gewesen? Wahrscheinlich. Die Schäden an den Seiten des Shuttles rührten bestimmt nicht nur vom Absturz her. Waren sie beschossen worden? Gut möglich.

War derjenige, der auf sie geschossen hatte, vielleicht in der Nähe?

Tammys Augen hatten sich wieder geschlossen, und dieses Mal hatte Vera das Gefühl, dass sie sich nicht erneut öffnen würden. Doch sie atmete weiter, wenn auch schwach, und auch beim erneuten Tasten spürte Vera einen regelmäßigen Puls. Sie zögerte immer noch, doch sie musste den Tatsachen ins Auge sehen. Hier konnte sie nichts tun. Und es gab hier niemanden, der etwas tun konnte. Sie hatten hier nur eine Chance – und Vera nur noch eine einzige Aufgabe. Einen einzigen Befehl.

Vorsichtig drückte sie Tammys Hand und wischte sich mit dem Rücken der anderen Hand die Tränen aus dem Gesicht. „Ich bin bald zurück, mit Hilfe", versprach sie. „Halte durch, Tammy! Ich bin bald zurück."

Bei dieser letzten Geste hatte sie das Gefühl, dass Tammys Finger ganz schwach, fast unfühlbar, den Druck erwiderten, als hätte sie verstanden. Und Vera fasste neuen Mut. Es war Zeit, sich der Realität zu stellen. Es war Zeit, sich der Herausforderung zu stellen. Es gab niemanden sonst, der nun etwas unternehmen konnte. Jetzt lag alles bei ihr.

Sie holte ihren Rucksack und schulterte ihn, wobei sie erneut das hohe Gewicht der vielen Essensvorräte spürte und laut aufkeuchte. Kurz überlegte sie, dann nahm sie den Rucksack wieder ab und stellte ihn auf den Boden des Shuttles. Ohne den ganzen Kram würde sie schneller sein und Hilfe holen können. Und wenn sie auf jemanden stieß, der ihr feindlich gesinnt war, konnte sie ohne das schwere Gepäck deutlich schneller entkommen. Mit einem letzten tiefen Atemzug, mit dem sie ihr klopfendes Herz zu beruhigen versuchte, kletterte sie schließlich durch die zerstörte Seitenwand ins Freie.

Und blickte sich um. Ihr eben noch gesammelter Mut verflüchtigte sich bei dem Anblick.

Das Shuttle war auf einer erhöhten Ebene abgestürzt, von der sie ein weitläufiges Tal überblicken konnte. Nach drei Seiten hin erstreckten sich zerklüftete Ebenen und kleine Waldstücke, und die vierte Seite hinter ihr war eine unpassierbare mauerähnliche Felsformation, die mehrere Kilometer breit war und ihr den Weg abschnitt. Die Wälder wirkten klein und unscheinbar, die felsigen Ebenen leer und trostlos, obwohl eine warme Nachmittagssonne auf sie schien. Nirgendwo sah Vera einen Anhaltspunkt, wo sie Hilfe finden würde. Es gab keine Siedlungen in dieser Region – keinen Hof, keine Basis, kein übrig gebliebenes Kolonieschiff der Menschen. Die rohe, unberührte Wildnis von Geshtachius Prime strahlte ihr entgegen, und es kam ihr in diesem Augenblick tatsächlich so vor, als wäre sie auf der Oberfläche eines völlig fremden Planeten gestrandet. Von ihrer Position aus konnte sie in fast alle Richtungen meilenweit sehen, und sie fand nichts, was ihr Hoffnung geben konnte.

Seufzend drehte sie sich um und holte ihren Rucksack.


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