Kapitel 22: Nie ohne Belohnung
Sie flogen zur Akademie zurück.
Vera flog im vordersten Shuttle mit, während ihr Vater das zweite Shuttle mit dem Gefangenen an Bord steuerte. Dies war eine Aufgabe, die er seiner Tochter gerne abnehmen wollte, vor allem, da es für sie ohnehin keine Zeit gab, um in Ruhe miteinander zu reden. Ihr machte es nichts aus. Die anderen Söldner versuchten, sich so professionell zu verhalten, wie es ihnen möglich war, aber „Pinch" spürte die Atmosphäre der Ehrfurcht, die sich über das Shuttle gelegt hatte, und die Söldner sahen sie alle mit neu gewonnenem Respekt an. Kaum einer sprach ein Wort, aber jeder von ihnen zeigte, was er vom Erfolg der jüngsten Söldnerin der Akademie hielt.
Es gab jedoch andere Dinge, um die sich „Pinch" kümmern musste. Sie nahm auf dem Sitz des Kopiloten Platz und nahm mit dem Kommunikator Kontakt zur Akademie auf. „Hier ist Pinch", gab sie durch. „Sind auf dem Weg zurück zur Basis. Ich brauche einen Lagebericht."
Es war Jackson, der sich am anderen Ende meldete. Er klang unheimlich erleichtert, wenn auch leicht angesäuert, weil sie sich heimlich auf den Weg gemacht hatte. „Hier Basis. Hallo, Pinch! Schön, wieder von dir zu hören."
„Hallo, Jackson." „Pinch" gestattete sich ein kleines Lächeln. „Wir haben die Mission erfolgreich abgeschlossen. Johnson ist in Gewahrsam. Ich glaube, er braucht einen Sanitäter, wenn wir ankommen."
„Geht in Ordnung, ich sage den Medics Bescheid", gab Jackson zurück. „Was ist mit dir? Bist du verletzt worden oder sonstwie angeschlagen?
„Pinch" zuckte die Achseln. „Ich werde es überleben", meinte sie leichthin. Sie fühlte sich nicht gerade wie das blühende Leben, nach allem, was in den letzten Stunden passiert war, doch sie machte sich darüber keine weiteren Gedanken. Es war vorbei. Jackson am anderen Ende der Leitung sah das jedoch anders.
„Ich schicke dir auch einen Medic, der dich mal gründlich durchcheckt", antwortete er, und seine Stimme klang, als ob er keinen Widerspruch duldete. „Du wurdest gerade erst im Medizentrum auf die Beine gebracht. Bevor du uns noch umfällst, wenn du aus dem Shuttle steigst..."
„Das hat Zeit!", unterbrach „Pinch" ihn. „Ich brauche einen Lagebericht. Hat die Eingreiftruppe die anderen Verbrecher einkassieren können?"
„Darüber reden wir, wenn du wieder zurück bist", wehrte Jackson energisch ab.
Damit wollte „Pinch" sich nicht abspeisen lassen. „Jackson..."
„Nix da!", kam es bissig aus dem Kommunikator zurück. „Weißt du eigentlich, was du uns hier für Nerven gekostet hast? Du bist nicht nur einfach abgehauen, sondern auch noch in die Waffenkammer eingebrochen, hast Eigentum der Akademie mitgehen lassen – was das Pferd mit einschließt – und hast dich unbefugterweise auf Kampfhandlungen mit Verbrechern eingelassen. Wenn es nach mir ginge, würde man dich für die nächsten drei Jahre einbuchten."
Man würde es zumindest versuchen, grinste „Pinch" in einem Anflug von Selbstvertrauen in sich hinein. „Und das alles wäre überhaupt nicht nötig gewesen, wenn einer von euch Schwachköpfen mir mal vernünftig zugehört hätte, ohne meine Geschichte als Traum abzutun", erwiderte sie. „Mal ganz nebenbei, was ist aus diesem Lieutenant Garrett geworden?"
„Garrett?" Jackson war von der Frage überrascht. „Ähm... er wurde betäubt und angekettet im Kommunikationsraum gefunden. Und jemand hatte eine Aufzeichnung eines Gesprächs bei ihm deponiert, in dem er jemandem befohlen hatte, die Kinder aus dem Weg zu räumen. Aber woher..."
„Woher ich das weiß?" „Pinch" rollte genervt mit den Augen. „Weil ich nicht vollkommen bescheuert bin, deswegen weiß ich das. Ihr habt ihn also?"
„Die planetare Sicherheit hat ihn", erklärte Jackson. „Seargeant Hammond war sehr schockiert, als er davon erfahren hatte. Er will dafür sorgen, dass Garrett der Prozess gemacht wird. Beihilfe und Anstiftung zum Mord an Kindern ist schon eines der schwersten Verbrechen hier, aber da er gleichzeitig der Korruption beschuldigt wird, glaube ich nicht, dass wir ihn jemals wiedersehen werden." Den letzten Satz sprach er mit einer gewissen Genugtuung aus.
Das konnte „Pinch" nachvollziehen. „Hoffentlich kommt er damit nicht zu glimpflich davon", murmelte sie.
Jackson beruhigte sie: „Hammond wird sich darum kümmern. Der Mann hat selber zwei Kinder und versteht bei so etwas überhaupt keinen Spaß." Kurz wurde die Verbindung unterbrochen, als er den Kanal stumm schaltete, doch dann war seine Stimme wieder zu hören. „Die Eingreiftruppe ist auf dem Weg nach Hause. Wenn du hier angekommen bist, will Hank dich unbedingt sehen. Dann kannst du dir auch deinen Lagebericht abholen."
„Na schön." „Pinch" sank enttäuscht im Kopilotensitz zurück. „Dann richte Hank wenigstens aus, dass ich ihn um ein paar Gefallen bitten muss, wenn ich wieder da bin."
„Lustig, so etwas Ähnliches meinte Hank auch zu mir", entgegnete Jackson, und seine Laune schien etwas besser zu werden. „Ich überfliege hier gerade die ersten Berichte von der Eingreiftruppe. Weißt du, mich würde es nicht einmal überraschen, wenn man aus deinen Erlebnissen ein Buch machen würde. Wir sehen uns zu Hause. Akademie Ende."
Es war viel los auf dem Landefeld. Die Eingreiftruppe um „Waesti" kehrte einige Minuten vor den beiden Shuttles mit „Pinch" und Igor zurück. Als „Pinch" aus dem gelandeten Shuttle ausstieg, sah sie noch einen Transporter des Medizentrums abheben und Richtung Coock City fliegen. Zufrieden nickte sie. Wen auch immer „Waestis" Leute mitgebracht hatten, er war jetzt in guten Händen.
Was sie von sich nicht behaupten konnte. Wie Jackson angedroht hatte, warteten bereits die Sanitäter auf sie. Kaum war das Gewusel um sie herum einigermaßen zum Erliegen gekommen, wurde sie von allen Seiten belagert. Mit Geräten wurde sie untersucht, ihre angeschlagene Lippe verarztet und jede noch so kleine Stelle, die nicht völlig in Ordnung an ihr war, mit sorgenvollen Blicken registriert und in irgendeiner Form behandelt. Sie war schon froh, dass die Medics nicht beschlossen, sie direkt ins Medizentrum zu fliegen oder sie an Ort und Stelle auf eine Krankenbahre zu verfrachten.
Hank war der Nächste, der mit Jackson über das Landefeld gestürmt kam und sie in Beschlag nahm, kaum dass die Medics mit ihrer Arbeit fertig waren. Der Leiter der Akademie sah nicht sehr glücklich aus. „Du hast uns einen gewaltigen Schrecken eingejagt, junge Dame", teilte er ihr streng mit. „So einfach zu verschwinden, und dann auch noch mit dem Nachschub-Transporter!"
„Die Waffen und Ausrüstung nicht zu vergessen, die sie geklaut hat", erinnerte Jackson ihn und sah auch ziemlich finster drein. „Pinch" sah ihn an und zog eine Augenbraue hoch. So nachtragend kannte sie ihn gar nicht.
Hank war momentan ohnehin nicht mehr zu stoppen. Sein energetisches Auftreten, wenn er gute Laune hatte, war „Pinch" sehr wohl bekannt. Doch wenn er schlechte Laune hatte, wirkte er, als hätte man ihn wie einen Brummkreisel aufgezogen und losgelassen. „Wir haben die ganze Akademie nach dir abgesucht. Und als uns klar war, dass du verschwunden warst..."
„Ich übernehme die volle Verantwortung", erklärte „Pinch" ihm ruhig und unterbrach damit seinen Redefluss. „Hank, ich weiß, dass ich gegen die Vorschriften verstoßen habe, und es tut mir leid, dass ich euch alle in Aufregung versetzt habe. Aber ich hatte keine andere Wahl."
Sie hatte mit noch mehr Vorwürfen und Gemecker seitens Hank Bodderias gerechnet. Doch ihre Worte brachten ihn ganz plötzlich zum Verstummen. Er starrte sie nur noch an und wusste nicht, was er sagen sollte. So ähnlich wie zu Beginn ihrer Mission, als sie über ihr Honorar verhandelt hatten. Was sie da gerade auf eine Idee brachte... „Nebenbei, wo ist mein Geld?", fragte sie spitzbübisch.
Das war für Hank endgültig zuviel. Er brachte keinen Ton mehr heraus. Seine Hände und Augen zuckten in alle Richtungen, in unvollendeten Gesten ohne rechte Bedeutung. Jackson hingegen, der immer noch sehr grimmig wirkte, zog schließlich einen Creditchip aus seiner Jackentasche. „Ich denke, der hier ist für dich, Vera." Beinahe widerwillig drückte er ihr den Chip in die Hand.
„Pinch" warf einen kurzen Blick auf das winzige Display, um die Summe zu überprüfen. Sie stutzte... sah noch einmal hin. „Fünfhundert?", fragte sie dann ungläubig, als sie die Zahl sah.
„Ein Bonus für all die Umstände. Und die gute Arbeit, die du geleistet hast", erklärte Jackson. Allerdings fügte er noch hinzu: „Nicht, dass du so etwas verdient hättest, wenn es nach mir geht..."
„Schon klar, ich gehöre deiner Meinung nach in den Knast", murrte „Pinch". Hank beruhigte sich allmählich, und so konnte sie ihn auf das ansprechen, was sie seit dem Rückflug beschäftigte: „Ich hätte da etwas, um das ich dich zusätzlich bitten möchte, Hank. Ein Gefallen, wenn du so willst, aber er kommt auch der Akademie zugute..." Und sie erörterte ihre Idee. Hank hörte dieses Mal aufmerksam zu – vielleicht hatte er ja aus seinen Fehlern gelernt. Als sie fertig war, tauschten er und Jackson einige Blicke aus.
„Das lässt sich bestimmt irgendwie einrichten", brummte Jackson nachdenklich. „Aber was das für dich bedeutet, ist dir hoffentlich auch klar, Vera. Oder?"
„Es bedeutet vor allem, dass ihr mich von jetzt an Pinch nennen dürft", antwortete „Pinch" und grinste. „Hank, du kannst den Namen gerne ins Verzeichnis eintragen. Den passenden Anzug habe ich ja schon dafür."
Erleichtert nickte Hank. Wahrscheinlich war er einfach nur froh, dass ihm „Pinch" dafür nicht den Kopf abriss. „Das machen wir so. Und auch deinen Vorschlag bekommen wir hin."
Die beiden verließen sie, aber kaum hatten sie sich umgedreht, kam „Waesti" auf „Pinch" zu. „Da bist du ja. Ich soll dir etwas ausrichten von jemandem, den wir im Feld aufgesammelt haben."
„Pinch" sah zu „Waesti" hoch, auch wenn es nicht einmal eine Kopfgröße war, die zwischen ihnen beiden an Unterschied bestand. Braungebrannt mit schwarzen Haaren und einem dünnen Backenbart wirkte der Söldner tatsächlich deutlich jünger, als er war. Sie mochte ihn, weil er sehr viel Humor hatte und immer für einen Spaß zu haben war. Jetzt wirkte er jedoch sehr ernst. Fast schon zu ernst. „Ist etwas nicht in Ordnung?"
„Nein, nein, alles klar", versicherte „Waesti" ihr. „Hier, das hier soll angeblich dir gehören. Und das hier soll ich dir von... wie hat er es ausgedrückt? Von einem Freund geben."
Er drückte ihr zwei Gegenstände in die Hand. Der erste Gegenstand war ihre eigene Laserpistole – sie hatte sie im Kampf gegen Whitmore fallenlassen und vergessen, wieder einzusammeln. Der zweite Gegenstand hingegen war ein kleiner roter Stoffbeutel. Was darin war, konnte „Pinch" nur erahnen. Aber es überraschte sie ungemein. „Wie geht es diesem Freund?", fragte sie dann, in der Hoffnung, nicht allzu besorgt zu klingen.
„Waesti" zuckte die Achseln. „Ganz schön mitgenommen. Aber zäh. Erinnert mich irgendwie an jemanden." Er zwinkerte ihr zu. „Er hat mich außerdem gebeten, dir etwas zu sagen. Er meinte, er würde es verstehen und sei dir nicht böse. Er hofft, dass ihr euch trotzdem irgendwann mal wieder über den Weg lauft."
„Pinch" blickte in die Richtung, in die der Medi-Transporter abgeflogen war, und streckte sich in Gedanken dorthin aus. „Das lässt sich bestimmt einrichten", murmelte sie, aber mehr zu sich selbst. „Danke, Waesti. Wir sehen uns später. Ich muss noch einige Dinge klären."
„Ist gut." Der Söldner machte sich ebenfalls auf den Weg und ließ „Pinch" zum ersten Mal seit der Landung etwas Luft. Zumindest genug, um einen kurzen Moment nachzudenken. Es gab sehr vieles, über das sie nachdenken wollte.
Nachdem das mit Hank geklärt war, würde sich für sie tatsächlich einiges ändern. Einige offene Fragen blieben allerdings noch. Zum Beispiel, was aus Jesper werden würde, wenn er wieder gesund war. Was mit Thor passieren würde, nachdem er aus dem Institut geflohen war. Wie man Jennys und Taylors Onkel dazu bringen konnte, sich etwas mehr um die Zwillinge zu kümmern und zumindest dafür zu sorgen, dass jemand für sie da war. Was aus Vanna und Butter werden würde. Und wie es nun mit ihrem, Veras, Leben weitergehen sollte. „Pinch" war klar, dass sie auf die meisten dieser Fragen keine Antwort erwarten konnte, und dass auch niemand von ihr erwartete, selber die Antwort zu finden. Doch nach allem, was sie erlebt hatte und was die Kinder für sie getan hatten, und bei allem, was sie im Moment empfand, konnte sie nicht anders. Sie fühlte sich verantwortlich, und sie wollte etwas für sie tun. Nicht nur etwas – sie wollte alles tun, was sie nur konnte, um ihnen zu helfen. Und die letzte ihrer Fragen war ohnehin die wichtigste – sie musste sich darüber klar werden, was in ihrem Leben nun geschehen sollte.
Ein Räuspern ertönte hinter ihr, das sie sehr gut kannte. Sie fuhr herum. Ihr Vater stand nur wenige Meter entfernt und deutete mit einem Daumen auf das Shuttle, mit dem er gekommen war. „Sie transportieren gerade Johnson ab", erzählte er.
„Pinch" nickte ausdruckslos. „Gut." Dann sah sie ihren Vater an. Sie fühlte sich seltsam. Sie spürte, wie die vielen unausgesprochenen Dinge, die zwischen ihnen lagen, immer lauter zu werden schienen. Sie spürte jedoch auch, wie die Ähnlichkeit, die zwischen ihnen herrschte und der sie sich immer mehr bewusst wurde, wie eine magische Anziehungskraft auf sie wirkte. Sie merkte es vor allem daran, dass Igor einfach kein weiteres Wort sprach, obwohl sie in seinen Augen sehen konnte, dass er so vieles sagen wollte. Ihr ging es genauso.
Langsam gingen sie aufeinander zu, bis sie auf Armlänge voreinander stehen blieben. Sie blickten sich in die Augen. „Pinch" musste dafür ihren Kopf etwas in den Nacken legen, aber das merkte sie in diesem Moment nicht einmal. Igor sah sie aus größerer Höhe an, aber er sah nicht auf sie herab. Nicht so, wie er es früher getan hatte, wie ein Vater sein Kind ansah. In seinen Augen standen tausend Dinge, die sie wie in einem Buch lesen konnte. Sie konnte auch lesen, dass er sie ebenfalls verstand, indem er nur ihr Gesicht betrachtete. Und eines wurde ihr klar: Sie kannten sich beide schon „Pinchs" ganzes Leben lang, und sie konnten sich gegenseitig besser einschätzen und verstehen, als sie es mit jedem anderen Menschen in ihrem Leben konnten. Dies war nur das allererste Mal, dass es wirklich funktionierte.
Wortlos streckte Igor ihr schließlich die Hand entgegen. „Pinch" ergriff sie, fühlte den warmen, festen Druck, fühlte gleichzeitig all den Stolz und den Respekt, den er für sie in diesem Moment empfand. Ein Gefühl, dass Igor Lippson nicht in Worte hätte fassen können, wenn er einhundert Jahre Zeit und alle Wörterbücher der Galaxis gehabt hätte. Als er ihr die Hand gab, wandte er seinen Blick nicht von ihr ab. Und so konnte sie sehen, wie es in seinen Augen verdächtig blinkte und seine Mundwinkel zuckten, in einer von Herzen kommenden Reaktion, die er aber nicht offen zeigen wollte. Seine Hand hielt ihre umschlossen, fest, aber nicht schmerzhaft, und doch so, als wollte er nicht mehr loslassen.
Schließlich tat er es doch. Mit einem letzten Nicken, das nur eine letzte Bestätigung seiner Anerkennung war, drehte er sich wieder um und ging weg. Zumindest ein paar Schritte. „Paps?", rief „Pinch" ihm hinterher. Er drehte sich um, blickte sie erwartungsvoll und fragend an.
In der nächsten Sekunde fiel sie ihm um den Hals.
Sie war von sich selbst überrascht. Sie zeigte solche Gefühle nie, schon gar nicht in der Öffentlichkeit, und vor allem nicht im Beisein aller Söldner, mit denen sie täglich zusammen arbeitete. Doch nun war ihr das alles vollkommen egal. Ihr war klar, dass sie diese Umarmung seit einer Ewigkeit in sich aufbewahrt hatte, und dass diese Mission, dieses Abenteuer dazu nötig gewesen war, um sie endlich rauszulassen. Und Igor erwiderte sie ohne Zögern, als hätte auch er lange darauf gewartet. Eine gefühlte Ewigkeit hielten sie sich gegenseitig in den Armen - nicht länger wie zwei Söldner, die sich gegenseitig verstanden und respektierten. Sondern dieses Mal so, wie es von vornherein sein sollte: wie Vater und Tochter, liebevoll vereint.
Diese Umarmung endete auch irgendwann, als ihnen schließlich doch klar wurde, dass sie vielleicht jemand dabei beobachten konnte. „Ich hätte nie an dir zweifeln sollen", entschuldigte sich Igor schließlich und wischte sich dabei verstohlen eine Träne aus den Augenwinkeln.
„Pinch" schüttelte den Kopf. „Ich verstehe, warum du gezweifelt hast. Jetzt verstehe ich es." Und sie verstand wirklich. Sie verstand, was Igor ihr hatte sagen wollen, als er sie davon abgehalten hatte, auf die Rettungsmission zu gehen. Die Dinge, die er erlebt hatte, und die Schrecken, die er mit ansehen musste, waren an ihr nur ganz knapp vorbeigeschrammt. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte die Kinder nicht mehr retten können. Vielleicht wäre sie selbst dabei gestorben. Oder sie hätte den Kampf gegen diese drei Verbrecher verloren und hätte so ein gewaltsames Ende gefunden. Vielleicht wäre es nicht einmal das Schlimmste gewesen. Viel schlimmer hätte es sein können, wäre durch ihre Hand einer dieser Leute gestorben. Auch wenn Johnson und seine Kumpane wahrhaft üble Gesellschaft waren, die es vielleicht verdient hatten, so hatte gerade Johnson durchaus Recht gehabt: Sie hätte mit dieser Schuld leben müssen. Und das war ein wirklich schrecklicher Gedanke.
Ihr kam ein ganz anderer Gedanke. „Mama wird mich umbringen", murmelte sie, als ihr klar wurde, dass ihr Verschwinden von letzter Nacht noch jemand ganz anderen betroffen hatte.
Igor seufzte. „Ja, deine Mutter ist bei so etwas sehr empfindlich", meinte er. „Weißt du was, auf dem Weg nach Hause kaufst du ihr irgendwas Schönes. Blumen funktionieren in solchen Situationen gut."
„Na, sie wird doch sofort merken, was los ist, wenn ich plötzlich mit einem Strauß Blumen vor ihr stehe", gab „Pinch" zu bedenken. „Außerdem, sowas funktioniert doch nur bei dir."
„Das weißt du erst, wenn du es probiert hast", entgegnete Igor lachend. „Mal ganz nebenbei: Woher hattest du eigentlich den Code?" Er deutete auf die Waffe, die mittlerweile wieder in „Pinchs" Halfter steckte.
„Pinch" legte den Kopf schief, als sie ihn ansah. „Paps, ich bin nicht völlig blöd! Ich meine: P-I-N-C-H als Zahlencode ist nicht wirklich originell."
Igor seufzte. „Weißt du, ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass du ohnehin von alleine darauf kommen würdest. Vielleicht hätte ich Hank nicht dazu überreden sollen, den Kampfanzug für dich machen zu lassen."
„Nein, der Kampfanzug ist super!" „Pinch" schüttelte energisch den Kopf und zupfte die Jacke zurecht. „Er hat gut funktioniert. Das waren die besten Geburtstagsgeschenke, die ich jemals bekommen habe."
„Dann müssen wir uns nächstes Jahr mal etwas richtig Originelles einfallen lassen", stellte Igor brummend fest.
Darauf sah ihn „Pinch" lauernd an. „Wie wäre es mit einem Hund?" Sie fand, dass dieses Thema noch nicht endgültig vom Tisch war. Ihre Eltern hatten auch die ein oder andere Sache ihr gegenüber gutzumachen.
Und tatsächlich wehrte Igor nicht direkt ab. „Ich denke darüber nach", antwortete er. „Unter einer Bedingung."
„Die wäre?" „Pinch" wartete gespannt.
Igor blickte streng auf sie herunter. „Du machst sowas nie wieder..." Als seine Tochter wieder mit den Augen rollte, machte er eine kurze bedeutsame Pause. Sie sollte alles hören, was er zu sagen hatte. „... ohne vorher eine vernünftige Belohnung ausgemacht zu haben."
Da war es wieder. Dieses typische Söldner-Verhalten. „Pinch" starrte ihn grimmig an. Das war genau die Einstellung, nach der auch Johnson vorgegangen war. Aber ihre Wut verflog, als sie verstand. „Es geht nicht um Geld, oder?"
„Nein, es geht nicht um Geld", bestätigte Igor. „Es geht darum, dass du dein Leben nicht sinnlos verschleudern sollst. Dass du immer abwägen musst, ob die Sache das Risiko wert ist, das du eingehst. Sei es Geld, seien es Edelsteine oder das Leben von Menschen, die dir etwas bedeuten. Nur so kann ein Söldner in diesem Geschäft überleben."
„Nun, da bin ich beruhigt", erklärte „Pinch". „Für einen Augenblick dachte ich, dass du mich zu einem dieser gewissenlosen, geldgierigen Söldner machen willst, die in abgelegenen Tunneln nach Schätzen suchen und jeden umbringen oder zumindest bedrohen, der ihnen in die Quere kommt."
Igor schnaubte. „Wenn ich das gewollt hätte, wärst du wahrscheinlich längst auf Aquatica. Denn ich weiß, dass du so etwas nicht mit dir machen lässt."
„Absolut nicht." „Pinch" grinste. Igor drehte sich nun endgültig um und ging zu den Gebäuden der Akademie zurück.
„Äh... Paps?"
Zumindest kam er dieses Mal ein paar Schritte weiter, bevor ihn seine Tochter wieder zurückrief. „Na, was denn noch?", fragte er ungeduldig und drehte sich zu ihr um.
„Pinch" hatte den roten Beutel, den Jesper ihr hatte zukommen lassen, geöffnet. Als sie ihn auf ihre Handfläche auskippte, kullerte ein kleiner harter Gegenstand heraus. Innerlich musste sie Jesper tatsächlich bewundern. Einen solchen Mut hatte sie dem Jungen nicht zugetraut, der sich in der ersten Nacht kaum getraut hatte, ihr seinen Namen zu verraten.
„Hast du eine Idee, wie man so etwas zu Geld machen kann?"
Das Strahlen des funkelnden weißen Edelsteins in ihrer Hand wurde nur übertroffen durch das breite Grinsen, das sich über „Pinchs" ganzes Gesicht zog.
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