Kapitel 2: Der Geburtstag

Natürlich wussten ihre Eltern von ihrem Wunsch. Und das war, was Vera am meisten überraschte: Sie stritten sich über dieses Thema. Meist dann, wenn Vera schon im Bett lag und sie glaubten, dass sie nichts davon mitbekommen würde. Aber da Vera schon vor langer Zeit die Kunst, sich schlafend zu stellen, perfektioniert hatte, konnte sie unbemerkt lauschen.

Mrs. Helen Lippson war selbstverständlich dagegen. Es war zu gefährlich, und wo sollte das alles hinführen, und überhaupt. Vera hatte jedoch das Gefühl, dass abgesehen von der unendlichen Sorge um ihre Tochter kein wirklich überzeugendes Argument von ihrer Mutter kam. Aber was sie mehr überraschte, war die Position, die ihr Paps vertrat: „Ich sage doch nur, sie wird langsam erwachsen und bereitet sich langsam auf das richtige Leben vor. Vielleicht wird es bald Zeit, dass sie lernt, sich gegen die Gefahren dieser Galaxie zu behaupten."

„Igor!", wies die Mutter ihn zurecht. „Du hast uns auf Geshtachius ein Zuhause aufgebaut, um uns vor den Gefahren der Galaxie fernzuhalten. Warum willst du Vera nun etwas derart Gefährliches in die Hand drücken? Wozu soll das gut sein?"

„Weil es keinen Ort in diesem Universum gibt, der absolut sicher ist", erwiderte Igor. „Und egal, was wir unternehmen, um sie zu schützen: Eines Tages wird Vera sich in Schwierigkeiten bringen, so wie vor zwei Jahren. Ich halte es für besser, wenn sie dann vorbereitet ist und sich selbst schützen kann."

So ging es eine Weile hin und her. Vera lauschte atemlos der Diskussion und musste ihren beiden Eltern gleichermaßen Recht geben. Geshtachius Prime war ein sterbenslangweiliger Planet, voller Farmen und Erholungszentren, mit einer Regierung und einem umfassenden Apparat von Gesetzeshütern, die alle Bewohner vor jedweden Gefahren schützten. Tödliche Waffen waren auf diesem Planeten verboten, lediglich Betäubungswaffen durften hier verwendet werden. Hank Bodderias hatte seine Akademie hier aufgebaut, da dies als neutraler Boden galt und kein noch so feindlich gesinnter Söldner oder Schurke auf die Idee kommen würde, hier schlimme Dinge zu tun.

Aber Vera hatte nicht vor, den Rest ihrer Tage auf Geshtachius Prime zu verbringen. Sie wusste genau, worauf ihr Vater anspielte. Hätte sie vor zwei Jahren den Flug nach Aquatica genommen, statt von den Sicherheitskräften einkassiert zu werden, wäre sie auf einem völlig anderen Planeten gelandet, auf dem sie alles andere als sicher gewesen wäre. Im Nachhinein, nachdem sie Geschichten über diese Welt gehört hatte – eine Welt, die über und über mit Wasser bedeckt war und auf der die Bewohner in riesigen schwimmenden Städten hausten, in denen es vor Kriminellen, Söldnern und Abschaum nur so wimmelte – war sie froh, doch nicht dahin geflogen zu sein. Aber es gab noch andere Planeten. Und Vera wollte wenigstens einen davon erreichen, bevor sie auf Geshtachius vor Langeweile starb.

Aber bei allem, was sie von dem Leben „dort draußen" gehört hatte, musste sie auch ihrem Paps Recht geben: Es war besser, auf das, was dort auf sie lauerte, vorbereitet zu sein. Zumindest soweit, dass sie sich zur Wehr setzen konnte.

Sie hatte vor einem Jahr bereits eine Einweisung in Selbstverteidigung erhalten. Einer der Ausbilder an der Akademie hatte ihr gezeigt, wie sie sich schützen konnte, sollte sie von einem Erwachsenen angegriffen werden. Ein paar Dinge hatte Vera verinnerlicht und bei jeder sich bietenden Gelegenheit geübt – sie hatte die Schwachpunkte am menschlichen Körper auswendig gelernt, an denen selbst jemand mit ihrer schwachen Körperkraft Schaden anrichten konnte, und sie hatte gelernt, ihre geringe Körpergröße und ihre Beweglichkeit zu ihrem eigenen Vorteil einzusetzen. Der selbe Ausbilder hatte ihr auch einen Kurs in Befreiungstechniken verpasst – sie kam aus der Umklammerung oder dem Griff eines kräftigen Gegenspielers und sogar aus den modernen Handfesseln heraus, die von der Sicherheitsbehörde benutzt wurden.

Doch nichts davon wäre für sie von Nutzen, wenn sie es mit jemandem zu tun bekam, der mit einem Laser bewaffnet war.

Selbst, als ihre Eltern bereits zu Bett gegangen waren, lag Vera hellwach in ihrem Zimmer, blickte zur Decke und dachte nach. Als sie auf Geshtachius die Farm bezogen hatten, war sie noch so klein gewesen, dass sie sich an das Leben vorher nicht erinnern konnte. Manchmal erzählte ihre Mutter von ihrem früheren Zuhause, an Bord einer Raumstation in den Zentralius-Kernsystemen. Aber es gab da nicht viel zu erzählen – Helen Lippson hatte sich zur Roboter-Technikerin ausbilden lassen, ihr Vater ging seinen Geschäften als Söldner nach, und Vera war in dem Quartier unter der Obhut von Sicherheitskameras und einem Babysitter verblieben, den sie nach Kräften zur Verzweiflung getrieben hatte. Einen anderen Planeten hatte sie nie besucht – zumindest hatte sie keine Erinnerungen daran. Aber manchmal träumte sie und stellte sich vor, dass sie andere Planeten betreten haben musste, als sie noch ein Baby war.

Geshtachius war ihr Zuhause. Und sie kannte nichts Anderes als diese Welt. Doch sie wusste, dass es mehr gab, und das machte sie verrückt.

Die Tage bis zu ihrem 13. Geburtstag verstrichen, und eines Morgens kam sie in die Küche und fand vor ihren Eltern auf dem Küchentisch ein großes Paket vor. Nach den obligatorischen Glückwünschen zum Geburtstag – und nachdem ihr Helen eine Tasse von ihrem Lieblingstee eingegossen hatte – schob Igor ihr mit einer auffordernden Geste das Paket zu. „Na, mach es auf!", forderte er in seiner üblichen schroff-freundlichen Art.

Vera riss neugierig das Geschenkpapier auf. Darunter war ein stabiler Glaskasten mit einem komplizierten Codeschloss. Doch was sie darin erkennen konnte... Sie war sprachlos. „Gefällt sie dir?", fragte Igor.

„Äh... Wow!" Mehr konnte sie in diesem Moment nicht sagen, sie war von dem Geschenk völlig hin und weg. Helen auf der anderen Seite des Tisches sah die Reaktion ihrer Tochter mit gemischten Gefühlen. Es gefiel ihr auch nicht, dass ihr Ehemann scheinbar Freude daran fand, Vera alles zu erklären.

„Das ist eine Sonderanfertigung", erzählte er und wies auf die Plaketten, die seitlich am Lauf und am Griff der Waffe angebracht waren. „Der Betäubungsschuss ist schwächer als die meisten anderen Waffen, die bei Hank benutzt werden. Einen normalen Menschen kannst du nur betäuben, wenn du ihm den Strahl direkt zwischen die Augen oder in die ungeschützte Brust jagst. Dafür kann die Pistole aber zwanzig Schuss abgeben, bevor die Ladung verbraucht ist. Außerdem ist sie kleiner und leichter als die meisten Waffen dieser Art."

Vera hörte zu und nickte begeistert. Sie freute sich schon darauf, die Waffe in die Hand nehmen zu können. Dann musterte sie den Glaskasten und den dazugehörigen Verschluss... und stutzte. „Und wie lautet der Code?"

Sie bemerkte den vielsagenden Blick, den ihre Eltern austauschten, und wusste sofort, dass die Sache einen Haken hatte. Igor seufzte. „Bevor du anfangen darfst, mit der Waffe rumzuspielen, musst du beweisen, dass du verantwortungsvoll damit umgehen kannst. Du kannst damit nicht einfach rumlaufen und auf Leute schießen. Diese Waffe dient zur Selbstverteidigung in lebensbedrohlichen Situationen. Nicht dazu, Leute niederzuballern, die du nicht magst."

„Das weiß ich doch", antwortete Vera und versuchte, nicht allzu enttäuscht zu klingen. Es gab durchaus die ein oder andere Person in ihrem Leben, an der sie die Pistole gerne ausprobiert hätte.

Ihr Paps sah sie durchdringend an. „Deswegen fliegen wir nach dem Frühstück zur Akademie, und du gehst an den Schießstand. Zusammen mit Jackson."

Wäre es nicht unter ihrer Würde gewesen, so wäre Vera nun jubelnd aufgesprungen und ihrem Vater um den Hals gefallen. Der Geburtstag war für sie nun um ein Vielfaches schöner geworden. Sie beeilte sich mit dem Frühstück, was ihr aber schwer fiel, da sie nicht aufhören konnte, zu grinsen.


„Alles Gute zum Geburtstag!", hörte sie dann auch von allen Angestellten, als sie zurück in der Akademie waren. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass die jüngste Söldnerin in ihrem Team nun groß geworden war. Und anscheinend reichte dieses eine Jahr Unterschied tatsächlich, damit die anderen etwas mehr Respekt und Anerkennung ihr gegenüber zeigten. Zumindest kam es Vera so vor. Sie genoss es, egal ob es so war oder nicht.

Selbst Jackson, den sie schon seit ihrem ersten Tag an der Akademie kannte, schien sie nun wie eine Erwachsene zu behandeln. Noch immer wie eine Freundin – er war schon immer so etwas wie ein großer Bruder für sie gewesen und hatte, genau wie Tammy, immer ein wenig auf sie acht gegeben. Aber nun wie eine größere Freundin, nicht mehr so wie das kleine Kind, das sie mit zwölf Jahren anscheinend noch gewesen war. „Dann dauert es nicht mehr lange, und du ziehst mit uns in den Kampf, während Tammy wieder die Weste tragen muss", meinte er lachend, als Vera ihm von dem Geburtstagsgeschenk ihrer Eltern erzählte.

„Das würde mir gefallen", erklärte Vera grinsend. Sie wusste, dass Tammy für dieses Szenario ihre Vorgängerin gewesen war. Aber Hank Bodderias hatte ihr in den letzten zwei Jahren erklärt, dass Vera es mit ihrem unschuldigen Kind-Sein viel besser konnte. Es brachte die Söldner, die diesen Test machten, an den Rand des Wahnsinns.

Sie betraten den Schießstand, den Jackson schon vorbereitet hatte. Auf einem Tisch lag bereits eine Auswahl verschiedener Betäubungswaffen der Akademie. Jackson wies einladend darauf. „Du hast die freie Auswahl, Vera. Such dir eine aus."

Kurz zögerte sie. Vor diesem Tag hatte es immer geheißen, sie solle die Finger von den Waffen lassen. Auf gar keinen Fall durfte sie eine davon anfassen, außer um sie vom Boden aufzuheben und vorsichtig ins Lager zu tragen, aber ohne den Abzug oder den Lauf zu berühren. Natürlich hatte sie beides einmal versucht, aus Neugierde und aus Trotz. Den Abzug zu berühren hatte eine Menge Ärger nach sich gezogen. Den Lauf anzufassen... nun, davon war sie ganz schnell freiwillig abgekommen, nachdem sie sich böse die Finger verbrannt hatte. Sie streckte die Hand aus und berührte eine der Waffen auf dem Tisch. Jackson sah zu ihr herüber und es war das erste Mal, dass er sie nicht mit einem scharfen Ruf zurückwies. „Nur zu. Nimm dir eine."

Sie gab sich einen Ruck und nahm eine der Waffen auf, die sie mit beiden Händen benutzen konnte, da sie zusätzlich noch einen Griff an der Vorderseite hatte. Die Pistole war schwerer, als sie erwartet hatte, und sie nahm sie wie vorgesehen in beide Hände und blickte prüfend durch das Visier. Sie legte den Finger auf den Abzug, doch sie wusste, dass mit der aktivierten Sicherung kein Schuss fallen konnte. Ihr suchendes Auge fand ein Ziel, und sie überraschte sich selbst damit, dass sie den kindischen Drang unterdrücken konnte, mit einem komischen Geräusch so zu tun, als würde sie schießen.

Schließlich nahm sie die Pistole wieder herunter. Jackson war neben sie getreten, mit einem Kabel in der Hand. „Erste Regel beim Umgang mit solchen Waffen: Du legst erst den Finger auf den Abzug, wenn du wirklich bereit bist, zu feuern. Ansonsten machst du den Finger lang, und zwar so." Er zeigte es ihr und legte ihren Abzugsfinger auf die kleine Kante oberhalb des Abzugs.

Vera nahm diese Information nickend in sich auf. „Verstehe."

„Gut. Jetzt die zweite Regel: Laserwaffen haben keinen Rückstoß, so wie die schweren Energiewaffen, die manche Söldner verwenden. Aber wenn du schießt, solltest du darauf achten, einen festen Stand zu haben. Den rechten Fuß etwas zurück!" Auch dies zeigte er ihr, mit der beispielhaften Geduld eines Ausbilders, der eine ahnungslose Schülerin vor sich hatte. Vera begriff schnell und nahm die Körperhaltung ein, die er von ihr erwartete. Er erklärte weiter: „So fällst du nicht gleich um, wenn du dich schnell in eine andere Richtung drehen musst, weil ein Feind von dort kommt."

Vera blickte skeptisch zu ihm auf. „Geht man in solchen Fällen nicht lieber in Deckung?", fragte sie scharfsinnig.

Jackson lächelte wissend. „Normal ja. Aber das solltest du in Bezug auf die Übung beherzigen, die wir gleich machen werden." Mit einem Wink bedeutete er, ihr zu folgen. Sie gingen zu dem eigentlichen Schießstand, der ein paar Meter entfernt war. Eine kreisrunde Markierung auf dem Boden, im Durchmesser knapp zwei Meter, zeigte an, wo Vera sich hinstellen sollte. Sie hatte bereits bei dem Schießtraining zusehen dürfen, und sie wusste, dass sie verloren hatte, wenn sie den Kreis verließ. Jackson befestigte das Kabel an Veras Waffe und steckte das andere Ende in eine Buchse auf dem Boden.

Herausfordernd grinste Vera ihn an. „Na, dann gib mal alles, was du hast, Jackson!"

„Nicht übermütig werden, Grashüpfer!", schmunzelte Jackson, wurde aber gleich wieder ernst. „Wir fangen einfach an. Ein Viertelkreis mit unbeweglichen Zielen. Mach dich bereit, es geht gleich los!"

Mit diesen Worten ließ er sie alleine und ging in den Kontrollraum, der etwas oberhalb des Schießstands lag. Vera drehte sich zu dem Zielbereich um und machte die Waffe bereit. Kurz warf sie einen Blick über die Schulter zu den Fenstern des Kontrollraums und sah, wie Jackson am Schaltpult Platz nahm. Sie konnte beobachten, wie er sich über das Pult in Richtung Kommunikator beugte, und sie hörte seine Stimme über die Lautsprecher. „Hörst du mich? Kann es losgehen?"

„Kann losgehen!", bestätigte Vera und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Zielbereich, der sich nun kegelförmig vor ihr ausbreitete. Mit dem rechten Daumen entsicherte sie die Waffe und nahm sie auf Augenhöhe hoch, um besser zielen zu können. Als das Signal ertönte, dass der Zielbereich aktiv war, nahm sie den Zeigefinger von der Kante und legte ihn auf den Abzug.

Das erste Ziel erschien... Veras Augen wurden groß vor Erstaunen. Dann nahm sie die Waffe runter und drehte sich zu den Fenstern des Kontrollraums um. „Das ist nicht dein Ernst!"

„Es ist die einfachste Schwierigkeitsstufe", rechtfertigte sich Jackson. „Erstmal will ich sehen, dass du überhaupt etwas triffst."

„Ich glaube nicht, dass das irgend jemand verfehlen würde", entgegnete Vera und wandte sich wieder dem Ziel zu. Die Zielscheibe reichte von einer Seite des Zielbereichs zur anderen und überragte Vera um mindestens zwei Meter. Sie hätte sie mit geschlossenen Augen treffen können, obwohl sie noch nie eine Waffe abgefeuert hatte. Selbst der innerste Kreis der Zielscheibe war fast so groß wie sie. Seufzend betrachtete sie die Scheibe. Dann nahm sie die Waffe wieder hoch und drückte ab. Ein heller Energiestrahl blitzte auf und traf die Scheibe fast exakt in der Mitte. Mit einem Flimmern verschwand die Scheibe kurz darauf... nur, um nach einer Sekunde wieder aufzutauchen.

„Sehr gut", lobte Jackson. „Weiter so!"

Vera wollte gerade protestieren und um ein schwierigeres Ziel bitten, als ihr auffiel, dass dieses Mal die Scheibe kleiner war als die erste. Statt den ganzen Zielbereich auszufüllen, fehlten nun einige Zentimeter bis zu den Rändern, und selbst der mittlerste Kreis stellte nun eine etwas größere Herausforderung dar. Wieder richtete sie die Waffe aus, dieses Mal sorgfältiger, und schoss. Der Strahl traf den Punkt auf der Scheibe, der für sie nach der Mitte aussah. Nach zwei Sekunden erschien eine neue Zielscheibe – diese war nun sichtlich kleiner geworden. Wieder hob sie die Waffe, zielte und schoss. Die Scheibe verschwand, an ihrer Stelle erschien eine kleinere. Die nächste war dann nur noch so groß wie Vera selbst. Danach wurden sie noch kleiner.

Nach der zehnten Scheibe meldete sich Jackson wieder. „Die Grundlagen hast du nun drauf. Dann können wir die nächste Stufe ausprobieren."

Es wird auch Zeit, dachte Vera sich. Und die nächsten Stufen wurden tatsächlich herausfordernder. Jackson gab ihr stationäre Ziele vor, die als Hologramme im Zielbereich auftauchten. Ein Szenario stellte eine Bar auf einem der fremden Planeten dar – ein Wüstenplanet, denn es sah im Zielbereich sehr staubig aus. Vera sollte bestimmte Ziele treffen, während andere keinen Treffer abbekommen durften. Sie löste die Aufgabe souverän, auch wenn sie zwischendurch die Waffe austauschte und auf ein größeres, präziseres Modell zurückgriff, das eher einem Gewehr als einer Pistole entsprach. Als sie dann anfing, mit dem Gewehr die Hälse von diversen Flaschen abzuschießen, deren Inhalt laut Etikett mehr als 40 Prozent Alkohol enthielten, wurde auch Jackson klar, dass es Zeit für die schwereren Trainingseinheiten war.

Er selbst kam sogar aus dem Kontrollraum und legte Vera nahe, die Waffe erneut auszutauschen. Dieses Mal drückte er ihr eine Pistole in die Hand, die von der Größe und Bauart her der Waffe ähnelte, die sie zum Geburtstag bekommen hatte. Mit einem ernsten Gesicht nahm er sie beiseite. „Hör zu! Diese Übung wollte ich eigentlich auslassen, aber ich denke, du bist jetzt soweit. Aber wenn es dir zuviel wird, dann sag Bescheid oder gehe einfach aus dem Kreis raus!"

Fragend sah ihn Vera an. Was würde denn nun kommen, was ihm soviel Sorgen machte? Sie schüttelte den Kopf. „Alles in Ordnung. Was auch immer du zu bieten hast, ich werde damit fertig."

Jackson schien nicht wirklich überzeugt, aber er zuckte die Achseln und ging wieder in den Kontrollraum zurück. Vera überprüfte sorgfältig die neue Waffe. Sie war nicht wirklich wie ihre eigene – sie war größer, schwerer und wahrscheinlich etwas unhandlicher, aber sie kam ihrem Geschenk sehr nahe. Wie Jackson es ihr gezeigt hatte, legte sie den Finger neben den Abzug, bis die Ziele erschienen, nahm einen festen Stand mit beiden Beinen ein und nahm die linke Hand unter den Griff, um sicherer zu zielen. Das Visier der Waffe war direkt vor ihren Augen, und sie wartete auf die nächste Herausforderung.

Der Zielbereich blinkte auf, und es erschien ein Mensch vor Veras Mündung. Ein großer Mann mit dunklem Bart und einer Waffe in einem Gürtel, nach der seine Hand bereits tastete.

Vera zögerte.

Aber nur für einen kurzen Augenblick. Dann nahm sie den Mann ins Visier und jagte ihm einen Laserstrahl in die Brust. Nur ein Hologramm, versuchte sie sich in Gedanken zu beruhigen. Doch es half nicht, denn sie spürte ihr Herz schneller schlagen. Dieses Ziel verschwand auch nicht einfach wie die anderen, die sie getroffen hatte. Als wäre dies wirklich ein tödlicher Schuss gewesen, griff der Mann sich an die Stelle, an der es ihn erwischt hatte, und brach zusammen. Erst als er reglos auf dem Boden lag, verschwand das Bild.

„Ist alles OK?", hörte sie eine besorgte Frage über die Lautsprecher. Sie schluckte den Kloß herunter, der in ihrem Hals zu sitzen schien, und nickte, ohne nach hinten zu sehen. Mit meiner Waffe kann ich nur betäuben, rief sie sich ins Gedächtnis. Was auch immer hier passiert, es ist nicht echt. Aber das flaue Gefühl in ihrem Magen blieb. Und der zweite Gegner tauchte vor ihr auf.

Dann kam ihr eine Idee. Was ist, wenn ich sie nicht töte?

Als der zweite Gegner nach seiner Waffe griff und sie auf Vera richten wollte, zielte Vera mit ihrer Pistole auf seine Schulter und drückte ab. Sie traf meisterlich. Der Schuss warf den Gegner nach hinten, er landete mit schmerzefülltem Stöhnen auf dem Boden. Doch zumindest atmete er und bewegte sich, als er wieder verschwand. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie es mit dem nächsten Gegner zu tun bekam, doch diese paar Sekunden reichten aus, dass sich Vera wieder beruhigen und sich auf die Übung konzentrieren konnte.

Und dann ließ sie die Hölle auf den Schießstand los.

Sie konzentrierte sich darauf, niemanden tödlich zu verwunden, aber ihre Schüsse trafen Körperteile und machten ihre Ziele auf effektive Weise kampfunfähig. Langsam erhöhte Jackson den Schwierigkeitsgrad – die Ziele bewegten sich nicht nur, sondern schafften es auch, das Feuer mit harmlosen Energiestrahlen zu erwidern. Doch sie trafen nicht, während Vera unerbittlich unter ihnen aufräumte. Mit Schüssen in die Knie und Beine brachte sie die holographischen Männer zu Fall, mit Treffern in Armen und Schultern verhinderte sie das Gegenfeuer. Ein Schuss traf sogar die Waffe eines Gegners, die daraufhin in Flammen aufging. Ein Aufschrei ertönte von dem Getroffenen, der sich bei der Explosion die Hand verbrannte, doch auch er überlebte und verschwand in das Hologramm-Nirvana, während er sich die verletzte Hand hielt. Nach einer Weile tauchten mehrere gleichzeitig auf, sodass Vera blitzschnell mehrere Schüsse abgeben musste, um nicht selber beschossen zu werden. Doch in dieser Zeit schaffte sie es nicht nur, den Gegenangriff zu verhindern, sondern sie wandte auch das an, was ihr zuvor im Selbstverteidigungskurs beigebracht worden war, und richtete ihre Waffe auf die Schwachpunkte der Gegner.

Was sogar Jackson zu einem Kommentar verleitete: „Autsch! Das muss echt weh getan haben."

Igor kam nach einer Stunde zum Schießstand, um nach dem Rechten zu sehen. Was er vorfand, erstaunte ihn. Seine Tochter stand schweißgebadet und außer Atem im Übungsring, die Waffe in ihrer Hand glühte förmlich, und der holographische Zielbereich, der noch immer eine Kneipe darstellte, glich einem Kriegsschauplatz. Die letzten Gegner waren nicht mehr verschwunden. Es waren insgesamt fünf gewesen, und sie waren unter heftigem Dauerfeuer zu Boden gestürzt, pressten ihre Hände auf Schusswunden und jammerten schmerzerfüllt. Kopfschüttelnd sah sich Igor die Szene an und ging ohne ein weiteres Wort in den Kontrollraum, um sich von Jackson die Auswertung zeigen zu lassen.

Dass der junge Ausbilder so blass wirkte, konnte Igor absolut verstehen, als er einen Blick auf die Daten warf. „Großer Gott!", stieß er hervor.

Jackson nickte bekräftigend. „Ich kann es selber kaum glauben. Sie hat bis Stufe 20 durchgehalten, ohne einen Gegentreffer. Ich würde sagen, deine Tochter hat es ziemlich schnell begriffen."

„Stufe 20", echote Igor tonlos. „Ich bin nie über Stufe 12 hinausgekommen."

„Vielleicht sind wir auch einfach zu alt", schlug Jackson diplomatisch vor. „Jedenfalls musst du dir keine Sorgen machen – sie kann mit ihrer Waffe auf jeden Fall umgehen."

„Da hast du Recht." Igor blickte grimmig aus dem Fenster und beobachtete, wie Vera aus dem Übungskreis trat und die Waffe zu den anderen auf den Tisch legte – völlig erledigt, aber guter Dinge. „Jetzt muss ich mir über andere Dinge Sorgen machen. Zum Beispiel, wie ich ihr beibringe, wann es besser ist, die Waffe stecken zu lassen."

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