Kapitel 19: Die Messerbraut

Nach und nach hoben auch die anderen Kinder zögernd ihre Köpfe und rappelten sich auf. „Pinch" blickte sich prüfend in der Gruppe um. „Ist jemand verletzt?"

Doch alle verneinten. Selbst Jenny, die noch immer sehr mitgenommen aussah, schüttelte in einem Anflug von Tapferkeit den Kopf. Nur Vanna sah sich suchend um, und Panik stieg ihr in die Augen. „Wo ist Butter?", rief sie erschrocken. „Wo ist er?"

Ein Bellen ertönte – Butter reagierte auf die Erwähnung seines Namens sofort und kam angelaufen. Mit wedelndem Schwanz und heraushängender Zunge stellte er sich zwischen die Kinder und ließ sich von allen Seiten streicheln. Auch „Pinch" kraulte sein zotteliges Fell voller Dankbarkeit. „Ich hätte euch ohne ihn nie gefunden", erklärte sie. „Er ist ein wirklich guter Hund. Aber warum hast du ihn Butter genannt?"

Vanna lachte. „Weil er verrückt nach Butter ist. Ehrlich! Er kommt jedes Mal angerannt, wenn man das Wort sagt, und da haben wir beschlossen, ihn einfach so zu nennen."

„Pinch" stand nun ganz auf und betrachtete prüfend die Landschaft um sie herum. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Söldner hier auftauchten. Denn wenn die Eingreiftruppe nichts von diesem großen rotgelben Feuerpilz bemerkt haben sollte, der vor einer Minute noch über den Bergen verdampft war, dann wäre sie von „Waesti" doch schwer enttäuscht gewesen. Doch was würde dann mit den anderen passieren? Sie blickte in die Runde und bemerkte, dass die Kinder sie erwartungsvoll ansahen. Selbst Thor – dieser hatte seine Anführer-Masche wohl abgelegt. Und das, obwohl er sie gerade rechtzeitig nach draußen geführt hatte.

„Pinch" seufzte. „Es werden gleich meine Leute eintreffen. Und ob es euch gefällt oder nicht: Ihr seid alle besser dran, wenn ihr mit ihnen geht. Die Zeit, sich hier wie Flüchtlinge zu verstecken, ist vorbei."

Thor starrte sie an und schnaubte. „Vanna hat Recht: Du bist irgendwie älter geworden, seitdem du verschwunden bist. Jedenfalls klingst du plötzlich wie eine von den Großen." Er warf einen Blick zurück auf die gesprengten Tunnel, die nur noch ein Trümmerhaufen waren. „Aber ich sehe es ein. Unser Versteck ist ohnehin zerstört. Und ich bin froh, dass wir alle noch leben."

„Das lässt sich ändern."

„Pinch" fühlte, wie ihre Zähne protestierend aufheulten, als sie die Stimme vernahm. Auch das noch! Sie fuhr herum und starrte Sykes an. Diese stand am oberen Ende des Hangs, eine Laserpistole schussbereit in der Hand, ein bösartiges Lächeln im Gesicht. „Wir hatten gehofft, ihr würdet in den Tunneln..." Sie unterbrach sich, als sie „Pinch" bemerkte. Ein Mädchen, das nicht zu den Gefangenen gehörte, die sie dort unten zurückgelassen hatte. Doch sie schien „Pinch" nicht zu erkennen. „Wer bist du denn?"

Die anderen standen voller Schreck neben „Pinch" und wagten nicht, sich zu bewegen. Doch „Pinch" war nicht erschrocken. Sie erwiderte Sykes erstaunten Blick mit einem Gesichtsausdruck, aus dem die reine, ungezügelte Wut sprach. In diesem Augenblick blitzten Erinnerungen in ihrem Kopf auf. Der Absturz des Shuttles. Die Messer, mit denen Sykes ihr gedroht hatte. Das Seil, mit dem sie so fest gefesselt worden war, dass sie geglaubt hatte, ihre Hände würden abfallen. Ihre ständigen hässlichen Bemerkungen und Drohungen. Das, was sie den Kindern angetan hatte. Die Explosion der Bomben, der sie gerade noch entkommen waren. Für all diese Gemeinheiten war diese Frau verantwortlich. „Pinch" fühlte, wie der Zorn in ihr brannte. Ihre rechte Hand schloss sich um den Kolben der Laserwaffe in ihrem Gürtel, und sie spürte erneut, wie ihr Herz raste. Doch dieses Mal nicht vor Angst.

Ich bin frei, dachte sie in Sykes' Richtung, in Erinnerung an die scheußliche Nacht, die sie der Frau zu verdanken hatte. Ich bin vorbereitet. Und du, du Hexe, bist jetzt dran!

Mit einem Wutschrei riss sie den Laser aus dem Gürtel, entsicherte mit dem rechten Daumen, legte ohne Zögern an und feuerte.

Der Schuss ging weit daneben. Aber er war dennoch bemerkenswert effektiv. Sykes hatte die Waffe nicht gesehen, und die Möglichkeit, dass ein so junges Mädchen auf sie schießen würde, hatte sie überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Mit einem schrillen entsetzten Aufschrei, der schon fast dem Quieken eines Farmtieres glich, hechtete die tätowierte Schurkin in höchster Not in Deckung. Sie kam nicht einmal dazu, das Feuer zu erwidern.

„Los, versteckt euch!", rief „Pinch" den anderen Kindern zu. „Das hier ist meine Sache!" Sie war erstaunt, wie entschlossen sie sich in diesem Augenblick anhörte, und wie wenig Angst sie gerade empfand. Es war ein echter Kampf gegen einen erwachsenen und bewaffneten Gegner, und wenn sie diesen Kampf verlor, dann war sie tot. Doch das schreckte sie nicht. Sie fühlte, wie die Wut über das Erlebte in ihr kochte, fühlte, wie diese Wut ihr Kraft und Antrieb gab, und sie hatte nur noch ein einziges Verlangen, welches ihr gesamtes Handeln beherrschte: Egal, was mit ihr passierte, Sykes würde nicht ungestraft davonkommen.

Sie feuerte erneut. Ein violetter Energiestrahl schoss aus der Mündung ihrer Waffe. Das Sirren klang im Vergleich zu anderen Lasern, die sie kannte, auf eine gewisse Weise sanfter und eleganter. Sie verfehlte den großen Felsen, hinter den sich Sykes geflüchtet hatte, doch dieses Mal mit Absicht. Solange Sykes glaubte, dass es sich um eine tödliche Waffe handeln könnte, hatte „Pinch" einen Vorteil auf ihrer Seite. Die Frau wagte nicht, aus ihrer Deckung zu kommen. Das bedeutete wertvolle Sekunden, in denen „Pinch" handeln konnte.

In diesen wertvollen Sekunden reagierten auch die anderen Kinder: Sie stoben auseinander wie ein aufgeschreckter Schwarm Vögel und brachten sich vor dem ausbrechenden Krieg in Sicherheit. Butter folgte seiner Besitzerin, und „Pinch" nahm dies erleichtert zur Kenntnis. Er war vielleicht der einzige von ihnen, der nicht begriff, was hier passierte, doch sie war unheimlich froh, dass er aus der Schusslinie ging. Dann begann sie, sich umzusehen und fieberhaft zu überlegen. Sich mit Sykes anzulegen und auf sie zu schießen, war ein Anfang, aber es reichte nicht. Ein Plan musste her!

Ein silbrig-blonder Haarschopf kam für einen kurzen Moment aus der Deckung, und „Pinch" reagierte sofort. Der violette Energiestrahl zuckte haarscharf am Kopf von Sykes vorbei, die blitzschnell und mit einem schrillen Schrei wieder verschwand. „Verdammt!", hörte „Pinch" sie hinter dem Felsen kreischen, völlig außer sich vor Wut und Angst. „Was zum Teufel geht hier ab?"

„Pinch" gestattete sich ein grimmiges Lächeln. Gegen wehrlose schwache Kinder bist du die Größte, dachte sie verächtlich. Aber wehe, du bekommst es mit jemandem zu tun, der sich wehren kann! Sie hatte bis jetzt an Ort und Stelle ausgeharrt – ein Knie am Boden, die Waffe in beiden Händen, damit sie besser zielen konnte. Doch es wurde Zeit, sich selber eine passende Deckung zu suchen. Ein paar Meter vor ihr ragte ein hüfthoher Felsen aus dem Boden, gerade groß genug, dass sie dahinter Schutz suchen konnte. Sie stand auf und lief darauf zu.

In diesem Augenblick tauchte aus der Deckung von Sykes eine schussbereite Laserwaffe in der Hand der jungen Frau auf. Sie zielte nicht, sondern richtete die Waffe in die ungefähre Richtung, in der sich „Pinch" befand. Ein lautes Sirren ertönte, als der Laser feuerte; ein grellroter Energiestrahl fauchte einen halben Meter an dem Mädchen vorbei und sprengte einen Erdklumpen aus dem Boden drei Schritte hinter ihm. „Pinch" keuchte erschrocken auf, zog den Kopf ein und warf sich hinter den kleinen Felsen vor ihr, um aus der Schusslinie zu sein. Mann, das war knapp! Jetzt war es offiziell. Sykes versuchte, sie umzubringen!

Sie kam langsam hoch, presste sich mit dem Rücken gegen ihre Deckung und hielt die Pistole fest in beiden Händen. Noch immer arbeitete sie im Kopf an einem Plan. Aber ihr fiel kein rechter Weg ein. Solange Sykes in ihrer Deckung war, kam „Pinch" nicht an sie heran. Es sei denn... Sie blickte sich um. Es lagen mehrere große Felsbrochen, aber auch einige kleinere Steine in ihrer Reichweite. Der Felsen, hinter dem sich Sykes versteckte, war groß – groß genug, dass auch Sykes nicht sehen konnte, wenn sich jemand direkt näherte. Alles, was ich brauche, ist eine Ablenkung... Sie grinste und hob einen passenden Stein auf.

Sykes brüllte wieder in schrillem hohen Tonfall – sie klang regelrecht panisch: „Wer auch immer du bist, du wirst dir wünschen, dass du mir nie begegnet wärst."

Na, das ist wirklich keine Kunst, dachte „Pinch" verächtlich. Sie hatte sich das längst gewünscht, vor zwei Nächten, als sie dieser Frau zum ersten Mal begegnet war. Aber eines verwunderte sie doch: Das Kreischen und Brüllen von Sykes, die vor Angst fast durchzudrehen schien, klang tatsächlich angenehmer als ihre normale Stimme.

Dann sprang sie auf. Um die Erwachsene noch mehr einzuschüchtern, feuerte sie einen weiteren Schuss knapp über den Felsen hinweg, während sie auf die rechte Seite zurannte. Es wirkte. Doch auch in anderer Hinsicht. Als sie den Felsen längst erreicht hatte und auf der von Sykes abgewandten Seite in Deckung war, hob Sykes ihren Laser erneut. Der Schuss ging ungefähr dorthin, wo „Pinch" vorher gewesen war, hätte aber auch dieses Mal mindestens einen Meter daneben gelegen. Danke! Jetzt weiß ich, wo du bist.

„Pinch" kam kurz aus der Deckung hervor, holte aus und warf den Stein über den Felsen. Er prallte auf der Oberseite kurz ab und kam dann auf der Rückseite hinunter. Ein kurzer Plumps war zu hören, gefolgt von einem wütenden Aufschrei. Sie hatte getroffen. „Pinch" rannte rechts um den Felsen herum, die Waffe feuerbereit erhoben, und stand nach wenigen Schritten nur einen Meter von Sykes entfernt – die sich in diesem Augenblick in die andere Richtung gedreht hatte, um denjenigen zu beschießen, der ihrer Meinung nach den Stein geworfen hatte. Sie hielt ihren Laser in die falsche Richtung – es war eine Gelegenheit, die „Pinch" nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte.

„Fallenlassen!", brüllte sie, ihre eigene Waffe fest entschlossen nach vorne gerichtet.

Sykes gab sich nicht geschlagen. Und sie bewegte sich beängstigend schnell. Sie wirbelte herum, die Laserpistole in einer Hand, als sie die Stimme hinter sich hörte. Einen winzigen Bruchteil einer Sekunde später blickte „Pinch" in die Mündung von Sykes' Waffe... und ihrem eigenen Tod entgegen.

Oder zumindest wäre das der Fall gewesen – hätte sie nicht mit genau so etwas gerechnet. Clocdrazyn, flüsterte es in ihrem Hinterkopf. Verstärkt Reflexe und Muskelgruppen. Söldner glauben, dass es sie schneller macht. Und Sykes war schnell. Sie war wirklich schnell. Es gab nur eines, was „Pinch" ihr in dieser Hinsicht entgegensetzen konnte: Sie durfte unter gar keinen Umständen zögern.

Und sie tat es nicht. Kaum, dass Sykes auch nur zuckte, krümmte sich „Pinchs" Abzugsfinger um den Auslöser ihres Geburtstagsgeschenks und jagte einen violetten Strahl direkt in die rechte Schulter der jungen Frau.

Die tödliche Laserwaffe von Sykes fiel ihr aus der Hand, polterte über den steinigen Boden und verschwand schließlich in einer kleinen Felsspalte.

Sykes schrie erneut auf, aber dieses Mal mehr vor Schreck und Überraschung, nicht aufgrund der Schmerzen. Der Treffer warf sie nach hinten, sie prallte mit dem Rücken auf den Boden auf. Einen kurzen Augenblick lang blieb sie dort liegen, die Augen und der Mund vor Entsetzen weit aufgerissen, sich fassungslos an die getroffene Schulter greifend. Sie starrte „Pinch" an, als hätte sie einen Geist vor sich.

In diesem Moment hätte sie es beenden können. Es wäre mit Sicherheit die klügere Entscheidung gewesen, einfach den Abzug zu drücken und solange auf diese drogenabhängige Verbrecherin zu schießen, bis sie sich nicht mehr rührte. Doch „Pinch" fühlte, dass es irgendwie nicht richtig war. Nicht, bevor diese Frau begriffen hatte, was hier passiert war. Nicht, bevor sie verstand, wer sie besiegt hatte. Und sie verstand es nicht. Sie starrte „Pinch" an, die in voller Lebensgröße vor ihr stand, und noch immer blitzte nicht der kleinste Funke des Erkennens in ihrem Gesicht auf.

„Wer bist du?" Die Stimme mit diesem unangenehmen Nachklang war zu einem Flüstern geworden. Die Augen bewegten sich, als der Blick von „Pinchs" Kopf bis hinunter zu ihren Füßen ging, während das Gehirn dahinter sichtlich bemüht war, einen Sinn hinter allem zu sehen. Sykes schüttelte frustriert den Kopf, als es ihr nicht gelang und sie von „Pinch" keine Antwort erhielt. „Verdammt nochmal, wer bist du?", schrie sie.

„Pinchs" Gesicht zeigte keine Regung. Durch eiskalte Augen kam der Blick zurück. „Du weißt, wer ich bin", sagte sie schließlich. Ruhig, emotionslos, sachlich – einen schlimmeren Tonfall hätte sie dafür nicht wählen können. „Es ist noch nicht lange her, da wolltest du mich aufschlitzen und mir die Zunge herausschneiden."

Es waren nicht ihre Worte, die es auslösten – vielmehr der Klang ihrer Stimme, die Sykes begreifen ließen. Erkennen und Entsetzen mischten sich in ihrem Gesicht zu einem absolut unbezahlbaren Ausdruck schierer Fassungslosigkeit. Ihre Augen schienen ihr jeden Moment aus dem Kopf springen zu wollen. „Du?" Sie stotterte, als sie die volle Tragweite der Situation erfasste. „Das... das ist unmöglich! Das kann einfach nicht sein!"

„Es ist so", erklärte „Pinch" und lächelte fies. Ihre Feindin so am Boden zu sehen, völlig am Ende, gab ihr ein enormes Selbstvertrauen. Mutig trat sie einen Schritt vor. „Hättet ihr mich in Ruhe gelassen, wie ich es gesagt hatte, dann wäre dies alles hier nicht passiert. Aber du und deine Leute, ihr dachtet wohl, ihr würdet einfach ungestraft davonkommen."

Sykes hatte sich weiterhin an die Schulter gegriffen, doch sie nahm die Hand langsam wieder weg. Der Moment der Fassungslosigkeit verflog langsam, machte einem Ausdruck voller Misstrauen Platz. Die Frau sah auf ihre Hand... und stutzte. Dann sah sie zu „Pinch" hinauf. „Du glaubst, du hast mich besiegt? Mit einem Betäubungsstrahler?"

„Pinch" beugte sich leicht zu ihr hinunter. „Du glaubst, du kannst einfach vier Kinder ermorden, und niemand unternimmt etwas gegen dich?"

Sykes hielt ihrem Blick stand. „Fünf", erwiderte sie kalt.

Versuchte sie tatsächlich, „Pinch" einzuschüchtern? Darauf würde sie nicht hereinfallen! „Dazu musst du erst einmal mit mir fertig werden", entgegnete sie gelassen und hob die Waffe, sodass die Mündung auf den Kopf von Sykes zielte.

„Lustig, aber an dich hatte ich gar nicht gedacht", gab Sykes hämisch zurück. „Dass du hier nochmal auftauchst, hat keiner von uns erwartet. Aber du hast Recht." Ihr Blick wurde genau so kalt wie der von „Pinch", als sie hinzufügte: „Eigentlich müssten es sechs sein."

„Pinch" war verwirrt. Es waren nur vier Kinder in den Tunneln gewesen. Und wenn sie nicht eingeplant war, wer konnte dann noch... Die Antwort traf sie wie ein Blitz.

„Er hat dich entkommen lassen", erklärte Sykes und verbarg ihren höhnischen Tonfall kein bisschen. „Natürlich habe ich sofort gemerkt, dass es so war. Ich werde zwar nicht das Vergnügen haben, ihn selber umzubringen, aber zumindest kommt die Idee von mir." Sie sah „Pinch" herausfordernd an und lachte. „Na? Was willst du jetzt dagegen tun?"

In diesem Augenblick, auch wenn er nur kurz war, wünschte sich „Pinch", dass die Waffe in ihrer Hand kein Betäubungsstrahler war. Die Wut, die sie am Anfang dieses Kampfes verspürt hatte, war nun stärker geworden. Es fühlte sich an, als wollte sie platzen. „Steh auf!", zischte sie bösartig.

Sykes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. „Mit Vergnügen", antwortete sie und kam langsam auf die Beine. Mit der linken Hand auf einem Gegenstand, den sie am Gürtel trug. „Pinch" bemerkte es erst jetzt – und mit einem Schock begriff sie, dass sie einen tödlichen Fehler begangen hatte. Die Erkenntnis lähmte sie für einen winzigen, aber entscheidenden Moment.

Der Moment, in dem Sykes zum Angriff überging und sich mit einem Wutschrei auf sie stürzte.

Das Messer zuckte aus der Scheide und fauchte durch die Luft, um Haaresbreite an „Pinchs" Kehle vorbei, als sie vor der Attacke zurückzuckte. Sykes attackierte erneut, stieß mit dem Messer nach ihrer Brust, und „Pinch" konnte nur mit knapper Not ausweichen. Doch dem Faustschlag mit der rechten Hand, den Sykes gegen sie richtete, konnte sie nicht mehr entkommen. Er traf ihre Magengegend und ließ sie zurücktaumeln. Doch die harte Schale, aus der ihr Kampfanzug bestand, fing die größte Wucht des Schlages ab, sodass sie kaum etwas davon spürte. Sykes hingegen... Sie schrie vor Schmerz auf und hob ihre rechte Hand vor ihr Gesicht, deren Finger merkwürdig verkrümmt schienen.

In dieser Sekunde war die Frau durch die Schmerzen ihrer gebrochenen Finger abgelenkt, und es war Zeit zum Handeln. „Pinch" richtete die Waffe mit einer Hand auf ihr Gesicht, während ihre linke Hand nach dem Messer an ihrem Gürtel griff. Doch dieses Mal zögerte sie mit dem Schuss zu lange – ihre Hand zitterte, und sie brauchte einen Moment, um richtig zu zielen. Das bekam Sykes mit. Als „Pinch" den Abzug betätigte, zuckte der Kopf der Frau seitwärts, und der Energiestrahl verfehlte sie. Dann sah „Pinch" eine wirbelnde Messerklinge auf sich zukommen, als Sykes erneut auf sie losging.

Dieses Mal fiel es ihr deutlich schwerer, dem Angriff zu entgehen – sie konnte sich nur rücklings auf den Boden werfen und spürte erneut an dem Luftzug vor ihrem Gesicht, wie knapp sie einem Treffer entgangen war. Unsanft landete sie auf ihrem Hosenboden, die Verbrecherin mit dem Messer über sich, die drohende Schatten auf sie warf. Als sie versuchte, schnell wieder auf die Beine zu kommen, traf sie ein Fuß in einem schweren Stiefel direkt vor die Brust und ließ sie vollends rückwärts auf dem Boden landen. Auch dieses Mal hielt der Körperpanzer das Schlimmste ab, aber „Pinch" spürte, wie ihr langsam der Atem ausging.

Dann ertönte lautes, wütend klingendes Bellen ganz in ihrer Nähe – und Butter stürmte auf den Kampfplatz, um „Pinch" zu helfen.

„Nein!" „Pinch" schrie vor Panik, während Sykes nun auch den Hund bemerkte und ihr Messer hob. „Butter, aus!" Wenn der Hund sie erreichte, würde die Frau ihm den Garaus machen. „Pinch" sah sich verzweifelt um. Es musste eine Möglichkeit geben, das zu verhindern... Butter hörte nicht auf sie. Mit lautem Bellen und drohendem Geknurre rannte er auf Sykes zu, die ihn bereits mit kampfbereitem Messer erwartete. In höchster Not zog „Pinch" ihren rechten Fuß an, holte aus und trat Sykes mit voller Wucht gegen das Knie.

Die Frau brüllte erneut auf und verlor das Gleichgewicht. In diesem Augenblick sprang der Hund sie an und warf sie vollends um. Mit gefletschten Zähnen und durchdringendem Bellen gab Butter sein Bestes, um sie einzuschüchtern. Aber als „Pinch" es sah, wurde ihr klar, dass der Hund nicht mehr konnte als das – er würde nicht beißen oder sie anderweitig verletzen. Und sobald Sykes ihren Schreck überwand, hatte er keine Chance mehr. Sykes versuchte bereits, während sie mit ihrer verletzten Hand den Hund auf Abstand hielt, ihre linke Hand so zu drehen, dass sie mit ihrem Messer zustechen konnte.

„Pinch" durfte dieses Mal nicht zögern. Im Liegen aus der Hüfte musste der Schuss trotzdem sitzen. Sie richtete die Waffe aus, wartete auf einen günstigen Moment... und schoss. Der Schuss traf. Die linke Hand von Sykes verkrampfte und zuckte, und das Messer fiel zu Boden. Nicht sehr weit weg, aber weit genug, um Butter das Leben zu retten. „Butter, aus!", rief sie erneut. „Verschwinde hier!"

Die Ablenkung brachte ihr einige Sekunden ein, die sie nutzen konnte. Sie kam auf ihre Füße, sprang an dem Felsen hoch, hinter dem sie sich die ganze Zeit befunden hatten und zog sich das letzte Stück mit ihren Armen hoch, um auf die Oberseite zu kommen. Ein lauter Pfiff ertönte aus der Nähe, und Butter brach seinen Angriff endlich ab, um dorthin zu rennen. Das gab leider auch Sykes genügend Luft, um wieder aufstehen und nach ihrem Messer greifen zu können. Kaum zwei Sekunden, nachdem „Pinch" den Felsen erklommen hatte, folgte die Frau ihr bereits mit einem wütenden Fauchen.

„Pinch" sah auf die andere Seite und den felsigen Hang hinab, den sie und die Kinder heraufgekommen waren. Langsam kam ihr eine Idee. Ob sie gut war, würde sich noch herausstellen.

Sie sprang vom Felsen hinab auf die Hangseite. Für einen kurzen Moment war Sykes, die gerade die Spitze des Felsens erreichte, abgelenkt. Also kauerte „Pinch" sich direkt unter den Felsen im Schatten, in der Hoffnung, die Frau würde es nicht bemerken. Ihre linke Hand griff erneut an den Gürtel, und sie zog das Messer aus der Lederscheide. Die Pistole behielt sie weiterhin schussbereit in der rechten Hand. Der Abzugsfinger lag auf der oberen Kante. Sie hatte nicht darüber nachgedacht, sondern ihn instinktiv dahin gelegt.

Vor ihr, nicht einmal einen Meter entfernt, landeten zwei schwere Stiefel auf dem Boden. Sykes stand mit dem Rücken zu ihr und blickte sich um. „Pinch" packte das Messer in ihrer linken Hand fester, bereit, es ihr in den ungeschützten Rücken zu rammen... Augenblick mal! Ihre eigenen Gedanken brachten sie zu einem Halt. Was um alles in der Welt mache ich hier? Sich gegen Sykes zu wehren, sich selbst zu verteidigen, das war eine Sache. Aber sie kaltblütig töten?

Sykes bemerkte die Gefahr in ihrem Rücken nicht. Suchend blickte sie sich weiter um, trat noch ein paar Schritte weiter Richtung Hang, um ihre Gegnerin zu finden. Ein paar Schritte, die „Pinch" als Abstand zwischen ihnen beiden gerade recht waren. Leise stand sie wieder auf – aber nicht leise genug. Sykes hörte es und drehte sich um. „Da bist du ja, du..."

„Kleines Miststück?", fragte „Pinch" böse. „So hast du mich schon vorher bezeichnet." Sie hob das Messer in ihrer linken Hand. Die rechte mit dem Laser hatte sie hinter ihrem Rücken verborgen. „Du kannst es nicht wissen, aber ich hasse es, wenn man mich als klein bezeichnet."

Sykes musterte sie... und sah das Messer in ihrer Hand. Sie fing schallend an zu lachen. „Du glaubst, du kannst mich damit verletzen? Das möchte ich sehen..."

„Pinch" hob grimmig das Messer. Dann warf sie es. Die Klinge wirbelte durch die Luft – sie war leichter als das große Messer, mit dem Sykes sie angegriffen hatte, und sie musste keinen wirklich weiten Weg zurücklegen. Allerdings hatte sie es mit links geworfen – und da sie so etwas noch nie vorher getan hatte, war es überhaupt kein Wunder, dass es Sykes nicht einmal erreichte. Es landete vor ihr im Boden, mit der Klinge voran. Sykes folgte dem Messer mit ihrem Blick, bis sie sich sicher war, dass sie nicht getroffen werden würde. Dann richteten sich ihre Augen wieder auf „Pinch", und ein gemeines Lächeln verzog das Gesicht der Frau.

Ein Lächeln, das sofort wieder verschwand, als sie die Mündung von „Pinchs" Pistole vor sich sah. Dass das Messer treffen sollte, war nicht Teil des Plans gewesen. Es war nur die entscheidende Ablenkung.

Drei Schüsse lösten sich, trafen Sykes in Brust und Bauch, ließen sie rückwärts taumeln. Die Fersen ihrer Stiefel traten über die Kante des Felsens hinaus, der ein Stück über den Hang hinausragte. Erde rieselte unter ihren Füßen nach unten. „Pinch" stürmte nach vorne, auf die Frau zu, die in diesem Augenblick nicht mehr in der Lage war, sich zu wehren. Dann sprang sie. Mit einem Fuß am Boden, den anderen soweit erhoben, dass sie in genau dem richtigen Moment nach vorne austreten konnte. Sodass die ganze Wucht ihres Sprungs und die Masse ihres Körpergewichts sich auf die kleine Fläche ihrer Fußsohle konzentrierte, als diese Sykes mit der Kraft einer Rakete in die Brust traf. Und sie von der Kante stieß.

Sykes fiel. Der Sturz war nur einen Meter tief, aber er genügte. Mit Gewalt prallte sie auf dem felsigen Boden auf, überschlug sich, kullerte den Hang hinab. Ihr Kopf stieß gegen Felsen auf dem Weg nach unten; sie keuchte, aber hatte keine Luft zum Schreien. Erst als sie den halben Hang hinter sich gebracht hatte, blieb sie liegen. Und bewegte sich nicht mehr.

Die anderen Kinder hatten all dies mitbekommen. Als der Kampf vorbei war, erhoben sie sich aus ihren Verstecken und rannten auf „Pinch" zu. „Meine Güte!", rief Taylor aufgeregt. Er klang, als war er nicht sicher, ob er sich freuen oder lieber heulen sollte. Die anderen zeigten ähnliche Reaktionen, als sie Sykes dort unten liegen sahen.

„Ist... sie tot?" Vanna wagte es kaum, diese Frage zu stellen.

„Pinch" schüttelte den Kopf. „Die Waffe betäubt nur. Und ich glaube nicht, dass sie sich bei dem Sturz wirklich was getan hat." Sie blickte in die Runde und stellte fest, dass ihre Worte die Kinder nicht zu überzeugen schien. Daraufhin seufzte sie. „Ich werde mal nachsehen."

Erleichtert nickten die vier. „Pinch" kletterte vorsichtig über die Felsen und näherte sich dem Körper der Frau, mit der Waffe schussbereit erhoben. Doch sie musste nicht sehr nahe kommen, um zu sehen, dass Sykes noch am Leben war. Diese stöhnte auf und hob angestrengt den Kopf in „Pinchs" Richtung. Bei der Talfahrt hatte ihr einer der Felsen eine Platzwunde zugefügt, und Blut lief über das Gesicht. Doch sie war störrisch und grimmig wie zuvor.

„Wir sind noch nicht fertig miteinander", flüsterte sie drohend.

„Pinch" nickte. „Da hast du Recht", antwortete sie. „Jetzt sag mir, was ihr mit Jesper vorhabt!"

Sykes lachte leise. Aber das Lachen verwandelte sich in einen Hustenanfall. Es erinnerte „Pinch" daran, wie sie Tammy im Shuttle vorgefunden hatte, nach dem Absturz. Auch wenn sie froh war, dass sie Sykes nicht umgebracht hatte – sie wünschte sich inständig, dass die Frau Schmerzen erlitt. „Das kann ich dir nicht sagen. Das ist Sache von Whitmore." Ihre Stimme krächzte tonlos. „Aber ich glaube nicht, dass du von ihm noch viel finden wirst, wenn Whitmore mit ihm fertig ist."

„Pinch" betrachtete diese Frau angewidert. Eine drogenabhängige, halb geisteskranke Kriminelle, die sogar nach einer so gewaltigen Niederlage nicht aufhören konnte, anderen Menschen weh zu tun. Was auch immer später mit ihr geschehen sollte, „Pinch" hatte absolut kein Mitleid mit ihr. „Was glaubst du, wie viel man von dir noch finden wird, wenn das hier vorbei ist?", fragte sie dann, ebenfalls mit einem drohenden Unterton.

Sykes sah sie an. Für einen Moment schienen ihr Zweifel zu kommen, aber dann war das überhebliche Grinsen wieder da. „Mach dich nicht lächerlich! Dazu hast du nicht den Mumm." Sie wies mit einem Kopfnicken auf die Waffe. „Außerdem habe ich mitgezählt. Du hattest deine zehn Schuss. Das Ding nützt dir also nichts mehr."

„Pinch" legte demonstrativ den Finger auf den Abzug. „Es sind zwanzig Schuss drin. Miststück!"

Das wischte das Grinsen aus Sykes' Gesicht. Böse funkelte sie „Pinch" an. „Wenn ich hier fertig bin, werde ich mich als Nächstes deinen Eltern widmen, du dreckige kleine Rotzgöre..."

„Pinch" drückte ab. Der erste Strahl traf Sykes direkt im Kopf und ließ sie zusammensacken. Der zweite Schuss traf ihren Körper. Der dritte ebenfalls. Sykes rührte sich gar nicht mehr. Doch „Pinch" hörte nicht auf zu schießen. Immer wieder surrte der Laser, ein Strahl nach dem anderen fuhr in den Körper der regungslosen Frau. Bis eine Hand von der Seite ihren Arm herunterriss, und ihr eine laute Stimme ins Ohr brüllte: „Lass sie! Es reicht! Sie hat genug."

„Pinch" entspannte ihren Abzugsfinger. Doch sie merkte, wie sie am ganzen Körper zitterte. Sie bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Vanna sie besorgt ansah, hörte noch das Echo von den Stimmen der anderen Kinder, die aus Leibeskräften gebrüllt hatten, um sie zu stoppen. Sie hatte die Kinder nicht gehört. Sie hatte gar nichts mehr wahrgenommen. Alles, was sie in diesem Moment beschäftigt hatte, war der Wunsch, die Frau zum Schweigen zu bringen. Endgültig. Sie holte tief Luft, atmete ein und aus und fühlte, wie ihr Herzrasen langsam nachließ. Sie erinnerte sich, wie es sich angefühlt hatte, diese Worte zu hören und diesen abgrundtiefen Hass zu empfinden. Sie wollte so etwas nie wieder erleben.

„Am Besten...", begann sie, doch sie musste sich räuspern, da ihr die Stimme versagte. „Am Besten fesselt ihr sie, bevor sie wieder zu sich kommt."

Vanna nickte aufmunternd. „Wird gemacht. Das kriegen wir hin." Sie legte den Kopf schief und sah „Pinch" zweifelnd an. „Vera? Ist alles in Ordnung mit dir?"

Zuerst nickte „Pinch", doch dann schüttelte sie den Kopf. „Es war... es war sehr... ich kann es nicht beschreiben. Aber für einen kurzen Moment fühlte ich mich, als wäre ich gar nicht ich. Als hätte mir jemand meinen Körper weggenommen und jemand anderen hineingesteckt. Und ich müsste zusehen."

„Du solltest dich vielleicht ausruhen", schlug Thor vor, der nun ebenfalls neben sie getreten war. „Die Söldner kommen ja bestimmt gleich, wenn du Recht hast. Und das hier war ganz schön heftig." In seiner Stimme klang mit, dass ihn der Kampf ziemlich beeindruckt hatte. Er schien von „Pinch" langsam eine andere Meinung zu bekommen.

Mit einem weiteren Kopfschütteln löste sich „Pinch" von den düsteren Gedanken und kam wieder vollends zu sich. „Nein. Dafür ist keine Zeit. Ich muss los." Sie blickte sich suchend um. Aber sie hatte Quincy nach Hause geschickt – es blieb ihr wohl nur, zu Fuß zu gehen. Den Rucksack hatte sie am Eingang zum Versteck abgestellt, und sie musste ihn noch holen. Und sie musste sich überlegen, wie es weiterging. „Bleibt alle hier! Die Söldner werden euch schon finden."

Thor sah sie skeptisch an. „Ist wahrscheinlich eine blöde Frage, aber brauchst du keine Hilfe?"

Sie erwiderte seinen Blick. Die Besorgnis in seinen Augen war echt. Als sie ihm das erste Mal begegnet war und gemerkt hatte, wie feindselig er sich ihr gegenüber verhielt, hatte sie nicht erwartet, so etwas jemals in seinen Augen sehen zu können. Aber es tat gut. Sie lächelte schwach. „Ich muss das alleine machen. Es gibt sonst niemanden." Sie warf einen Blick auf die übrigen Kinder. „Und ich brauche jemanden, der die anderen hier beschützt und sich um sie kümmert. Der dafür sorgt, dass sie endlich sicher nach Hause kommen." Sie musterte ihn kurz. „Wie wäre es? Willst du den Job?"

Thor zuckte in gespielter Unsicherheit die Achseln. „Wenn du meinst, dass ich das kann..."

Er wandte sich zum Gehen, doch sie fasste ihn an der Schulter und hielt ihn auf. Mit ernster Miene sah sie ihn an. „Vanna hat mir deine Geschichte erzählt. Egal, was vorher war, wir finden auch für dich eine Lösung. Versprochen!"

Ein gequältes Lächeln huschte über Thors Gesicht. „Ich bin es gewohnt, mir meine eigenen Lösungen zu suchen." Mit einem kurzen Zögern fügte er hinzu: „Trotzdem danke!"

Die übrigen Kinder hatten sich bereits um Sykes versammelt und fingen damit an, sie mit allem, was sie hatten, bewegungsunfähig zu machen. Sie gingen natürlich nicht so geschickt vor, wie Sykes es selber getan hatte, aber sie waren doch erstaunlich effektiv. Eines Tages muss ich mir auch mal so etwas beibringen lassen, dachte „Pinch" sich. Für einen kurzen Moment stellte sie sich vor, wie Sykes reagieren würde, wenn sie wieder aufwachte – gefesselt und von einer Horde Kinder umringt. Es würde für sie schlichtweg die Hölle sein. Ein Schicksal, das sie mehr als verdient hatte.

Sie drehte sich um und lief los, um den Rucksack zu holen. Und hoffentlich ein Leben zu retten.


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