Kapitel 17: Auf eigene Faust

Sie hatte nicht viel Zeit. Aber dafür umso mehr zu tun.

Zwei Dinge, die ihr seit dem Aufbruch aus dem Medizentrum nicht so recht schmecken wollten, spukten in Veras Kopf herum. Igors Ansprache, sie wäre auf das, was noch kommen sollte, nicht vorbereitet, mochte stimmen. Wenn sie tatsächlich zu spät kam, um die anderen Kinder zu retten... Sie wollte nicht an diese Möglichkeit denken. Aber sie musste es auch nicht. Igor mochte die dunklen Seiten der Galaxie kennen, wo jeder jeden zu töten bereit war, und er mochte die Auswirkungen der ständigen Konflikte seit den Komm-Kriegen aus erster Hand erlebt haben. Aber er kannte Johnson nicht – im Gegensatz zu Vera. Sie war überzeugt, dass Johnson sich an die Abmachung halten würde, die er mit seinem mysteriösen Geschäftspartner, diesem Foster getroffen hatte. Er würde den Kindern kein Leid zufügen, wenn er es nicht musste. Und er hatte seine Leute unter Kontrolle – die würden auch nicht weiter gehen, als sie schon gegangen waren. Und solange deren Mission nicht vorbei war und sie nicht gefunden hatten, wonach sie suchten, würde Vera genug Zeit haben, die Kinder zu befreien und in Sicherheit zu bringen.

Sie konnte nicht darauf warten, dass die Eingreiftruppe es erledigte. Sie musste es selbst tun. Sie musste da raus, so schnell wie möglich. Und sie wusste auch schon, wie sie es anstellen würde.

Aber sie musste sich erst vorbereiten.

Ihre erste Station war der Spind. Ihr Daumenabdruck öffnete das Schloss sofort, und sie fand darin alles, was sie darin zu finden hoffte. Kates Worte hatten sie beeindruckt und ihr ein neues Gefühl dafür gegeben, was Igor und die anderen Söldner an der Akademie wirklich in ihr sahen. Und sie begriff es nach und nach, dass es an ihrem dreizehnten Geburtstag nicht bloß darum ging, wie die anderen Leute mit ihr umgingen und sie ansahen. Es ging vor allem darum, was für ein Bild sie von sich selbst bekam. Dass sie lernte, zu akzeptieren, wer sie war. Jetzt hatte sie es verstanden. Jetzt war die Zeit gekommen.

Sie nahm die Schachtel mit dem Kampfanzug, den sie zum Geburtstag bekommen hatte, behutsam aus dem Spind. Mit der Schachtel unter dem Arm suchte sie sich eine ruhige Ecke, wo sie sich umziehen konnte. Ihre Stiefel, die sie schon zu Anfang der Mission getragen hatte, trug sie immer noch – sie gehörten nicht zu den Klamotten, die Chris ihrer Mutter gegeben hatte. Nur leider schien ihr Überlebensmesser in ihrer Jackentasche verblieben zu sein. Na ja, dafür würde sich bestimmt Ersatz finden.

Das Oberteil streifte sie über ihr T-Shirt, und sie spürte, wie es sich an ihre Körperform anpasste, doch gleichzeitig im Brustbereich steifer zu werden schien. Behutsam fuhr sie mit den Fingern über die Oberfläche und stellte fest, dass diese sehr hart und robust geworden war. Ein Körperpanzer, dachte sie erfreut. Das wurde immer besser. Auch die Hose zeigte ein entsprechendes Verhalten – die Oberfläche an Oberschenkeln und Schienbein wurde stabiler, auch als sie kräftig dagegen klopfte. Das Kniegelenk blieb flexibel, damit sie ihre Bewegungsfreiheit behielt. Natürlich würde keines der Kleidungsstücke einen direkten Treffer mit dem Laser abwehren können. Dessen war sich Vera sicher, aber gegen die Auswirkungen stumpfer physischer Gewalt hatte sie nun einen gewissen Schutz.

Die Jacke zog sie vorerst noch nicht an. Es gab etwas, das Vera vorher unbedingt tun wollte. Sie suchte sich einen Spiegel und begann, ihr langes Haar zu einem Zopf zu drehen. Das tat sie aus zwei Gründen. Zum Einen würde es nicht damit getan sein, die Kinder zu befreien – sie würde auch Johnson und den beiden Handlangern gegenübertreten müssen. Es würde garantiert zu einem Kampf kommen. Und niemand, den Vera kannte, ging mit offenen Haaren in die Schlacht, wenn er kein Metaller war. Der Gedanke an den Kampf machte sie jedoch nervös – und das Flechten des Zopfes hatte eine beruhigende, fast meditative Wirkung auf sie. Mit jeder Windung, mit jedem Zentimeter ihres Haares fühlte sie sich mehr und mehr bereit dazu. Bald war der Zopf fertig, und sie sicherte ihn mit einem festen Gummiband. Dann streifte sie die Jacke über und betrachtete sich im Spiegel.

Ihr war, als würde eine andere Person zurückblicken. Der Kampfanzug, die Jacke, der strammste, ordentlichste Zopf, den sie je geflochten hatte, und das zu allem entschlossene Gesicht... das war nicht die Vera, die mit einer Gehirnerschütterung aus dem Niemandsland im Norden zurückgekehrt war. Das war auch nicht die Vera, die den Verbrechern vorgegaukelt hatte, sie wäre eine zwölfjährige, harmlose Ausreißerin. Sie war nicht mal mehr das elfjährige Mädchen, das auf dem Raumhafen von Coock City gesessen und dem Abflug eines Raumschiffs zugehört hatte, das sie in einer kindischen Laune unbedingt selbst bestiegen haben wollte. Nein, die Person, die zurückblickte... war „Pinch". Eine Söldnerin, deren Jugend nichts darüber aussagte, wie gefährlich sie tatsächlich sein konnte. Sie verstand die Bedeutung ihres Namens, und zum ersten Mal in ihrem Leben trug sie ihn mit Stolz. Ja, sie war „Pinch". Und jeder, der sich ihr in den Weg stellte, würde es bitter bereuen.

Natürlich war es mit Kleidung und Aussehen nicht getan. Soviel war ihr klar. Ihr nächster Abstecher war die Waffenkammer. Das geschäftige Treiben hatte sich von den Fluren der Akademie nach draußen verlagert, und so konnte sie ungesehen bis zu der schweren Tür vordringen, hinter der das Waffenlager lag. Diese Tür war selbstverständlich versperrt. Aber das war kein Problem – Vera hatte oft Waffen hierher bringen müssen und wusste bereits den Code. Selbst, wenn dieser alle drei Monate geändert wurde.

„Pinch" gab den erforderlichen Code in das Bedienfeld neben der Tür ein, und diese schob sich mit einem lauten Zischen zur Seite. Argwöhnisch blickte sie sich um, ob es jemand gehört hatte. Aber es war niemand in der Nähe. Zum Glück schloss sich die Tür auch automatisch, nachdem sie hindurch geschlüpft war. Sie schaltete die niedrigste Beleuchtungsstufe ein und begab sich zwischen die Regale, auf der Suche nach Ausrüstung.

Die Regale waren ziemlich geplündert. Wahrscheinlich hatte der Eingreiftrupp alle leichten Waffen mitgenommen, und die schweren Geschütze waren für „Pinch" einfach nicht geeignet. Doch an Messern war kein Mangel. „Pinch" steckte zwei ein – eines war wie das Überlebensmesser, das Tammy ihr geschenkt hatte, mit mehreren Funktionen und einer gegenüber lebendem Gewebe harmlosen Klinge. Das zweite war jedoch gefährlicher: ein leichtes, aber sehr stabiles Kampfmesser mit einer Klinge von der Länge ihrer gesamten Hand. Während sie das Überlebensmesser dieses Mal in einer hinteren Hosentasche verstaute – sie lernte aus dem Fehler vom letzten Mal, und es war nicht sicher, ob sie nicht wieder in eine Situation geriet, wo sie sich aus Fesseln befreien musste – fand sie für das Kampfmesser eine entsprechende Lederscheide, die sie an ihrem Gürtel anbrachte.

Messer reichen nicht, Mädchen, diese Leute haben Laserwaffen, rief sie sich ins Gedächtnis und sah sich suchend um. Irgendwo musste es doch sein...

Im zweiten Gang stand der Glaskasten, ihr anderes Geburtstagsgeschenk. „Pinch" ging langsam darauf zu und überlegte. Es hatte sich am ursprünglichen Problem nichts geändert: Sie wusste immer noch nicht, wie der Code lautete. Ein fünfstelliger Code... Und Igor hatte ihn sich ausgedacht. Doch als sie so darüber nachdachte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Ich Idiot! Es war so offensichtlich, und „Pinch" ärgerte sich maßlos, dass sie nicht längst darauf gekommen war.

Sie gab den Code ein: 7-4-6-2-4. Mit einem Klicken öffnete sich der Glaskasten.

„Pinch" konnte den Deckel an einem Scharnier nach hinten klappen. Die Pistole auf dem Displayständer glänzte in der matten Beleuchtung der Waffenkammer verheißungsvoll. Im Kasten war eine Anzeige, dass die Waffe voll geladen war. Zwanzig Schuss, alle zu ihrer Verfügung. „Pinch" ergriff die Pistole ehrfürchtig und studierte die einzelnen Teile. Sicherung, Abzug, Energieanzeige... Im unteren Bereich des Kastens, den „Pinch" durch einen verborgenen zweiten Deckel öffnen konnte, fand sie sogar einen passenden Waffengurt mit einem Halfter, das genau auf ihre Waffe zugeschnitten war. Sie schob die Pistole in das Halfter, penibel darauf achtend, dass die Sicherung noch aktiv war, und schnallte sich den Gurt um ihre Taille, wie sie es von den anderen Söldnern kannte. Mit dem Messer an ihrer linken Hüfte und der Pistole auf Höhe ihres rechten Oberschenkels fühlte sie sich für den Kampf gerüstet.

Es gab noch andere Ausrüstung, die ihr nützlich sein konnte, und sie nahm noch einiges mit, was klein genug war, um in ihrer Jacke und den Hosentaschen verstaut zu werden. Doch als sie gehen wollte, fiel ihr Blick auf einen Gegenstand... und sie kam ins Grübeln. Im Kampf bringt mir das nicht viel, kam ihr der Gedanke. Dieser wurde aber sofort von einem weiteren Gedanken abgelöst: Woher willst du das wissen? Achselzuckend beschloss sie, das Ding auch noch mitzunehmen. Aber sie suchte sich zumindest einen Rucksack, in dem sie es verstauen konnte.

Als sie die Waffenkammer verließ, hatte sie eine gute Vorstellung davon, wie es weitergehen würde. Um das zweite Problem, das sie beschäftigte, würde sie sich nach ihrer Rückkehr kümmern müssen. Es war diese kleine Einzelheit, die ihr bei diesem Lieutenant Garrett aufgefallen war. Sie hoffte inständig, dass es ihren Vater oder die Akademie nicht in Schwierigkeiten brachte, wenn sie niemandem davon erzählte. Aber sie konnte es sich nicht leisten, ihren ursprünglichen Plan zu ändern. Sie wusste auch nicht, wieviel Zeit ihr noch blieb. Denn draußen stand ihr Weg, um den Kindern zur Hilfe zu eilen, und wurde gerade beladen. Aber wenn Igor ihr zugehört hatte – ausnahmsweise mal wirklich zugehört! – dann würde er es vielleicht auch bemerken. Dieses kleine Detail, das ihr schon im Medizentrum aufgefallen war.

Als sich die beiden Sicherheitsleute vorgestellt hatten, hatte Vera einen Blick auf ihre Uniformen geworfen. Der Seargeant hatte seinen Namen, Rick Hammond, auf der Brust stehen. Alles kein Problem, was „Pinch" betraf. Doch Garrett, der Lieutenant mit dem falschen Lächeln, hatte versucht, sein Namensschild auf der Brust unauffällig zu verbergen. Es war ihm für einen kurzen Moment nicht gelungen – kurz genug, dass Vera es aufgefallen war, ohne sich jedoch einen Reim darauf zu machen. „Pinch" machte sich nun sehr wohl einen Reim darauf. Das Namensschild auf seiner Brust lautete „Andrew F. Garrett".

F wie Foster.


Die Verbindung knisterte leise vor sich hin, bis schließlich die erwartete Stimme ertönte: „Ja, was ist los?"

Lieutenant Garrett hatte sich im Schatten des Kommunikationsraum über die Anlage gebeugt und versuchte, so leise wie möglich zu sprechen. „Wir haben ein gewaltiges Problem."

„Wie gewaltig?" Johnsons Stimme blieb kühl und berechnend wie immer. Garrett fragte sich, ob diesen Mistkerl jemals etwas aus der Ruhe brachte.

„Ihnen ist ein Mädchen entkommen. Vera Lippson, dreizehn Jahre alt. Sie hat Sie und Ihre Leute genau beschrieben und Ihre Pläne dargelegt." Garrett blickte sich nervös um, ob jemand dieses Gespräch belauschte.

Am anderen Ende der Verbindung lachte Johnson leise. „Durchtriebenes kleines Ding. Aber ich glaube kaum, dass der Geschichte einer Ausreißerin groß Beachtung geschenkt..."

„Nur leider ist sie keine Ausreißerin", zischte Garrett gereizt. „Sie ist die Tochter von Igor Lippson und Anwärterin an der Söldner-Akademie von Hank Bodderias. Ihr Vater ist innerhalb der Zentralius-Sektoren ziemlich bekannt."

„Was?" Garrett hatte sich geirrt. Diese Nachricht brachte Johnson tatsächlich aus der Ruhe. „Igor Lippson? Big Eye? Ist das derselbe Typ?"

„Es kommt noch besser", fuhr Garrett fort, und seine Nervosität steigerte sich noch um eine Potenz. „Vera Lippson war auf einer Aufklärungsmission mit einem Shuttle innerhalb Ihres Sektors unterwegs. Das Shuttle wurde abgeschossen. Kann es sein, dass Sie etwas damit zu tun hatten?"

Als Antwort kam ein schwerer Seufzer aus der Leitung. „Na ja, zumindest weiß ich, dass die automatischen Geschütze funktionieren. Aber wir haben kein abgestürztes Shuttle bemerkt. Das Mädchen muss einen ziemlichen Weg zurückgelegt haben, um uns zu erreichen."

Garrett rollte genervt mit den Augen. „Das ist noch Ihre geringste Sorge, Johnson. Söldner der Akademie durchkämmen jetzt das Gebiet. Wenn Sie gefunden werden..."

„Uns findet keiner. Machen Sie sich nicht ins Hemd!"

„Mir wurde außerdem gesagt, dass Sie weitere Kinder in Ihrer Gewalt haben", gab Garrett durch.

Längeres Schweigen antwortete ihm. Dann ertönte Johnsons Stimme erneut: „Ich hatte eigentlich nicht vor, Sie damit auch noch zu belasten..."

„Ich weiß auch von nichts", erwiderte Garrett kalt. „Schaffen Sie sie aus dem Weg! Endgültig!"

Wieder längeres Schweigen, bevor Johnson die erwartete Frage stellte: „Was ist mit unserer Abmachung?"

„Wir haben jetzt eine neue Abmachung, Johnson", schnappte Garrett. „Eine, bei der ich keine Zeugen gebrauchen kann. Sie werden dafür alles Notwendige veranlassen. Und was mich angeht, ich werde mich um die Lippson-Göre kümmern."

„Wir haben die Steine noch nicht", erinnerte Johnson ihn. „Aber wir sind dicht dran. Sie sind absolut sicher, dass Sie Ihren Teil der Abmachung einhalten können? Ich meine, dass Sie auch den Mumm dazu haben?"

„Darüber sollten Sie sich nicht den Kopf zerbrechen, Johnson." Garrett stieß ein leises, fieses Lachen aus. „Ich habe schon eine Idee, wie man sie zum Schweigen bringen kann. Sie sorgen einfach dafür, dass die Ware bereit steht, wenn es soweit ist. Und wie gesagt: Keine Zeugen! Und keine Beweise!"

Johnson brummte etwas Unverständliches. Etwas deutlicher sprach er dann: „Da soll noch einer sagen, ihr Leute von der planetaren Sicherheit wärt nicht flexibel. Wir kümmern uns um unseren Teil. Johnson Ende." Die Verbindung brach ab.

Garrett saß noch einen Moment am Pult und dachte nach. Ja, es würde ihm ein Leichtes sein, dieses Mädchen mundtot zu machen. Wenn es keine Beweise gab, dann würde ihr ohnehin keiner glauben, ob Söldnerin oder nicht. Aber es konnte nicht schaden, ein wenig nachzuhelfen.

Er stand vom Stuhl auf, drehte sich um... und sah sich einer Frau gegenüber, die in der offenen Tür des Kommunikationsraumes stand. Einer Frau in der Kleidung einer Söldnerin – mit einem Emblem auf der Brust, welches zwei schwerbewaffnete Einhörner zeigte. „Das war ja hochinteressant", stellte die Söldnerin betont ruhig fest.

Garrett blickte auf ihre rechte Hand, die auf dem Kolben einer Laserwaffe lag. „Hören Sie", beschwichtigte er sie und hob zur Beruhigung seine linke Hand. Seine rechte glitt wie zufällig ebenfalls in die Nähe seines Gürtels... „Ich weiß ja nicht, was Sie gerade mitbekommen haben..."

„Doch so Einiges", erklärte Kate Lipinsky, die Anführerin der „Unicorn Riders", in deutlich kühlerem Tonfall. „Dass Sie Jagd auf kleine Mädchen machen, zum Beispiel."

„Ich versichere Ihnen", sagte Garrett mit seinem entwaffnendsten Lächeln, „das ist alles vollkommen aus dem Zusammenhang..."

Es war niemand in unmittelbarer Nähe. Das plötzliche Aufblitzen, das Surren des Lasers und das Poltern, als ein menschlicher Körper schwer zu Boden fiel, bekam daher außerhalb des Raumes niemand mit.


Der Transporter flog nach einer Stunde ab. Eine Stunde, die die Angestellten der Akademie damit zubrachten, Vorräte und Ausrüstung in kleinen und großen Containern an Bord zu bringen. Niemand von ihnen verschwendete allerdings einen Gedanken daran, diese Container noch einmal zu überprüfen, nachdem sie verladen waren.

Das hätte allerdings auch überhaupt nichts gebracht, denn „Pinch" war nicht darin. Sie hatte sich ein ganz anderes Versteck an Bord gesucht, auf das niemand gekommen wäre. Es war nicht gerade gemütlich darin, aber sie hatte zumindest genug Platz, und niemand konnte von außen sehen, dass sich jemand darin befand. Es hätte auch niemand vermutet – für einen ausgewachsenen Menschen wäre die Öffnung, durch die sich „Pinch" hatte zwängen müssen, viel zu eng gewesen.

Das Fluggerät war allerdings, im Vergleich zu den Shuttles der Akademie, nicht wirklich das schnellste Pferd im Stall, und so dauerte der Flug zu seinem Zielort gute zwei weitere Stunden. „Pinch" begann sich zu langweilen und Zweifel an ihrer Mission zu bekommen. Doch um sich abzulenken, öffnete sie ihren Rucksack und besah sich den letzten Gegenstand, den sie mitgenommen hatte, etwas genauer. Es würde einige Arbeit erfordern, um es bereit zu machen. Aber wenn es so funktionierte, wie sie beabsichtigte, dann hatte sie eine absolut wertvolle Trumpfkarte in ihrer Hinterhand. Mit dem Überlebensmesser und einer winzigen Lampe machte sie sich ans Werk. Es dauerte jedoch lange, da sie sehr vorsichtig vorgehen musste, und sie überlegte sich jeden Schritt genau, bevor sie ihn ausführte. Als sie fertig war, war der Transporter längst gelandet.

„Pinch" hörte, wie die Söldner vor Ort den Transporter entluden, und beschloss, noch ein wenig länger in ihrem Versteck zu bleiben. Doch irgendwann erstarb die Unruhe draußen. Sie packte den Gegenstand wieder in ihren Rucksack und kletterte durch die enge Öffnung zurück ins Freie. Es war eine kleine Frachtluke an der Außenseite des Transporters, die nie benutzt wurde und von der die meisten Söldner nicht einmal mehr wussten, dass es sie überhaupt gab. Als „Pinch" draußen war, bemerkte sie, dass es noch immer stockduster war. Das Landefeld war nicht beleuchtet, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und da das Suchen in der Dunkelheit deutlich schwerer war, hatte sich die Eingreiftruppe wohl geschlossen aufs Ohr gehauen. Mehr als eine Handvoll Wachen, die auf das Lager aufpassten, waren hier nicht.

Doch es gab ein weiteres Problem. Das war nicht die Absturzstelle ihres Shuttles. Natürlich nicht, dachte sich „Pinch". Oder sollen die riskieren, dass noch ein Gleiter abgeschossen wird? Das hinterließ in ihrem ursprünglichen Plan allerdings eine kleine Delle. Sie hatte angenommen, dass sie den gleichen Weg nehmen würde, den sie zuvor auch gelaufen war. Nun musste sie sich erst einmal neu orientieren. Und das in finsterer Nacht. Na toll...

Leises Wiehern in ihrer Nähe ließ sie aufhorchen. Ihr fiel es wieder ein: Die Reiterstaffel! Hank hatte vor einiger Weile aus dem Farmland von Coock City einige Pferde an die Akademie bringen lassen, mit denen die Söldner in unwegsamem Gelände unterwegs sein sollten. Sie sah sich in dem schwach beleuchteten Lager um und entdeckte den Pferch ungefähr hundert Meter vom Landeplatz entfernt. Nachdem die Söldner alle Container ausgeladen und in unmittelbarer Nähe zum Transporter abgestellt hatten, gab es auch genug Deckung für „Pinch", um dorthin zu schleichen.

Sie schnappte sich den Rucksack und rannte geduckt los. Die ersten Container waren schnell erreicht, ohne dass jemand etwas bemerkte. Sie kauerte in Deckung und tastete nach der Laserwaffe in ihrem Gürtel. Doch dann nahm sie die Hand schnell wieder weg. Egal, ob sie jemand aufzuhalten versuchte, das hier waren nicht die Bösen. Und sie würde ihre Energie noch für etwas Wichtigeres benötigen. Nachdem sie kurz Luft geschöpft hatte, rannte sie weiter.

Dann ertönte ein leiser Ruf: „Hey, bewegt sich da hinten was?" Und sie hörte Schritte, die vorsichtig näher kamen. „Pinch" zog noch weiter den Kopf ein, beschleunigte ihren Lauf und erreichte den Pferch innerhalb weniger Sekunden. Hinter der Umzäunung warf sie sich zu Boden und außer Sichtweite. Dort hielt sie den Atem an. Die Schritte kamen näher, stoppten dann jedoch. „Ich sehe nichts", rief der betreffende Söldner. „Pinch" erkannte die Stimme. Es war Deniz, einer der jüngeren Mitarbeiter der Akademie. Er hatte sich seine Sporen vor Kurzem erst verdient, machte aber außer als Zielscheibe in Übungsmissionen oder durch das Ausführen niederer Tätigkeiten im Feld nicht nennenswert von sich reden. Entsprechend drehte er sich, nachdem er sich noch einmal umgesehen hatte, wieder um und kehrte zu seinem ursprünglichen Posten zurück. „Dann wird da auch nichts gewesen sein...", hörte sie noch von ihm. „Pinch" grinste. Wenn die Sache ausgestanden war, würde es ihr richtig Spaß machen, ihn damit aufzuziehen.

Es waren vier Pferde im Pferch. Drei von ihnen kamen „Pinch" nicht bekannt vor, doch das vierte kannte sie. Es war tatsächlich das Pferd, auf dem sie selbst schon einmal geritten war. Sie schlich sich in den Pferch und zu dem Pferd hin. Es stand erwartungsvoll da und konnte sie bereits wittern, als sie sich näherte. „Hey, Quincy!", flüsterte sie dem Tier zu. „Kennst du mich noch?" Sie legte ihre Hand auf die Nüstern des Pferdes, und das Tier scheute nicht einmal. Es war bereits gesattelt und bereit – die Söldner konnten ja jederzeit zu einem Einsatz gerufen werden. Nachdem „Pinch" das Pferd noch ein paar Male beruhigend gestreichelt hatte, nahm sie den Kopf in beide Hände und sah ihm in die Augen. „Du musst mir jetzt helfen, okay?"

Quincy schnaubte und nickte mit dem Kopf, als hätte er verstanden. Mit einem letzten kurzen Zögern schwang sich „Pinch" hinauf in den Sattel. Der Pferch war geschlossen, doch sie wusste, dass es für Quincy kein großes Hindernis war. „Dann los!", rief sie. Mit einem Wiehern setzte sich Quincy in Bewegung und galoppierte los.

Diesen Lärm konnte nicht einmal Deniz überhören. Auch die anderen Söldner, die noch wach waren, sprangen aus ihren Deckungen hervor und sahen nach, was das zu bedeuten hatte. Mit einem gewaltigen Satz, bei dem „Pinch" doch etwas mulmig wurde, setzte Quincy über das brusthohe Gatter des Pferches hinweg und stürmte durch das Lager. Die aufgeregten Rufe der Söldner, die sich Sekunden später in Alarmschreie verwandelten, ignorierte „Pinch" und lenkte das Pferd auf einen Weg, der so schnell wie möglich nach draußen führte. Dann flammte die Beleuchtung auf.

„Pinch" sah voller Entsetzen, wie drei Söldner direkt vor ihr mit gezogenen Waffen Stellung bezogen und auf sie anlegten. Ihre beiden Hände hatten Quincys Zügel fest im Griff, und es dauerte einen Moment, bis ihre rechte Hand losließ und nach ihrer eigenen Waffe tastete. Ein Moment, der viel zu lange dauerte. Doch die drei Söldner sahen in dem plötzlichen Licht auch die Gestalt, die auf sie zugeritten kam... und erkannten sie. „Das ist Pinch", rief einer voller Erstaunen. Bei diesen Worten feuerten die Söldner nicht. Stattdessen sprangen sie in höchster Not aus dem Weg.

„Tut mir leid!", rief „Pinch" ihnen noch zu, als Quincy an ihnen vorbeikam. Sie hatten das Ende des Lagers erreicht. Vor ihnen lag das Niemandsland. „Pinch" gab Quincy noch einmal die Sporen, um das Pferd zur Eile anzutreiben, und ließ das Chaos aus Panik und Verwirrung, das sie unter den Söldnern gestiftet hatte, hinter sich. Doch sie hoffte verzweifelt, dass keiner von ihnen ihrem Vater davon erzählen würde. Der würde ihr das nie verzeihen.


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