Kapitel 13: Eine Lösung für alle Probleme

Wie jeder normale Mensch träumte auch Vera, wenn sie schlief. Aber sie hatte ihren Träumen nie viel Bedeutung beigemessen. Egal, ob sie gut oder schlecht waren, für sie geschahen sie einfach. Doch in dieser Nacht, als sie endlich wieder richtig schlafen konnte, da träumte sie intensiv. Und es waren keine angenehmen Träume.

In ihrem Traum lief sie weg. Sie rannte davon, ließ Igor und Helen zurück, die ihr beide traurig hinterher blickten, aber sie nicht einholen oder aufhalten konnten. Butter, der Hund, rannte eine Weile mit ihr, aber als sie zu niesen anfing, blieb auch er stehen und fiel hinter ihr zurück, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. Sie rannte und rannte, quer durch Coock City, dann die Badlands, dann die nördliche Wildnis. Sie sah in der Ferne das abgestürzte Shuttle, sah Tammy davor am Boden liegend, blutend und die Hand flehend in ihre Richtung ausgestreckt, doch sie ignorierte sie und rannte weiter. Sie rannte, bis sich zwei übelriechende klauenartige Hände um ihren Körper schlossen und ihr alle Luft aus den Lungen pressten. Vor sich sah sie zwei Gesichter: das von Sykes, welche sie hämisch angrinste, und das von Johnson, der sie nur missbilligend ansah und den Kopf schüttelte. Dann spürte sie, wie sich feste Seile um ihre Handgelenke und Fußknöchel legten und sie in vier verschiedene Richtungen zerrten. Sie wollte schreien, doch aus ihrem Mund wollte kein einziger Ton kommen. Unheilvoll blickte Johnson sie an, sein Gesicht eine Maske aus purer Bösartigkeit. Die Seile zogen immer stärker, und es wurde Vera klar, dass es sie jeden Augenblick zerreißen würde. Doch in dem Moment, als sie spürte, dass ihre Glieder nachgaben, hörte sie einen einzigen Satz von Johnson, und dieser hallte in ihren Ohren wider wie ein Donnerschlag.

Dann hörte sie das laute Knacken ihrer brechenden Knochen... und wachte auf. Schweißgebadet, nach Luft schnappend und sich panisch umsehend, aber sie war wach. Sie blickte in die Finsternis um sich herum und tastete mit ihren Fingern über den Schlafsack, mit dem sie zugedeckt war. Es war alles in Ordnung. Soweit die Dinge in Ordnung sein konnten. Immerhin war sie noch immer verloren in der Wildnis, in der Obhut von vier ausgerissenen Kindern und einem Hund. Die Dinge hatten schon deutlich schlechter gestanden.

Aber die Worte von Johnson aus ihrem Traum spukten noch immer in ihrem Kopf herum, und sie konnte ihr klopfendes Herz einfach nicht beruhigen. Sie wusste, es war nur ein Traum gewesen, doch die Worte klangen in ihr nach. Und nach allem, was sie erlebt hatte, war sie sich nicht sicher, ob nicht tatsächlich etwas dahinter stecken konnte.

Deine Eltern sind als Nächste dran...

Sie blinzelte mehrfach, um die Schatten des Traumes aus ihren Gedanken zu vertreiben. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie ein kleines, schwaches Licht neben sich, das die Farbe änderte. Kleine Finger huschten über diesem Licht und warfen einen Schatten an die Decke. Es war Jenny, die neben ihr lag und eine Art Fingerspiel mit dem Licht veranstaltete. Sie hatte bemerkt, dass Vera neben ihr aufgewacht war, ließ sich aber dadurch nicht stören. Alle anderen schienen zu schlafen, Jedenfalls hörte sie leises Schnarchen aus einer der Ecken der Höhle.

„Hi!", begrüßte Vera die kleine Jenny leise. Diese blickte noch einmal kurz von ihrem Licht auf und sah Vera wortlos an, dann wandte sie sich wieder ihrem Spiel zu.

Gutes Gespräch, dachte Vera sarkastisch. Sie fragte sich, ob das Mädchen überhaupt jemals sprach, oder ob die Erlebnisse, die sie durchgestanden hatte, so traumatisch gewesen waren, dass sie nie wieder reden würde. Taylor hatte wohl keine Probleme, sich mitzuteilen, aber er schien ohnehin der lebhaftere, aktivere der beiden Zwillinge zu sein. Und der mutigere Zwilling obendrein. Jenny wäre bestimmt niemals alleine auf Nahrungssuche gegangen oder hätte den Mut aufgebracht, Vera aus den Fängen der Verbrecher zu befreien.

Sie bemerkte, dass ihr Rucksack ganz in der Nähe stand, und zog ihn vorsichtig zu sich herüber. Die Kinder hatten sich über die Backwaren und den Saft hergemacht, aber es war noch immer reichlich vorhanden. Vera fragte sich, was erforderlich war, damit die Nahrungsvorräte, die ihre Mutter zusammengestellt hatte, eine sichtbare Delle bekamen. Es war nur gut, dass die meisten Lebensmittel eine sehr hohe Haltbarkeit besaßen. Sie nahm einen kräftigen Schluck Saft und ein Sandwich zu sich. Während sie aß, merkte sie, dass sie immer noch Kopfschmerzen hatte, aber die Übelkeit nicht mehr so schlimm war. Und nach dem Rationseintopf von Jesper war sie froh, wieder etwas Gutes essen zu können. Sie aß das Sandwich komplett auf und wunderte sich, dass Butter nicht bei ihr angehechelt kam. Obwohl sich ihre Augen langsam an die Dunkelheit in der Höhle gewöhnten, konnte sie Vanna und Butter nicht entdecken. Taylor lag in Vannas Schlafsack und schlief friedlich. Das leise Schnarchen kam von Thor, der auf der anderen Seite des Raumes auf seinem Platz lag. Dass er wieder in die Höhle gekommen war, hatte sie überhaupt nicht mitbekommen.

Kurz überlegte sie, was Vanna zugestoßen sein konnte, doch sie wusste, sie musste sich keine Sorgen machen. Da es ohnehin weniger Schlafplätze gab, als gerade gebraucht wurden, und da die Verbrecher dort draußen waren, war das Mädchen wahrscheinlich auf Wachtposten. Bestimmt sogar, denn dafür hatte sie wohl auch Butter mitgenommen. Aber sie konnte eventuell auch etwas menschliche Gesellschaft gebrauchen. Leise arbeitete Vera sich unter dem Schlafsack hervor und stellte ihren Rucksack beiseite. Vorsichtig ging sie zu dem kleinen Tunnel, der nach draußen führte, in der Hoffnung, niemanden zu wecken.

„Nimmst du mich mit?"

Die Frage kam so plötzlich und so unerwartet, dass Vera zusammenzuckte. Überrascht drehte sie sich um. Die Stimme klang nach Taylors, aber der schlief fest, und es war nur Jenny da, die sie erwartungsvoll und fragend ansah. Ein paar Herzschläge dauerte es, bis sie begriff, dass das kleine Mädchen gerade etwas gesagt hatte.

„Was meinst du?", fragte sie zurück. „Nach draußen?" Sie deutete auf den Höhlenausgang.

Jenny schüttelte den Kopf. „Nach Hause. Dahin gehst du doch, oder?"

Es war etwas Sehnsüchtiges, etwas Trauriges in ihrer Stimme, das Vera umdrehen ließ. Sie schlich zurück zu dem Lagerplatz und setzte sich darauf, wobei sie Jenny ernst ansah. „Ich würde gerne", antwortete sie. „Aber ich weiß im Moment nicht, wie."

Jenny schwieg wieder. Aber ihre Hand tastete nach Veras und ergriff sie sanft. Und die Augen des Mädchens schienen feucht zu schimmern. In dem Schein des kleinen, ständig die Farbe wechselnden Lichts, konnte Vera es nicht eindeutig erkennen, doch es lag ein Flehen in Jennys Blick, das ihr das Herz schwer werden ließ. Und ihr war klar, dass sie zwar Taylors und Vannas Geschichte kannte. Aber sie hatte Jennys Seite der Geschichte nicht gehört. Und Jenny schien nicht glücklich damit zu sein, hier draußen als Ausreißerin zu leben. Für die anderen war es ein aufregendes Abenteuer, die Freiheit zu genießen, aber Vera konnte in Jennys Blick erkennen, dass sie davon überhaupt nichts hatte.

„Du vermisst deine Eltern, richtig?" Vera erwiderte behutsam Jennys Griff um ihre Hand. Irgendwie spürte sie, dass hier ein wenig Trost angebracht war.

Jenny nickte, aber dann schüttelte sie den Kopf. „Nicht nur. Meine Eltern sind tot, sie kommen nicht mehr wieder. Ich weiß das. Aber ich vermisse es, ein richtiges Zuhause zu haben. An einem Ort zu leben, an dem es sicher ist. Nicht so wie hier."

Nach allem, was Vera von Vanna erfahren hatte, war wohl das neue Zuhause von Taylor und Jenny nicht das liebevollste gewesen. Aber es war wohl kaum Jennys Idee gewesen, sich stattdessen hier draußen zu verstecken. Jenny bestätigte das, als Vera sie darauf ansprach: „Taylor mag Onkel Joshua nicht. Er verbietet ihm ständig Dinge, und sie kommen nicht miteinander aus. Mir ist das egal. Er mag uns vielleicht nicht lieben, als wäre er unser Vater, aber er sorgt für uns." Dann setzte wieder ihr altbekanntes Schweigen ein, als würde sie Mut dafür sammeln, die nächste Frage zu stellen: „Wie ist es bei dir zu Hause?"

Darüber musste Vera nachdenken. Hätte man sie vor zwei Jahren gefragt, dann hätte sie geantwortet, dass es abstoßend und öde war, und dass ihr eigener Vater ungefähr soviel für sie übrig hatte wie Onkel Joshua für seine Nichte und seinen Neffen. Sie hätte keine sehr positiven Worte gefunden, mit denen sie ihr Zuhause beschrieben hätte. Aber seitdem hatte sich einiges verändert. Und ihr war klar geworden, dass ihre Eltern alles Menschenmögliche taten, um ihr ein sicheres, gutes Heim zu bieten. Dass ihr Vater sein Söldnerdasein für den Job an der Akademie aufgegeben hatte, und dass ihre Mutter seit jeher alles tat, um für sie da zu sein, das hatte sie nach einer Weile begriffen. Trotzdem gab es genug Zeiten, da gingen sie ihr mächtig auf den Keks.

Sie sah Jenny im schummrigen Licht an, und ihr blieben die Worte im Hals stecken. Vor ihr saß jemand, der diese Fürsorge wohl niemals wieder erleben würde, der in diesem Sinne kein Zuhause mehr hatte. Ein Mädchen, das außer ihrem Zwillingsbruder niemanden mehr hatte, der sich um sie scherte. Jemand, der vergessen hatte, wie so ein Leben überhaupt war. Vera war gerade für einen Tag von ihrem Zuhause weg, und sie empfand bereits Heimweh. Hier draußen zu leben, das konnte sie sich kaum vorstellen. Sie wusste einfach nicht, was sie sagen sollte. „Na ja...", begann sie zögernd, in der Hoffnung, dies würde Jenny reichen. Aber der erwartungsvolle Blick Jennys bohrte sich in ihr Gesicht, und ihr war klar, dass es nicht reichte.

Ehrlichkeit half hier wohl am Besten. „Ich wollte selber mal weglaufen", erzählte Vera ihr. „Da war ich in deinem Alter. Ich fühlte mich... sicher und geborgen. Aber es war so öde, dass es mich ankotzte. Ich dachte, ich würde eines Tages vor Langeweile sterben. Ich war erst dann so richtig glücklich mit meinem Leben, als ich zur Akademie ging."

„Aber deine Eltern", hakte Jenny nach. „Sind sie gut zu dir?"

Mit einer vielsagenden Geste deutete Vera auf den Rucksack. „Meine Mutter... die auf jeden Fall. Was meinen Vater angeht..." Sie zögerte, aber sie konnte ihm all die Dinge, die er in der Vergangenheit getan hatte, in diesem Moment nicht länger übelnehmen. „Er auch. Auf seine Art und Weise."

Mit dieser Antwort schien sich Jenny zufrieden zu geben. Nur machte es das nicht unbedingt besser. Nach einer Weile hörte Vera leises Schluchzen von ihr. Wortlos zog sie die Kleine zu sich heran und nahm sie in den Arm. „Ich verstehe dich", flüsterte sie ihr ins Ohr. „Ich vermisse meine Eltern auch..."


Sie wusste nicht, wie spät es genau war, aber nach einer ganzen Weile kroch Vanna wieder durch den Tunnel in die Höhle zurück. Taylor war auch inzwischen aufgewacht und hatte einige der Lichtkugeln eingeschaltet. Thor schien das nicht weiter zu stören – mit einem Grunzen drehte er sich in seinem Schlafsack auf die andere Seite und schlief einfach weiter.

„Mach dir um den mal keine Sorgen", erklärte Taylor fröhlich, als Vera dies mit einem fragenden Blick quittierte. „Der schläft sogar durch, wenn direkt neben ihm ein Komm-Krieg ausbricht."

Es war wohl Zeit zum Frühstücken, und Vera sah nicht den geringsten Grund, ihre Vorräte nicht ein weiteres Mal zu teilen. Erstaunlicherweise hatte keiner von ihnen die Schachtel mit den Zuckerriegeln angerührt. Sie deckte den Tisch und legte diverse Vorräte auf das natürliche Regalbrett in der Höhlenwand. Nachdem sie einiges dort aufgestapelt hatte, wurde der Rucksack doch deutlich leichter. Auch eine der Wasserflaschen deponierte sie dort. Die übrig gebliebenen Backwaren aus der Tüte legte sie auf den Tisch, und die Kinder machten sich eifrig darüber her. Jeder von ihnen bekam außerdem einen Zuckerriegel zum Nachtisch, was gerade Taylor und Jenny begeistert zur Kenntnis nahmen.

„Ich habe nachgedacht", teilte Vanna den anderen mit. „Vera muss nach Hause. Da kommen wir nicht drumherum." Sie wandte sich Vera zu: „Das Beste wird sein, du machst dich zu der Stelle auf, an der dein Shuttle abgestürzt ist. Da sie dich vermissen, werden sie dir dort irgendeine Möglichkeit gegeben haben, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Wenn sie dort nicht sogar auf dich warten."

„Weißt du denn noch, wo die Absturzstelle ist?", fragte Taylor. Vera dachte kurz nach und beschrieb das erhöhte Plateau, auf dem das Shuttle heruntergegangen war. Der Junge nickte eifrig. „Ja, das kenne ich. Es ist ziemlich weit, aber wenn du schnell läufst, schaffst du es in ein paar Stunden bestimmt."

Vera blickte sich in der Runde um, und sie bemerkte Jennys drängenden Gesichtsausdruck und Vannas grüblerische Miene. „Was ist mit euch?", stellte sie dann die Frage, die schon die ganze Zeit im Raum hing. „Wollt ihr weiterhin hier draußen bleiben und euch vor den Autoritäten verstecken? Wird es nicht langsam mal Zeit, dass ihr zurückgeht?"

„Zurückgehen?" Das kam aus Thors Richtung, der mittlerweile aufgewacht war, und er sprach dieses Wort mit unverhohlener Verachtung aus. „Zu was denn, bitte? Wir haben hier alles, was wir brauchen."

Vera bedachte ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue. „Wenn ich nicht gewesen wäre, hättet ihr jetzt nichts zu essen gehabt. Und das wird auch so weitergehen, wenn eure Vorräte verbraucht sind. Dann müsst ihr wieder losziehen und neue Nahrung suchen. Das kann so nicht ewig weitergehen."

„Wir kommen schon klar", beharrte Thor bissig. „Außerdem, was kümmert es dich denn?"

„Was es mich kümmert? Bist du noch ganz dicht?" Vera merkte, dass sie laut wurde, aber gerade im Moment war dies gerechtfertigt. „Glaubst du, ich gehe hier einfach weg und verschwende keinen Gedanken an euch? Nachdem ihr mir geholfen habt?"

„Du hast nicht die Verantwortung für die Kinder hier", schnappte Thor zurück. Auch seine Stimme hob sich gefährlich. „Du hast nichts mit uns zu schaffen. Und du wirst uns nicht dazu überreden, ein Leben zu führen, das wir gar nicht wollen."

„Ach ja?" Vera stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Erstens: Du bist selber ein Kind, falls du es vergessen hast. Und bevor du es sagst: Ja, das bin ich auch." Sie warf einen prüfenden Blick in die Runde. „Zweitens: Wen meinst du mit 'wir'?"

Taylor schien Thors Meinung zu sein, aber Vanna und Jenny hatten hinter ihr Position bezogen, und Jenny ergriff wie letzte Nacht Veras Hand. Butter stand neben seinem Frauchen und bewegte den Kopf zwischen Vera und Thor hin und her, als würde er dem Streit folgen und abwarten, was dabei rauskam.

„Ihr seid hier nicht sicher", fuhr Vera fort, dieses Mal ruhiger. „Lassen wir mal Johnson und seine Leute außen vor – ihr könnt hier nicht auf Dauer leben, ohne Essen, ohne medizinische Versorgung. Und selbst wenn ihr es könntet – was für ein Leben soll das hier sein, sich die ganze Zeit nur zu verstecken?"

Thor war uneinsichtig, um es milde auszudrücken. Er wies mit einer ausladenden Handbewegung auf die Höhle. „Siehst du, was wir hier aufgebaut haben? Siehst du es? Du machst uns das hier nicht kaputt!"

Langsam begriff sie. Es war Thors Geschichte, der sie nicht wirklich Beachtung geschenkt hatte, sonst hätte sie es eher verstanden. Er hatte keine Mutter, keinen Onkel, niemanden, der auf ihn wartete. Doch seit Vanna mit den Zwillingen zu ihm gekommen war, auf der Suche nach einem Unterschlupf, hatte er plötzlich jemanden. Nicht nur jemanden, der ihm Gesellschaft leistete, sondern auch jemanden, der sich ihm unterordnete, und über den er die Führung übernehmen konnte. Er war bedeutend und mächtig, zum ersten Mal in seinem Leben. Ein Gefühl, das ihm das Institut niemals vermittelt hätte. Dieses Gefühl, diese Macht, wollte er um keinen Preis der Welt verlieren.

Doch auch er sah die Gesichter der anderen Kinder, und auch wenn er Vera gerade mit aller Gewalt anfeindete, konnte er sehen, dass genau dies im Moment geschah. Er hatte sie bereits verloren. Jenny bekräftigte dies, als sie vortrat und ihm fest in die Augen sah. „Ich will aber nach Hause."

Auch Vanna war einen Schritt vorgetreten. „Es war gut", sagte sie. „Wir hatten hier eine gute Zeit. Aber es muss irgendwann aufhören."

Thor sah verbissen von einem zum anderen. Wütend richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Vera. „Du hast gelogen. Du hast gesagt, du wärst nicht von den Behörden. Aber du tust genau das, was sie getan hätten."

„Ich bin auch nicht von den Behörden", gab Vera eindringlich zurück. „Ich denke nur weiter als du, das ist alles."

„Dann schlage ich vor, du gehst auch weiter als ich. Indem du hier verschwindest." Mit einer befehlenden Geste wies Thor auf den Ausgangstunnel. Das protestierende Aufkeuchen der anderen ignorierte er geflissentlich.

Vera merkte, wie Vanna und Jenny ihr zur Hilfe kommen wollten. Vanna öffnete den Mund und holte tief Luft, um etwas zu sagen, doch Vera fasste sie am Arm und schüttelte den Kopf. Es hat keinen Sinn. Er wird sowieso nicht zuhören. Und sie hatte das Gefühl, Vanna verstünde sie, hätte vielleicht sogar den Gedanken direkt gehört. Sie beide ähnelten sich wirklich in vielerlei Hinsicht. Jenny jedoch, die davon nichts mitbekam, ergriff Veras Hand noch fester – sie wollte nicht, dass Vera ging. Vera löste sanft ihre Hand aus der Umklammerung des Mädchens, warf Thor einen vielsagenden Blick zu und ging langsam zu ihrem Rucksack, um ihn aufzuheben. Sie schulterte ihn, blieb dann aber einen kurzen Moment stehen und sah dem Jungen in die Augen, der sie mit grimmiger Genugtuung dabei beobachtete. Sie wartete auf eine Reaktion. Es kam keine.

Achselzuckend ging sie an ihm vorbei, ohne ein Wort zu sagen. Es war bedauerlich, aber leider nicht zu ändern. Sie spielte mit dem Gedanken, ihm wieder eine reinzuhauen, aber das würde sie hier nicht weiterbringen. Den anderen schenkte sie eine Geste des Bedauerns, bevor sie ihren Rucksack in den Tunnel schob und langsam hinterher kroch.

„Warte doch!", rief Jenny verzweifelt und den Tränen nahe. Aber Vera hörte darauf nicht. Besonders nicht, als von Thor ein scharfer Ruf kam: „Vergiss sie! Sie hatte hier ohnehin nichts verloren."

Blödmann, dachte Vera verächtlich. Sie mochte ihn nicht überzeugt haben, aber er würde die anderen nicht länger hier festhalten können. Wenn sie erst zurück an der Akademie war und das alles verdaut hatte, würde sie die Kinder erneut aufsuchen und ihnen eine Chance bieten.

Hinter ihr krachte es ohrenbetäubend.

Der Knall war so laut, dass er die Höhle erzittern ließ. Erde regnete auf Vera herab, als sie weiterkriechen wollte. Hinter sich hörte sie Tumult und aufgeregte Rufe. Erschrocken fragte sie sich, was gerade geschehen war. Ein solcher Krach konnte nur bedeuten... Doch das war unmöglich! Doch dann bemerkte sie es und wusste auf Anhieb Bescheid. Ein Geruch wehte ihr von hinten in die Nase. Er war flüchtig, doch sehr unangenehm. Es roch nach einer schlecht belüfteten Kneipe. Dann hörte sie die Stimme, dröhnend und ohne jegliche Subtilität, und sie kannte diese Stimme:

„Na, das glaub' ich ja jetzt nich'! Was haben wir denn hier für'n Auflauf?"


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top