10 | Geheimnisse
»Hey Gray, alles klar bei dir? Warum warst du gestern plötzlich so schnell weg?«, rief mich Emma am nächsten Morgen an und klang am anderen Ende der Leitung sehr besorgt.
»Hey Ems, bei mir ist alles klar und bei dir?«
»Matthew und ich haben dich über all gesucht. Wir wollten nach unserem Sieg noch im Italiener feiern gehen. Der beste Freund von Ace, ich glaube Kalin, hat sich gefragt, wo du bist.« Es klang nach einem Vorwurf.
»Ja, tut mir leid. Meine Tante-«, setzte ich gerade an, um ihr meine perfekt ausgedachte Ausrede aufzutischen, die ich mir sogar selbst glauben würde, als mich ihre Stimme im Satz inne halten ließ.
»Ist ja jetzt auch egal«, unterbrach sie mich hastig und schien sehr aufgeregt zu sein, »Wir waren gestern nicht so lange weg, wie gedacht. Aber Matthew hat vorgeschlagen, das wir zu fünft oder zu sechst einen Filmeabend bei ihm veranstalten können. Kommst du mit?«
Es blieb kurz still in der Leitung. Ich dachte darüber nach, ob das wirklich so eine gute Idee war, dort hin zu gehen. Ich fühlte mich noch nicht so gut. Der Anfall war erst zwölf Stunden her. Ich brauchte immer fast zwei Tage um mich vollständig davon zu erholen.
Ich seufzte innerlich über meine eigene Dummheit und setzte mit einem Mal eine Art Maske auf. »Wow, das klingt echt toll. Um wie viel Uhr soll ich da sein? Ich komme.«
Keiner sollte merken, was gestern Abend unter der Tribüne geschehen war.
Und so begann für mich eines der anstrengendsten Abende überhaupt. Emma ignorierte Ace und labberte dafür mich voll. Taylor war total hyperaktiv, und Matthew versuchte ihn irgendwie in Schach zu halten. Blondie hingegen (ja, sie war auch eingeladen worden) nervte Ace und dieser versuchte es aber bei meiner besten Freundin.
Ich hingegen wäre gerne wie Kalin gewesen, der alleine am anderen Ende der Couch saß und sich aus allem raus hier. So, wie er da saß, wirkte er fast schon ein bisschen abwesend.
»Welchen Film wollt ihr gucken?«, fragte Matthew über der Schublade mit den DVDs gebeugt und fuhr mit den Fingern über die schmale Vorderseite der Hüllen, »Ich habe echt einiges zur Auswahl.«
»Eine Komödie«, meldete sich sofort Blondie, die sich bei Ace auf der Couch untergehakt hatte und deshalb auch so ganz dicht neben ihm saß, »Fack Ju Göthe oder so.«
»Ne, ich bin für 'nen anständigen Horrorfilm«, warf sogleich Taylor seinen Vorschlag ein und kam dabei mit zwei Schüsseln Popkorn ins Wohnzimmer. Er stellte sie auf den Couchtisch, direkt vor mir, und sah mit einem Grinsen im Gesicht zu Emma. »Ich würde dich sogar schützen wenn's so sein soll.«
Zum Schluss zwinkerte er süffisant zu und flätste sich neben mich auf die Couch. Ich verdrehte die Augen und überschlug darauf auch noch die Beine. War ja klar das alle jetzt meiner besten Freundin hinter her waren.
»Passt du dann auf mich auf, Ace?«, ertönte die Stimme von Blondie erneut und kuschelte sich ängstlich an seine Seite, was ihm gar nicht gefiel, das stand sogar in seinem Gesicht geschrieben, »Ich habe nämlich Angst vor-«
»Sag mal, wie heißt du nochmal?«, unterbrach ich sie ziemlich unhöflich und beugte mich etwas vor, um besser zu ihr rüber sehen zu können, da Emma und Ace noch zwischen uns saßen, »Wir wurden uns einander nämlich noch nicht vorgestellt, glaube ich.«
Blondie wirkte zuerst etwas verärgert, doch dies legte sich automatisch wieder und sie setzte erneut ihre gekünstelte Maske auf. Sie konnte sich aber wohl einen abfälligen Unterton in ihrer Stimme nicht verkneifen. »Ich bin Blaire. Ähm, und du bist?«
Ich stand gerade auf, lächelte gekünstelt als ich ihre Worte hörte und wischte mir dabei die imaginären Fusseln von der Hose, die Blicke der Anderen deutlich auf mir spürend. Warum musste sie überhaupt hier sein? »Ich muss mich kurz entschuldigen − meine Blase drückt. Und ich bin übrigens Grace.«
Als ich das sagte, empfand ich die starke Befürchtung, mich zu entlarven − vor Allen die Maske fallen zu lassen und mein Geheimnis damit ans Tageslicht zu befördern. Doch es geschah nichts. Binnen zwei Sekunden waren sie wieder alle beschäftigt und auf andere Dinge konzentriert. Emma eingeschlossen.
Erleichtert nahm ich im Badezimmer meine Tabletten. Es kehrte in mir wieder eine gewisse Ruhe ein, sobald ich sie genommen hatte und betrachtete mich dabei nachdenklich für einen Moment im Spiegel.
Wohl einen Moment zu lange, denn ich sah plötzlich im Spiegel wie Kalin im Türrahmen lehnte und dabei die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Unsere Blicke trafen sich für eine Sekunde durch das Spiegelbild, ehe ich mich erschrocken aufkeuchend zu ihm umdrehte und verärgert ansah.
»Kannst du nicht anklopfen, wenn du dich anschleichst?«, fuhr ich ihn auch schon direkt an und vergaß dabei völlig, dass das eigentlich falsch war, was ich hier tat. Genau das Gegenteil was wir besprochen haben, Edwards.
Er reagierte gar nicht auf meinen halben Wutausbruch. Noch nicht einmal mit den dichten, schwarzen Wimpetn zuckte er kurz zusammen. Er sah mich ruhig durch seine grün-blauen Augen an und genoss es einbisschen die Kontrolle über diese Situation zu haben.
»Nicht, wenn ich sehe das du gerade Tabletten schluckst«, erwiderte er lahm und legte den Kopf leicht schief. Worüber denkst du nach?
»Was war das?«
»Kopfschmerztabletten«, antwortete ich eine Spur zu schnell und hielt seinem intensiven Blick stand, der plötzlich ganz leer und undurchdringbar wirkte. Ich hatte keinen Zugang mehr zu seinen Gefühlen. Er war jetzt wie eine Wand für mich.
»Verschreibungspflichtig?«, konterte er mit einem undurchdringlichen Unterton und stieß sich damit auch wie eine Raubkatze vom Türrahmen ab, um mit ausgestreckter Hand auf mich zu zukommen, »Gib her.«
Leicht eingeschüchtert ging ich ein paar Schritte zurück und hob dabei warnend, gleichzeitig auch schützend, meine Hände.
»Fass mich nicht an, Kalin!«, funkelte ich ihn wütend an und stellte mich wie automatisch etwas breitbeiniger hin, damit er mich nicht gleich zu Boden reißen konnte. Gerade traute ich ihm alles zu. »Geh' weg von mir.«
Trotz Drohungen und Bitten kam er mir näher. Soweit, das er direkt vor stand. Die Arme erneut vor der Brust verschränkt und einen prüfenden Blick auf mich herab gesagt. »Und was wenn nicht, Edwards?«
Ich ignorierte seine Frage, was wenn er mich doch anfassen würde − und so weiter. Viel mehr ging es mir jetzt um seine dumme Rettungsaktion von gestern. »Wenn du dich gestern nicht so blöd auf mich werfen musstest, würde ich jetzt auch nicht Kopfschmerztablettrn nehmen müssen, du Idiot!«, zischte ich verärgert und klang mehr als vorwurfsvoll, das sogar in Kalin's Augen kurz die Schuldgefühle aufleuchteten.
Er stöhnte genervt auf und gestikulierte wild mit den Armen herum. »Kannst du nicht − wie jeder andere, normale Mensch auch − einfach Danke sagen, das ich dich vor Billy gerettet habe? Ist das wirklich zu viel verlangt?«
»Danke sagen?«, platzte es einige Oktakten zu hoch aus mir raus und ich trat automatisch einen Schritt näher auf ihn zu, während sich meine Augen zu kleinen Schlitzen formten, »Wegen dir habe ich jetzt eine Schramme an meinen Kopf! Ich muss Tabletten nehmen, damit mir nicht schlecht wird und ich wieder umkippe. Und du findest, ich soll dazu noch Danke sagen? Wofür? Für die Schramme?«
Ich zeigte ihm deutlich die frische Wunde an meiner Schläfe und wusste aber, das sie nicht von ihm war, sondern von der Wand gestern während des Anfalls. Eigentlich, traf ihn hiermit keine Schuld für die Wunde zu, aber ich war einfach nur noch rasend vor Wut.
»Und was soll ich jetzt machen?«, fragte er sichtlich ratlos und warf hilfesuchend die Hände in die Luft, »Schrammen und Beulen passieren nunmal in einem Sport. Das kannst du nicht verhindern, Grace. Verdammt, sei einfach froh, das ich dich gerettet habe und dir nicht sonst was zugestoßen ist.«
»Du wiederholst dich − Varrick«, knurrte ich und hatte wieder meine Arme vor der Brust verschränkt, »Mir würde es viel besser gehen, wenn du dich gestern aus meinem Leben raus gehalten hättest.«
Wütend starrte er zu mir hinab. Seine Augen funkelten, sprühten regelrecht die goldenen Sprenkel nach Außen hinaus. Sein Körper war genauso angespannt, wie gestern Nachmittag auf dem Bürgersteig vor dem Stadion. Doch gerade wirkte er um einiges kontrollierter und beherrschter. Gleichzeitig wusste ich nicht, was mir einfiel ihn in diesem Moment noch attraktiver und anziehender als sonst zu betrachten. Bitte, konzentrier' dich wieder.
»Achja?«, spottete Kalin verächtlich und seine Augen fingen vor Herausforderung an zu strahlen, bevor er abschätzig auflachte und sich ganz nah zu mir runter beugte, »Dann halte dich gefälligst von mir fern, wenn du keine Hilfe brauchst, verstanden?«
Letzteres hauchte er nur noch, während ich die Luft stockend anhielt und sah mir noch für einen Augenblick tief in die Augen, ehe er auf dem Absatz kehrt machte und aus dem Badezimmer verschwand.
Ich ließ die angestaute Luft erleichtert, sobald er um die Ecke verschwunden war, und fuhr mit den Fingerspitzen etwas überfordert über die Stirn. Es ist schon wieder ausgeartet.
Verdammt.
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