09 | Stress

Oft redete ich mir ein, das ich ein ganz normales Mädchen bin. Das wir dieselben Probleme hätten, dieselben Dinge durch zu stehen hätten. Doch mit jedem weiteren Gedanken daran, alles weiterhin durch eine normale Sicht sehen zu wollen, zerstörte ich diesen kleinen Teil in mir, der diesen Wunsch verspürte.

Denn eigentlich wollte ich normal sein. Schon immer. Seit mich diese Krankheit so einnahm und manchmal sogar in ihrem Sog der Hilflosigkeit verschlang.

Stress war fast immer die Ursache für meine Probleme. Selten bekam ich diese Anfälle wegen des Wetters oder irgendeines Umschwungs. Gelegentlich vielleicht mal wegen den Medikamenten, die ich vergessen hatte, doch sie waren niemals ansatzweise so schlimm gewesen.

Vielleicht war ich auch etwas selber schuld, das ich mir das Ganze eingebrockt hatte. Ich hätte Kalin am Vortag einfach in Ruhe lassen und mich nicht auf sein dummes Spiel einlassen sollen. Ich hätte mich einfach undrehen müssen und weggehen sollen. Doch ich tat es nicht. Stattdessen bot ich ihm gleichermaßen die Stirn. Ich hätte es besser wissen müssen.

Der Wunsch normal zu sein, war mindestens genauso groß, wie der Wunsch stark zu sein. Die Sachen auch alleine bewältigen zu können, ohne das ich ständig meine Tante oder meine beste Freundin um Hilfe bitten musste.

Selbstständig zu sein.

Ich wollte nicht ständig beaufsichtigt werden. Keiner sollte auf mich aufpassen, weil er musste - oder nur weil ich krank war.

Doch oft verstand ich, wie in diesen Moment, das ich nicht anders könnte. Manchmal musste ich um Hilfe bitten, manchmal musste jemand auf mich aufpassen, damit solche Momente wie diese nicht ein weiteres Mal geschahen.

Zusammen gekauert hockte ich in einer Ecke unter der Tribühne. Durch die Metallkonstruktion drang nur ganz gedämpft die jubelden Rufe und die lauten Stimmen zu mir hinab. Ich nahm sie fast gar nicht wahr, so sehr zitterte ich schon am ganzen Leibe.

Ich wusste ehrlich gesagt nicht einmal mehr, wie ich hier her gekommen war − war aber umso dankbarer darüber das mein Unterbewusstsein sich ein Versteck gesucht hatte, wo mich keiner auf Anhieb finden und sehen konnte.

Ein leichtes Ziehen machte sich anfangs in meinen Armen und Beinen bemerkbar. Es kribbelte noch ganz angenehm, fühlte sich wie ein leichter Muskelkater an, bis die Kopfschmerzen immer stärker wurden und dadurch auch das Ziehen in meinen Gließmaßen.

Meine rechter Arm zuckte, das Zittern hörte kurz auf und ich verkrampfte mich leicht. Ein Ächzen entfloh meinem Mund und ich keuchte auf. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Wand hinter mir und schloss die Augen.

Das Ziehen reichte nun vom Handgelenk bis zur Schulter, zog sich nun auch noch zum anderen Arm und war dabei einfach nur unglaublich schmerzhaft. Als hätte mir jemand einen Schraubstock in den Unterarm zwichen die Sehnen gestochen und würde jetzt darin herum bohren.

Ich krampfte. Mein Körper zitterte wild. Ich ächzte, wehrte mich gegen den nächsten Aufschwung und gab letztendlich auf. Es brachte nichts. Ein leises Jauchzen entfloh meiner Kehle, sobald ich mit der Schläfe leicht gegen die Wand aufkam.

Dadurch, das die Kopfschmerzen schon so unerträglich waren, wurde ich durch eine starke Benommenheit, die fast der Müdigkeit gleichte, übermahnt und bewusstlos.

Es war immer wieder aufs Neue ein verwirrendes und gleichzeitig auch anstrengendes Gefühl mit dieser stetigen Gedächntislücke in solch einem intensiven Moment klarkommen zu müssen. Alle paar Minuten kannte mich nicht aus, wusste nicht wo ich war, gar wie ich hieß, und versuchte mich auch im selben Wimpernschlag daran zu erinnern, was vorher eigentlich geschehen war.

Ich hätte mich noch nicht einmal gewundert, wenn ich mitten drin sogar vergessen hätte, das ich eigentlich nur wegen eines Anfall − diesen Anfalls − hier am Boden saß.

Wie ich wieder richtig zu mir kam, lag ich schon auf der Seite und starrte auf das verschwommene, braune Ding, unweit von mir entfernt an. Meine Sicht war getrübt. Ich sah nichts, was weiter als einen halben Meter von mir weg war. Vielleicht lag das aber auch an den Tränen, die mir die Sicht versperrten, das meine Sicht so getrübt war. Wie das Wasser eines Flusses nach einem Sturm.

Von der einen auf die andere Sekunde wurde mir schlecht. Mein Magen drehte sich um. Ich hatte das Gefühl, das ich den Halt unter meinen Füßen verlieren würde, obwohl das kompletter Schwachsinn war, ddnn ich lag ja auf dem Boden. Doch ich konnte nicht weiter darüber nachdenken, da mir im nächsten Moment ein zweites Mal schwarz vor Augen wurde.

Ein mordiger, nach frischem Tau und Moos riechender, Duft stieg mir in die Nase. Der bleiche, helle Betonboden fühlte sich unter mir an wie eine dicke, antarktische Eisscholle auf dem Meer. Mein Körper fühlte sich ganz taub, fast schon leer an.

Nicht nur mein Körper fühlte so, sondern auch mein Kopf. Gedanken existierten hier nicht mehr. Es waren keine mehr vorhanden. Ich fühlte nichts. Ich dachte an nichts.

Ein Ablauf der nach einem Anfall normal war.

Alles war wieder normal.

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