chapter 2

"Wie geht es dir?"

"Keine Ahnung."

"Gib dir doch wenigstens ein bisschen Mühe, Schätzchen."

"Tue ich doch...Ich weiß es eben nicht. Ich schätze mir geht es ganz ok, aber ich habe Angst."

Meine zukünftige Betreuerin musterte mich noch einmal kritisch von oben nach unten bevor sie sich weiter Notizen machte. Ich fühlte mich entblößt, nackt wie ich nur in Unterwäsche dastand, komplett vermessen, gewogen, hin und her gedreht wie ein Modepüppchen. 48,7 kg. BMI von 16,2. Zu viel, zu viel, ZU VIEL . STOPP! stopp. Beruhig dich. Du schaffst das.

Diese Zahl hatte sich eingebrannt und ich wollte sie so unbedingt loswerden, wollte all das Gewicht loswerden, das mich davon trennte endlich schön genug zu sein.

Im Krankenhaus wurde ich von knapp 45 kg auf die 50 hochgepusht. Auch, wenn das noch kein Normalgewicht war, reichte es um einigermaßen stabil zu sein. Dann die vier Wochen zu Hause. Gott, wie sehr hatte ich darum gekämpft all diese Last vor meinem Klinikaufenthalt loszuwerden. Und doch war ich nicht dünn geworden.

"Suizidgedanken?" Wurde ich abrupt aus meinen Gedanken gerissen.

"Weiß nicht. Vielleicht ein bisschen."

"Wenn du nichts weißt, wie soll ich denn dann etwas über dich herausfinden?"

Ja, ich wusste selbst nichts über mich, über die hungernde Joelle, irgendwie nur eine flüchtige Skizze von dem, was ich einmal war, mit wegradiertem Selbstwertgefühl. Doch auch ohne dieses Selbstwertgefühl wog ich noch zu viel.

"Mit dir wird das ja noch was." murmelte die etwas fülligere Fr. Habicht. "Du kannst dich jetzt wieder anziehen. Ich zeig dir dann dein Zimmer. Wie gesagt, als deine Betreuerin sehe ich immer mal wieder nach dem Rechten bei dir und wir werden mindestens einmal die Woche ein Gespräch haben. Bei Fragen an mich wenden."

Sie ratterte das alles so monoton runter, ihre Worte trugen die Schatten unzähliger Mädchen wie mir. Und sicher, waren sie alle viel schöner und dünner als ich gewesen und sicher war keine davon so eine Versagerin wie ich gewesen und sicher verschwendete diese Frau nur ihre Zeit an mich.

Langsam zog ich mir mein T-Shirt und meinen weiten, dicken Pulli, sowie meine Hose an. Es war Sommer. Dennoch fror ich.

Als sie aus dem Raum ging, folgte ich ihr. Gedankenverloren lief ich ihr durch die ach so leeren Gänge hinterher. So gerne würde ich sie füllen, mit Worten und Sätzen, Gedichtern und Liedern mit Geschichten und Romanen. So gerne würde ich Licht und Farben in diese verlassenen Klinikgänge lassen. Doch meine Stimme und all mein Licht hatte ich schon längst an meine Krankheit verloren. Als wir an Treppen ankamen, wollte ich schon hochlaufen, doch meine Frau Habicht wies mich zurück. "Nur Mädchen mit einem BMI von 18,5 oder höher dürfen Treppen laufen."

Na klar, das heißt dann wohl ewiges Aufzug-fahren für mich.

Wir fuhren in den zweiten Stock und die Angst packte mich immer mehr, nahm mich ein und stohl mir den Atem. Wie würdw? meine Zimmernachbarin wohl sein? Ich hoffte einfach nur, dass sie nett zu mir wäre und mir die Zeit hier wenigstens etwas erleichtern würde. Wir liefen den Korridor ein Stück entlang, an den Wänden hingen typische Klinikbilder: Irgendwelche Zeichnungen von Obst, Landschaften, im Allgemeinen Stillleben. Sie verliehen dem ganzen wenigstens etwas Ausdruck. Zugegebenermaßen sah es hier oben sogar ganz freundlich aus: Die Wände waren hellgrün gestrichen und es gab einen schönen Teppichboden. Wir bogen zwei mal nach rechts ab, dann blieb Frau Habicht abrupt stehen - und ich lief fast in sie hinein.
Ich trat einen Schritt zur Seite und stand nun neben meiner Betreuerin, die an eine Tür klopfte. Ein Schild hing an der Tür: "Zimmer 217 - Eliza Charter, Joelle Kremer"

Eliza, der Name klang schön, und die Tatsache, dass sie einen englischen Namen besaß machte sie irgendwie auf auf Anhieb symphatisch. Als nach einigen weiteren Sekunden keine Reaktion aus dem Zimmerinneren kam, stieß Fr. Habicht die Tür einfach auf. Sie bedeutete mir mit einem Nicken einzutreten, sagte noch "Dein Koffer wurde nebens Bett gestellt." und schließlich "Seit nett, Eliza." bevor sie den Raum verließ. Nun stand ich alleine in diesem kleinen Zimmer. Zwei Betten, zwei Schränke, ein Tisch, drei Stühle, ein Fenster. Gitter. Gefangen.

Auf dem einen Bett lag ein Mädchen, die Knie angezogen, Augen geschlossen, starr und so dünn, dass man meinen könnte, sie wäre eine Puppe. Ob sie meine Ankunft bemerkt hatte?
"Hallo?" versuchte ich es kleinlaut und stand weiter unbeholfen vor der Tür herum. "Ich bin Joelle." sagte ich nun, fast noch ein bisschen leiser. Das Mädchen begann zu summen. Dann blinzelte sie auf einmal, öffnete die Augen und strich sich ein paar Strähnen ihres Ponys aus dem Gesicht. "Eliza." sagt sie knapp und fast harsch. Ich nickte und lief zu meinem Bett, setzte mich hin. Die Matratze war hart. Das Mädchen drehte ihren Kopf nun in meine Richtung. "Ich bin seit 6 Monaten hier und habe bis jetzt nur 4 Kilo zugenommen. Aber sags niemandem, wir dürfen nicht über unser Gewicht reden. Das ist Regel Nummer 1." begann sie zu reden. "Was ich damit sagen will, ich hatte schon drei verschiedene Zimmernachbarinnen und jede einzelne davon war eine Heulsuse. Haben alle nach zwei, drei Wochen angefangen das Essen nur so in sich reinzuschaufeln und wurden nach den 2 Monaten Mindestklinikzeit entlassen. Und ich sitze hier immer noch und bekomme kaum einen Bissen herunter. Diese 4 Kilo hab ich nur durch ihre ekligen Shakes zugenommen, pure Kalorien, die musst du Trinken, wenn du dich zu lange weigerst zu essen. Und ich bewundere ja die Leute, die die Magersucht überwinden, aber ich habe mittlerweile aufgehört zu hoffen, jemanden zu finden, der es versteht, wie es ist, da so tief drinzustecken wie ich. Also versuche ich gar nicht erst mich mit dir anzufreunden, weil du vermutlich eh vor mir gehst." beendete sie schließlich ihren Redeschwall. Ich überlegte lange.

"Ich glaube, ich verstehe dich." antwortete ich zaghaft.

"Glaube ich nicht."

Also begann ich auszupacken. Ich räumte alles fein säuberlich in den Schrank. Ein Fach für Hosen, eins für Oberteile, eins für Unterwäsche, die wenigen Kleider und meine Jacke hing ich auf. Meine Schuhe stellte ich ganz säuberlich unten in den Schrank. Auf meinen Nachttisch legte ich eins der Bücher, dass ich mitgenommen hatte und ein Bild meiner Familie. Dann nahm ich mein kleines Notizbuch und legte es unter die Matratze. Ich beschloss die Tür neben Elizas Schrank zu öffnen und fand ein kleines Bad. Ein Waschbecken mit einem Spiegel, daneben zwei kleine Wandregal, eine Toilette und eine Dusche. In das kleine Regal stellte ich nun Duschgel, Cremes etc. Als ich mit der Anordnung im Regal zufrieden war, ging ich zurück, schob meinen Koffer unters Bett und legte mich genau wie Eliza hin, Beine an die Brust, Augen geschlossen, starr, und hoffte, dass ich einfach verschwinden würde.


AN: yay, zweites chapter. hoffentlich liest das hier überhaupt irgendjemand, ups :) nun ja, ich hoffe, das was ich schreibe spricht euch an und in dem Sinne: bis zum nächsten Kapitel.

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