19. September
Unliebes Tagebuch,
und sofort, nachdem ich gestern deine erste Seite schrieb, hatte ich dich weggeworfen. Zurück in den Staub wo du hingehörst. Unter dir in der Kiste warteten einige Notizblöcke, sieben Stück oder so. Sie stammten auch allesamt aus der Studienzeit. Auf hunderten karierten DIN A4 Seiten waren hier allerlei Niederschriften verewigt. Übungsaufgaben, Zusammenfassungen, Mitschriften aus Vorlesungen, Anmerkungen und Kritzeleien. Hierhin und dorthin hatte sich sogar ein kleines Gedicht verirrt. Ein Block kannte alle möglichen Schachpartien, die ich während den Vorlesungen mit meinen Sitznachbarn austrug. Diese Blöcke wurden so fürchterlich lebendig, dass sie mich all die Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückzogen, während ich in ihnen blätterte.
Einen der Blöcke schnappte ich mir und flüchtete mich damit hinunter ins Wohnzimmer zu den Fotoalben, um alte Bilder aus jener Zeit anzustarren. Sieh dir nur diesen jungen Knaben mit seiner zauberhaften Freundin an! Ich blätterte durch die Notizen und Fotos und saß plötzlich wieder an meinem alten Schreibtisch vor meinen Lehrbüchern.
Dort begrüßten mich meine alten Lehrbücher einladend in dem beengten Kämmerlein, das ich damals zu bewohnen pflegte. Die Zimmerdecke hätte mir schon immer auf den Kopf fallen wollen, wenn Blicke Löcher in Beton starren könnten. Die Luft schmeckte nach einer süßen Mischung aus Ungebundenheit und Zukunftsangst.
Ich blätterte weiter im Album und so zog es mich aus meinem Kämmerlein nach draußen auf die Straßen und ich lud mich selbst zu einem Spaziergang ein. Ach, all diese bekannten Häuser und Ecken. Zwar schlenderte ich über den normalsten Bürgersteig und durch die gewöhnlichsten Gassen, doch durch jeden Winkel flutete das Licht zahlloser Erinnerungen, das die müden Fußwege mit abenteuerlichen Geschichten erfüllte.
Bald schon fand ich mich hier und dort wieder mit altbekannten jungen Gesichtern. Wir aßen im Schlossgarten Zitroneneis, wir lachten uns schief und glückselig.
Da lag auch sie schon in meinen Armen als wären wir nie alt geworden, in ihren Augen stand dieselbe junge Liebe, wie noch nach fünfzig Jahren.
Da in ihrem leichten Kämmerlein, hinter weißen Gardinen wohlbehütet und auf ihrem Federbett verträumt, lag meine junge Seele auf der ihren, als wäre der Moment uns nie verronnen.
"Fort mit euch Gezeiten! Ach, wie sehr hasse ich dich Vergänglichkeit?" Hätte ich am liebsten ausgerufen, doch ich konnte es nicht.
"Sprich zu mir meine Liebe, sprich!" versuchte ich zu sagen, doch mein Mund wollte sich nicht öffnen. Ich fasste mir suchend unter die Nase, doch meine Finger fanden nur Haut. Aufgesprungen und zu ihrer Kommode gelaufen suchte ich in ihrem Schminkspiegel nach meinem Gesicht. Haare, Augen und eine Nase waren an Ort und Stelle. Doch dort, wo Menschen ihre Lippen tragen, war mir nur glatte Haut um den Kiefer gebunden.
Ich hatte keinen Mund, doch wollte schreien. In meiner Panik schlug ich auf der Kommode auf. Doch auch mein Schlag war geräuschlos. Jetzt, als ich darauf achtete, gab hier nichts einen Laut von sich, gar nichts.
Meine Liebste lief - aus Sorge um mich, wie ich annahm - zu mir und umarmte mich tröstend. Aber sie aber hatte doch einen Mund! Hilflos versuchte ich zu gestikulieren, dass sie doch bitte etwas sagen solle.
Sie lächelte wie eine Puppe und als sie zögerlich ihren Mund öffnete, erbrach sie Unmengen an Papier vor mir. In ihren Augen stand der Terror, aus ihrem Mund stürmten unzählig viele Seiten an weißem Schreibpapier. All die Seiten erhoben sich vom Boden und wie von Dämonen belebt, durchwüteten sie den Raum, ergriffen mich, wo nur möglich, rissen mich nach unten und schlitzten ihre Zähne in mein Fleisch. Als ich auf den Rücken fiel, stürzten sich die Papiere auf mein Gesicht und bissen ein Loch dort hinein, wo mein Mund sein sollte, so als wollten sie in meinen Körper drängen.
Unfähig zu schreien schlug ich um mich, doch kein Papier konnte ich zerreißen, dafür waren sie mir zu flink. Ich schaffte es mich abzuwenden und aufzustehen. Verzweifelt ergriff ich ihr Gesicht und drückte ihren Kiefer mit aller Kraft zusammen, um die Papierflut irgendwie zu stoppen. Es gelang, es endete! Die Papiermonster sanken leblos zu Boden, als sich ihr Mund wieder versperrte. Bald war das verschlossene Lächeln in ihr Gesicht zurückgekehrt.
Meine Haut war zerrissen, mein Leib von blutigen Stellen überzogen. Ich hatte nun zwar ein Loch vor meinem Gebiss, doch konnte noch immer keinen Laut erzeugen.
Wie eine Puppe lächelte sie nur müde. Als mein Blick an ihr herunter auf die unbeseelten Papiere fiel, bemerkte ich erst, dass jede von ihnen gänzlich unbeschrieben war.
Ich griff mir eines der Blätter, knallte es auf den Schreibtisch, nahm mir ihren alten Füller und ermannte mich meiner noch übriggebliebenen Energie, um nur irgendwie etwas aufzuschreiben. Doch es gelang mir nicht den Füller auf das Papier zu setzen. Wie bei zwei sich voneinander abstoßenden Magneten, wich der Füller immerzu vom Papier ab. Ich nahm einen anderen Füller; dasselbe geschah. Ich nahm ein anderes Blatt und auch dort wollte die Metallfeder nicht auf das Papier. Während meine Ungeduld zu Verzweiflung heranwuchs und ich versuchte, jeden ihrer Füller zum Schreiben zu zwingen, legten sich zu meiner Überraschung die Arme meiner Liebsten von hinten um meine Brust. Wieso tat sie das?
Plötzlich erfüllten mich stechende Schmerzen, als ihre Hände über meine blutigen Wunden streichelten. Nichts hatte zuvor wehgetan; der Schlag auf die Kommode, die Angriffe der Papiere und auch die vielen Wunden, die sie hinterließen, hatten bei mir keine Schmerzen ausgelöst. Doch als ihre kühlen Finger zärtlich über meine kaputte Haut strichen, holte mich der Schmerz aller Bisse ein. Schreien konnte ich nicht.
Ich flüchtete mich in eine Zimmerecke. Sie holte mich ein. Ich winkte an die Wand gekauert meine Hände vor meiner Brust, um sie fernzuhalten. Sie kam mir dennoch immer näher.
Ich stieß sie mit aller Kraft von mir.
Vor mir fiel ein kleines Mädchen hin. Nicht etwa die Frau, die ich von mir gestoßen hatte. Einen Moment lang starrten wir uns ungläubig an. Meine Freundin war ein Kind geworden? Sie tastete in der riesigen Papiermenge, die noch immer den Zimmerboden verdeckte, und holte daraus ein Tagebuch hervor. Jenes rosa Tagebuch, das sie mir einst gezeigt hatte, in welchem sie seit sie schreiben konnte, jahrelang geschrieben hatte. Sie stand auf, öffnete das Buch, blickte mich an, als wolle sie sicherstellen, dass ich zuhöre und begann vorzulesen:
"Liebes Tagebuch,
Ich heiße F, bin acht Jahre alt und gehe in die zweite Klasse. Ich mag meine Eltern und meinen Hund und Zitroneneis. Meine Lieblingsfarbe ist Gelb. Meine Lieblingstiere sind Pinguine. Meine Hobbys sind Zeichnen, Rechnen und Singen.
Jetzt weißt du genug über mich liebes Tagebuch, bis nächstes Mal tschüss."
Ich konnte ihre Stimme tatsächlich hören. Bemüht, ihr eine Antwort geben zu wollen, streckte ich einen Arm in ihre Richtung und versuchte nochmals mit aller Willenskraft einen Laut von mir zu geben. Aus dem Loch in meinem Gesicht entwich ein hohles, stimmloses Ausatmen.
Mir wurde schwarz vor Augen und prompt verlor ich das Gleichgewicht und mein Körper fiel nach vorne hin.
Als ich aufblickte, war das Mädchen verschwunden und ich allein. Nur das rosa Tagebuch lag etwa einen Meter vor mir über dem Papier. Schmerzvoll kroch ich zu ihm, ergriff es, zog es zu mir, um hineinzusehen und sah, dass jede einzelne Seite des Buches unbeschrieben war. Selbst die ersten, die sie gerade vorzulesen schien.
Hektisch durchkämmte ich jede Seite, um das soeben vorgelesene Stück zu finden. Unfündig und frustriert warf ich das Buch an die Wand.
Ich musste schreien oder wenigstens sprechen, irgendetwas. Ich steckte mir Finger beider Hände in das Loch vor meinem Gebiss, griff mir zwischen die Zähne und riss mir unter Aufbietung aller Kraft, die noch in meinem Leibe steckte, das ganze eigene Gesicht am Kiefer in zwei Teile.
Erleichtert atmete ich aus, um zu einem Schrei anzusetzen. Als ich endlich all meine Leiden aus mir herausbrüllen wollte, stürmte eine Papierflut unbeschriebener Blätter aus meinem Hals, den ich nun nicht mehr schließen konnte.
Zu meiner Rettung kam niemand. In wenigen Sekunden war der Raum bis zur Zimmerdecke mit Schreibpapier gefüllt und ich elendig erstickt.
Meine Rettung war es auf dem Sofa sitzend aufzuwachen. Das musste der seltsamste Alptraum gewesen sein, den ich je hatte. Vor allem, dass er mir in dieser Detailliertheit in Erinnerung blieb, sodass ich hierfür gar nichts hinzuzudichten brauchte, war für mich in der Form einmalig.
Als ich zu mir kam, lagen noch das aufgeschlagene Fotoalbum und der Notizblock vor mir. Ich alter Sack bin wohl im Sitzen eingenickt.
Nachdem ich mich wieder gefasst hatte, packte mich aber die Wut für dich - dem ungeschriebenen Tagebuch, das noch immer oben im Staub lag.
Erzürnt stieg ich nach oben, kramte dich aus dem Dreck, in den ich dich geworfen hatte, und warf dich aus dem Dachfenster hinaus.
Wie es dann sein kann, dass ich heute wieder in dir schreibe? Als ich heute morgen mit meinem Tee auf unserer Terrasse saß, fand ich dich auf der Hecke schlafend und hielt es spontan für eine gute Idee, meinen Traum von gestern aufzuschreiben.
Denk' dir nichts dabei.
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