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Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich am Mittwoch bereits eine halbe Stunde vor offiziellem Schichtbeginn das LP betrat.
Nach meinem Abgang am Sonntagnachmittag hatte ich keinen Kontakt mehr zu Liam gehabt – weder hatte er sich bei mir gemeldet, noch hatte ich selbst Initiative ergriffen. Vermutlich war er felsenfest davon ausgegangen, mich hier nie wieder zu Gesicht zu bekommen – und wenn doch, dann nur in Uniform und in Begleitung meiner Kollegen, inklusive einem Paar Handschellen und einem Durchsuchungsbeschluss.
Um ehrlich zu sein, war ich mir selbst nicht ganz sicher gewesen, auf welche Art und Weise ich das nächste Mal einen Fuß über die Türschwelle dieses Ladens setzen würde.
Nun gut. Hier war ich. Auch wenn wahrscheinlich keiner von uns so richtig damit gerechnet hatte.
Dementsprechend groß wurden seine Augen, als er mich in meiner üblichen Alltagskleidung an der Tür erspähte – ohne zehn meiner Kollegen im Gepäck zu haben.
Schlagartig ließ er das Tablet fallen, mit dem er die Getränkebestellungen aufzugeben pflegte, um dann wie in Trance die Bar zu umrunden und über die Tanzfläche hinweg auf mich zuzukommen.
In seinem Gesicht stand die blanke Fassungslosigkeit, seine Lippen waren zu einem lautlosen Oh geformt.
„Niall! Was-..."
Ich ließ ihn nicht ausreden. „Moment."
Kaum waren wir in der Mitte der Tanzfläche direkt voreinander zu einem Halt gekommen, stach ich ihm dem Zeigefinger in die Brust.
„Okay, Payne. Hör mir gut zu." Ich nagelte seinen Blick mit meinem fest. „Mach deinen Scheiß. Mach ihn einfach. So, wie du es immer geplant hattest, und ich werde dich nicht daran hindern. Aber halt mich aus der Sache raus. Ich will nichts, absolut gar nichts davon wissen. Kapiert?"
Einige Sekunden lang starrte Liam mich nur an.
Seine Augen huschten über mein Gesicht hinweg, versuchten ganz offensichtlich, meine Mimik nach versteckten Regungen zu analysieren, doch in Anbetracht dessen, dass seine Verwirrung daraufhin noch größer zu sein schien, war er nicht fündig geworden.
„Was?! Aber, Niall ... du-..." Seine Finger zuckten in meine Richtung, als müsste er sich mit allen Mächten davon zurückhalten, nach meinen Händen zu greifen oder auf andere Art und Weise Körperkontakt zu suchen – etwas, das er immerhin oft und gern getan hatte. Es schien ihn auf mehreren Ebenen gleichzeitig zu schmerzen, sich nun davon zurückhalten zu müssen.
Schließlich gab er ein nervöses Lachen von sich. „Bist du ... bist du sicher? Ich weiß, das ist genau das, was ich eigentlich wollte, aber ich hatte fest angenommen, dass-..."
„Dass ich meinen Kollegen reinen Tisch mache und dann seelenruhig dabei zusehe, wie du von deinen Dealerkumpanen halb totgeprügelt wirst?" Ein freudloses Schnauben verließ meinen Mund. „Sieht ganz so aus, als hätte ich dich dafür doch zu gern."
Erneut herrschte kurzes Schweigen.
Liam schluckte schwer. „Niall, ich weiß nicht, was ich sagen soll."
„Dann sag einfach nichts." Mit diesen Worten wollte ich mich an ihm vorbeidrängen, um den Personalraum aufzusuchen – und auch, um das bittere Gespräch zwischen uns, das ganz dringend ausstand, noch ein Weilchen aufzuschieben – doch Liam hielt mich mit sanfter Gewalt zurück.
„Warte." Unruhig biss er sich auf die Lippe, schien dann jedoch zu beschließen, dass das hier der falsche Zeitpunkt war, um ewig um den heißen Brei herumzudrucksen. „Es tut mir leid. All das."
Vage verwies er auf die heilenden Schrammen in meinem Gesicht und die nur noch leicht sichtbaren Druckstellen an meiner Kehle, aufgrund derer ich mit allen Mitteln jede Videokonferenz mit meinen Kollegen verhindern hatte müssen.
„Ich ... ich wollte dir nie wehtun." Seine Hand zitterte kaum merklich, als er sich damit durch sein braunes Haar fuhr. „Als du plötzlich von allem wusstest und sofort zu deinen Kollegen türmen wolltest ... da sind alle Sicherungen in mir durchgebrannt. Und du warst so auf einen Kampf aus und dann war da auch noch diese verschissene Pistole und ich konnte nicht-..."
Seine schokoladenbraunen Augen mieden meinen Blick. „Ich weiß, dass das für dich jetzt vermutlich keinen Unterschied mehr macht, aber ... aber ich liebe dich, Ni. Aufrichtig. Und es tut mir in der Seele weh, dass wir uns unter solchen Umständen kennenlernen mussten. Dass all das hier so passiert ist."
Mein Inneres flatterte, doch ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich seine Worte berührten. Stattdessen bemühte ich mich um eine lockere Entgegnung, bevor wir einander aus bloßer Nervosität heraus womöglich erneut an die Gurgel gehen konnten.
„Ich würde ja gerne behaupten, dass mir das da ..." Ich deutete auf seine verkrustete Lippe und die blaugrüne Verfärbung an seinem Kiefer. „... auch leidtut, aber dann müsste ich lügen. Okay, vielleicht tut es mir ein bisschen leid. Aber nur ein bisschen. Deine Würgaktion war nämlich wirklich eine ganz miese Nummer. Du hättest mich auch einfach k.o. schlagen können. Und du hast den Größenunterschied zwischen uns schamlos ausgenutzt. Das werde ich dir auf ewig übelnehmen."
Abwehrend hob Liam die Hände. „Du warst wie eine Furie. Ich wollte diesen Kampf doch überhaupt nicht. Und außerdem war ich auch nicht unbedingt scharf darauf, dir die Waffe zu überlassen."
„Ich hatte die Waffe am Ende, schon vergessen? Ich hätte dir in Knie schießen können."
„Hast du aber nicht." Er räusperte sich. „Wofür ich dir übrigens sehr dankbar bin. So nebenbei angemerkt."
Nun konnte ich mir das Grinsen nicht länger verkneifen, das längst an meinen Mundwinkeln gezupft hatte. „Kein Grund, sich zu bedanken. Du hast mich ordentlich um den kleinen Finger gewickelt, Payne. Und das ist kein Kompliment."
Er überlegte kurz. „Vielleicht werde ich es einfach als eines werten."
„Mach, was du willst." Prüfend musterte ich seine Hand, die noch immer meinen Arm umfasst hielt. „Gedenkst du eigentlich, mich jemals wieder loszulassen?"
Erneut tat er so, als müsste er scharf nachdenken. „Nur ungern."
Dann schien ihn der Ernst der Situation wieder eingeholt zu haben, denn seine halbwegs heitere Miene verfinsterte sich um einige Nuancen, als die Unsicherheit zurückkehrte.
„Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht damit gerechnet, dass du heute hier auftauchst. Oder jemals wieder. Aber ..." Er zögerte. „Es macht mich glücklich, dass du hier bist."
Ich konnte nur trocken schlucken und nicken. Trotz allem, was am Sonntag passiert war, war ich nicht umhingekommen, Liam über die vergangenen zwei Tage hinweg zu vermissen, wo wir für gewöhnlich zwischen den Öffnungstagen recht regelmäßig per Handy in Kontakt geblieben waren. Diese ganze verkorkste Situation hatte so an mir gefressen, dass es mir fast körperliche Schmerzzustände bereitet hatte.
Die Gedanken daran, wie anders all diese Geständnisse hätten verlaufen können, hätten wir beide unser Temperament auch nur ein bisschen besser unter Kontrolle gehabt, nagte auch jetzt noch an mir.
Dass wir nun offenbar wieder einigermaßen miteinander reden konnten, ohne einander zu misstrauen oder anzuschreien, war einerseits zwar beruhigend, aber andererseits erinnerte es mich nur an all die Dinge, die weiterhin unter der Oberfläche schwelten und über die wir noch reden mussten. Unter anderem darüber, was ich selbst noch so alles von mir gegeben und womit ich ihn verletzt hatte – zwar nicht physisch, aber sicherlich ganz ordentlich auf emotionaler Ebene.
Meine Kehle war wie zugeschnürt, als ich mich räusperte. „Ich ... äh ... habe dir einige wirklich hässliche Dinge an den Kopf geworfen. Ich weiß, dass ich nichts mehr ungesagt machen kann, aber es tut mir leid. Du hast mir deine halbe Lebensgeschichte anvertraut und ich ..." Betreten sah ich zur Seite. „Ich hatte nichts Besseres zu tun, als Salz in die Wunde zu streuen."
Erneut sah ich Liams Hände zucken, doch diesmal führten sie ihre angefangene Bewegung zu Ende, und im nächsten Moment hatte er nach meinen gegriffen und unsere Finger miteinander verschränkt. Trotz der Unsicherheit, die noch immer in Wellen von ihm ausging, war sein Griff fest und haltgebend.
„Niall, nein." Seine Augen suchten meinen Blick. „Du warst in Panik und hattest jeden Grund dazu, mir zu misstrauen."
Ich zog eine Augenbraue hoch. „Dasselbe könnte ich umgekehrt von dir behaupten. Wer weiß ... das hier könnte auch nur eine miese Masche von mir sein, um dich auszuhorchen."
Einige Sekunden lang starrte er mich an, bevor er schließlich leise zu lachen begann. „Nimm's mir nicht übel, Ni, aber ... nein. Definitiv nicht."
Eine kurze Pause entstand, als er zögerte. „Ich würde jetzt sehr gern etwas tun, von dem ich mir nicht sicher bin, ob ich es darf, aber ich habe das Gefühl, jeden Moment sterben zu müssen, wenn ich es nicht wenigstens versuche."
Überrascht und enorm verwirrt sah ich ihn an, doch ihm schien es mit diesem kryptischen Statement komplett ernst zu sein.
Schließlich zuckte ich die Achseln und nickte. „Dann versuch's."
Erleichterung flutete seine Gesichtszüge und als er daraufhin auf mich zuzukommen begann, bis wir nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren, beschleunigte sich mein Herzschlag zusammen mit meiner Atmung, insgeheim erwartend, dass er mich nun küssen würde.
Doch statt einem Kuss schnellten seine Arme vorwärts, fast schon hektisch, als könnte er es nicht mehr erwarten – und im nächsten Moment fand ich mich an seine Brust gepresst wieder, seine Arme so fest um mich geschlungen, dass ich das Gefühl hatte, jede Sekunde mit ihm verschmelzen zu können.
Für einen kurzen Augenblick war ich wie erstarrt, fast schon überfordert mit der plötzlichen Nähe, nach allem, worüber wir eben noch gesprochen haben.
Doch als er dann infolge meiner Regungslosigkeit Anstalten machte, sich wieder zurückzuziehen, setzten meine Instinkte ein und ließen mich die Umarmung in einer Intensität erwidern, die der von Liam um nichts nachstand.
Tief durchatmend erlaubte ich mir, entspannt meinen Kopf an seine Schulter zu lehnen, die Nase in seiner Halsbeuge zu vergraben und seinen Duft in mich aufzunehmen. Ich spürte, wie sich seine Finger fest um den Stoff meines Shirts schlossen, als befürchtete er, ich könnte mich jeden Moment in Luft auflösen, woraufhin ich meine Arme noch fester um ihn schlang, mich noch näher an ihn drängte. Tief durchatmend schloss ich die Augen, genoss die Nähe zu ihm, das Gefühl seiner Wange an meinem Kopf, während seine Hand fast einlullend wieder und wieder über meinen Rücken strich.
Es fühlte sich so richtig an. Vertraut.
Sogar so richtig und so vertraut, dass mir prompt wieder diese verräterischen Tränen in die Augen zu steigen begannen – diesmal jedoch vor Rührung. Und vor dieser fast schon lächerlich großen Menge an Liebe, die ich für ihn empfand.
Noch viel länger hätte ich genau in dieser Position verharren und mich von ihm am Rücken kraulen lassen und einfach seine Präsenz genießen können, doch irgendwann wurde uns beiden bewusst, dass wir noch immer mitten auf der Tanzfläche standen, im perfekten Blickwinkel von jedem, der den Hauptraum des Clubs betrat.
Und dass wir die Zeit, bevor die ersten Gäste einzutrudeln pflegten, ganz eventuell noch dafür nutzen sollten, ein wenig Arbeit gebacken zu kriegen.
Liam war der Erste, der seine Umarmung löste und mit einem verlegenen Räuspern ein kleines Stück von mir zurücktrat. Seine Augen glänzten verdächtig feucht, doch er versuchte, diese Tatsache mit einem Lächeln zu überspielen.
„War das okay?" Seine Stimme klang belegt, offenbar war seine Kehle ähnlich zugeschnürt wie meine eigene.
Mein darauffolgendes heftiges Nicken wäre mir unter anderen Umständen vermutlich peinlich gewesen, doch jetzt bereute ich nichts.
Stattdessen versuchte ich mich an einem zuversichtlichen Lächeln und daran, diese dämlichen Tränen möglichst unauffällig aus meinen Augen verschwinden zu lassen. „Mehr als okay."
Federleicht glitten seine Daumen über meine Unterarme hinweg, dann über meinen Handrücken und schließlich über meine Finger, bevor er seine Berührung sichtlich widerwillig endgültig löste – und im allerletzten Moment überraschte er mich erneut, indem er sich kurzerhand noch einmal vorbeugte und mir einen Kuss an die Stirn drückte. Wie schon damals, als wir vor dem Club erstmalig ein ernstes Gespräch geführt hatten.
Damals. Als wäre seitdem schon unendlich viel Zeit vergangen. Anfühlen tat es sich jedenfalls so.
Als er sich dann wieder von mir löste, wirkte er viel befreiter. Seine Augen glänzten noch immer, als er mich anlächelte. „Okay. Dann lass uns mal etwas tun."
Er wollte sich schon abwenden, als ihm noch etwas einzufallen schien.
„Ach, noch eine Sache." Während er sprach, griff er hinter sich, um etwas unter seinem T-Shirt aus dem Bund seiner Jeans hervorzuziehen. „Ich glaube, das hier sollte besser wieder in deinen Besitz zurückkehren."
Fassungslos starrte ich meine Dienstwaffe an, die er mir nun mit einem auffordernden Nicken hinhielt und deren Existenz ich in all dem emotionalen Durcheinander schon fast vergessen hatte.
Liam zog eine Augenbraue hoch. Ein Grinsen zupfte an seinen Mundwinkeln. „Na los. Oder willst du sie nicht mehr? Ich möchte ja nichts sagen, aber sie würde sich durchaus ganz wunderbar zu meiner Sammlung ergänzen."
Endlich schaffte ich es, den Blick von meiner Glock zu lösen, um stattdessen Liam anzusehen. „Deine ... Sammlung? Du hast eine-..."
Im nächsten Moment hob ich die Hand, als er ernsthaft zu einer Erklärung ansetzte. „Halt. Auch das will ich gar nicht so genau wissen."
Entschlossen streckte ich die Hand aus und nahm meine Dienstwaffe an mich. „Danke."
Ich zögerte. „Ich verspreche hoch und heilig, dass ich dir nicht mehr ins Knie schießen will."
Das Lachen, das Liam nun von sich gab, war durch und durch ehrlich und so befreit, dass mein Herz vor Zuneigung zu flattern begann.
„Das will ich doch auch hoffen."
Und als wir dann zur Arbeitsroutine übergingen, hatte ich das Gefühl, dass diese verkorkste Situation vielleicht doch ein gutes Ende finden könnte.
Vielleicht. Sofern die Umstände es zuließen.
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Nialls Entscheidung scheint ja nun festzustehen. Hmm ... ob es so einfach ist...?😀
Viele Kapitel sind es nicht mehr, mal sehen, wie ich mit dem Überarbeiten hinkomme😇Ansonsten verkrümel ich mich gleich wieder, weil mein Kopf einfach ne Pause braucht lol.
Dankeschön für alles und liebe Grüße!❤⭐
Andi
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