29: Bald kommt Licht ins Dunkle
4150 Wörter Leute, macht euch bereit
○●○
"Also Leute, folgender Plan..."
Wir hatten uns wieder auf unsere Zimmer verzogen und an einem Plan gefeilt, wie wir in den Keller kommen konnten. Auf unserem Weg vom Konferenzsaal hier her hatten wir ausprobiert, in die unteren Etagen zu fahren, doch dies konnte man nur tun, wenn man ein Mitarbeiter des Hotels war, da man eine spezielle Karte dafür brauchte. Nun überlegten wir, wie wir unauffällig in den Keller und wie wir an die dafür nötigen Schlüsselkarten kamen.
"Hat jeder seine Aufgabe verstanden?", fragte ich am Ende meiner Erklärung und sah jeden einmal an. Alle nickten. "Gut", lächelte ich. "Dann lasst uns endlich den nächsten Zug wagen." Mit Flavia, Teresa und Eliana verließ ich das Zimmer zu erst. Eliana und ich gingen den mit Teppich ausgelegten Flur allerdings nach links und Flavia und Teresa nach rechts entlang. Gemeinsam stiegen wir die Treppen einen Stock tiefer. Dort liefen wir einmal den kompletten Flur ab und trafen Flavia und Teresa wie geplant, da diese uns entgegen kamen. Am Ende des Flurs nahmen wir wieder die Treppe, um einen Stock tiefer zu gelangen und das selbe zu wiederholen. Auf unserem Weg zur nächsten Treppe trafen wir allerdings zwei Putzfrauen, welche gerade eins der Zimmer fertig machten. Hinter der nächsten Ecke hielten wir an und wartete auf meine beiden besten Freundinnen.
"Habt ihr was?", fragte Flavia, sobald sie uns entdeckten.
"Zwei und einen Wagen."
"Wartet hier", sagte sie und nickte Teresa zu. Die beiden gingen auf die Putzfrauen zu und ich blieb mit Eliana außer Sicht. "Entschuldigung? Wir bräuchten Hilfe!", hörte ich Flavia mit verstellter Stimme sagen. Sie klang beängstigt und etwas nervös.
"Was gibt's?", fragte eine mir unbekannte Stimme mit starkem texanischen Akzent.
"Meine Freundin ist eben auf der Treppe gestolpert und sie kann nicht ohne Schmerzen auftreten. Haben Sie vielleicht einen Verbandskasten irgendwo? Wir würden die Wunde gerne desinfizieren." Flavias Englisch war perfekt und ohne einen einzigen Fehler.
"Au...aua...", hörte ich Teresa wimmern. Es klang unfassbar echt.
"Oh Gott, Liebes! Na kommt mal mit, ich zeige euch, wo ein Erste-Hilfe-Kasten ist", meinte die Putzfrau besorgt. "Trina! Ich komme gleich wieder!" Danach hörte man die drei den Flur entlang gehen, doch es war zum Glück nicht in unsere Richtung.
"Jetzt sind wir dran", flüsterte ich Eliana zu. Wir lugten um die Ecke, doch niemand war zu sehen. Wir gingen einmal am Wagen vorbei und sahen dabei ins Zimmer. Die Putzfrau schien gerade das Bett neu zu beziehen, weswegen sie halb mit dem Rücken zur Tür stand. Das zweite Mal ging nur Eliana. Sie blieb am Wagen stehen und ließ dabei nie die Putzfrau aus den Augen. Sie schnappte sich ein paar der Handtücher, bevor sie leise weiter lief und hinter der nächsten Ecke verschwand. Gerade wollte ich los gehen, da kam die Putzfrau pfeifend zum Wagen und holte sich neue Bezüge. Sobald sie verschwunden war machte ich mich auf den Weg. Genauso wie Eliana zuvor, schlich ich mich zum Wagen und ließ nie die Putzfrau aus den Augen. Ich griff nach ein paar Bezügen, doch bevor ich zu Eliana lief, hörte ich Flavias Stimme näher kommen. Ich sah auf die Bezüge hinunter, dann zu der noch immer voll beschäftigten Frau im Zimmer und bevor ich mich dagegen entscheiden konnte, warf ich die Bezüge zurück auf den Wagen. Schnell fasste ich den Griff des Wagens und schob ihn in die Richtung, in der Eliana auf mich wartete. Als ihr Blick auf den Wagen fiel, den ich mir gerade geborgt hatte, weiteten sich ihre Augen.
"Alex!", wisperte sie. "Ich dachte, wir sollten nur-"
"Es hat sich eben so ergeben", schnitt ich ihr das Wort ab. "Wir haben keine Zeit, komm schon!" Schnell schob ich den Wagen zum Aufzug am Ende des Flures. Bevor wir diesen erreicht hatten, hörte man ein entsetztes "Hey!" der Putzfrau, welche mit Flavia und Teresa mitgegangen war. Ununterbrochen drückte ich auf den Aufzugknopf, bis sich endlich die Türen öffneten. Wir hatten Glück, dass sich niemand dort drin befand, als wir hineinstürmten und nun innen auf den Knopf drückten, um die Türen schnell wieder zu schließen.
"Wo fahren wir hin?", fragte Eliana mit leichter Überforderung.
"Erstmal zum Zimmer", erwiderte ich.
"Es ist alles Videoüberwacht! Denkst du nicht, das wäre ein wenig auffällig, wenn wir einen dieser Wagen dort hineinschieben?!"
Nachdenklich sah ich Eliana an. "Hast recht", gab ich zu. Mein Blick landete auf den Türen, die sich gerade wieder öffneten. "Dann fahren wir jetzt mit dem anderen Fahrstuhl ein paar Stockwerke höher." Wir schoben den Wagen aus dem Aufzug und rannten den Flur so schnell es ging entlang. Einmal fuhren wir fast Touristen um, welche sich natürlich beschwerten, doch wir ignorierten sie einfach.
Eliana drückte wild auf den Knopf, um den Aufzug zu rufen, als wir an diesem angekommen waren. Er fuhr gerade sowieso nach oben und ich dachte, wir hatten endlich ein wenig Glück, doch ich hatte mich getäuscht. Sobald die Türen aufgingen, sah ich einer wütenden Putzfrau entgegen und meine zwei beste Freundinnen rissen ihre Augen auf. Blitzschnell handelte Flavia, indem sie auf alle Knöpfe drückte und sich dann Teresa schnappte, um den Aufzug zu verlassen.
"Lauft!", schrie sie mir entgegen. Und versuchte die Putzfrau im Aufzug zu lassen, während Eliana und ich am Wagen zogen, um ihn wieder den Flur entlang zu transportieren. Allerdings schienen die Jungs Flavias Schrei erkannt zu haben, da unsere Zimmertür von Luca geöffnet wurde und er fragend den Kopf hinausstreckte.
"Was zum-"
"Weg da!", rief ihm Eliana entgegen, während wir den Wagen ins Zimmer zogen. Luca sprang zur Seite, da wir ihm sonst über die Füße gerollt wären. Kurz nach uns liefen Flavia und Teresa ins Zimmer und knallten die Tür hinter sich zu. Sie lehnten sich dagegen und versuchten ihren Atem unter Kontrolle zu bringen.
"Was zur Hölle!?" Luca sah den Wagen entgeistert an, bevor er uns genauso ansah. "Ich dachte, der Plan war-"
"Es hat sich halt so ergeben", erklärte Eliana knapp, indem sie meine Worte benutzte.
"Wir sollten nicht lange bleiben", warf Teresa ein. "Sie wird nicht so blöd sein und die ganze Zeit in diesem Aufzug hocken. Außerdem haben sie uns auf Kamera."
"Ich weiß", nickte ich und sah dann zu Luca. "Sind die anderen dabei-"
"Den Plan auszuführen? Natürlich! Sie halten sich wahrscheinlich da dran!" Er verschränkte seine Arme.
"Ach Lucalein", neckte Flavia. "Ein bisschen mehr Spontanität würde dir gut tun."
"Nenn' mich nicht so!", knurrte er und sah sie böse an.
"Die Frage ist jetzt, wo wir hin sollen, bis wir eine Karte für den Keller haben", warf Eliana ein und brachte uns zurück zum Problem.
"Wieso nehmen wir nicht einfach die hier?" Flavia hielt grinsend eine dunkelgraue Karte hoch.
"Ich wusste, du schaffst es", strahlte ich.
"Teresa war eine so gute Ablenkung, da hat die gar nicht bemerkt, wie ich ihr die abgenommen habe." Meine beste Freundin fächerte sich mit der Karte arrogant Luft zu. "Natürlich spielte mein Talent eine weitere, überaus wichtige Rolle."
"Das Talent der großen Klappe, oder wie?", kommentierte Luca, doch Flavia ließ sich ihre gute Laune nicht vermiesen. Sie warf ihm einen provokanten Luftkuss zu und öffnete dann die Tür, um auf den Flur zu spähen.
"Luft ist rein. Kommt, schnell!" Sie verschwand aus der Tür und Teresa folgte ihr. Wir fuhren mit dem Wagen wieder aus unserem Zimmer raus, nahmen aber nicht den selben Aufzug wie zuvor. Luca war zurück geblieben, da er meinte, er würde später mit den anderen nach unten kommen, so wie wir es auch ursprünglich geplant hatten.
Dank der Mitarbeiterkarte, die sich Flavia ebenso geborgt hatte, wie ich mir den Wagen, konnten wir bis hinunter in den Keller fahren. Da wir uns allerdings im vierzehnten Stockwerk befanden, dauerte das eine Weile.
"Im Nachhinein hätten wir uns das ganze mit dem Wagen sparen können", überlegte Eliana. "An die Karte sind wir auch so gut gekommen."
"Hinterher ist man eben immer schlauer", zuckte Teresa mit den Schultern. "Obwohl ich zugeben muss, dass die Wagen-Aktion ziemlich viel Aufsehen erregt hat." Ihr skeptischer Blick landete bei mir. Abwehrend hob ich die Hände.
"Ich dachte halt, dass wenn wir einen Wagen haben und die Karte nicht bekommen wir eine bessere Chance haben, uns als Putzfrauen auszugeben."
"Du wolltest einfach wieder Aufmerksamkeit", schüttelte Flavia den Kopf. Empört sah ich sie an, woraufhin sie es nicht schaffte, ihr ernstes Gesicht aufrecht zu erhalten und lachen musste. "Spaß! Ich weiß doch, so etwas würdest du nicht machen." Sie beugte sich nah zu mir und flüsterte. "Aufmerksamkeitsgeil ist jemand anderes hier." Dabei nickte sie in Elianas Richtung.
"Hey!" beschwerte diese sich sofort, da Flavia nicht gerade diskret war.
"Nicht jetzt", mahnte Teresa. "Streitet euch später!"
Flavia und Eliana straften sich gegenseitig mit Blicken, bis wir endlich dort angekommen waren, wo wir hin wollten. Als sich die Türen öffneten, schob ich den Wagen hinaus und ließ ihn neben dem Aufzug an der Wand stehen.
"Lasst uns schon mit dem Suchen beginnen. Wenn die Jungs irgendwann dazu kommen, dann können sie sich uns ja anschließen", schlug ich vor und alle waren damit einverstanden. Wir blickten den kahlen Flur entlang und nach einer kurzen Absprache waren wir uns sicher, zusammen zu bleiben. Mit Teresa lief ich vor Flavia und Eliana, da wir nicht zu viert nebeneinander passten.
Hier unten war es ruhig, weswegen ich Angst hatte, man könnte unseren Herzschlag hören. Unsere Schuhe quietschten auf dem polierten PVC-Boden, was mich unglaublich störte, da man sich nicht leise irgendwo anschleichen konnte. Wir kamen bei einer Tür an, die leicht offen stand. Nach einem kurzen Blickaustausch mit den anderen, machte ich die Tür vorsichtig ein wenig weiter auf und lugte dann hinein. Es war ein großer, hell erleuchteter Raum. Das Licht war so grell, dass ich meine Augen leicht zusammenkneifen musste. Die gegenüberliegende Wand war fast komplett mit Waschmaschinen vollgestellt und überall standen volle Wäschewagen herum.
"Was siehst du?", fragte Teresa leise. Ich zog meinen Kopf zurück und sah zu meinen Freundinnen.
"Ich dachte, Hotels Waschen ihre Wäsche nicht selbst...normalerweise haben die doch eine Firma, die extra immer die Schmutzwäsche abholt, oder nicht?", überlegte ich.
"Soweit ich weiß schon", meinte Eliana. "Ist denn jemand dort drin oder können wir gerade eine Runde drehen?"
"Ich habe niemanden gesehen", erklärte ich. "Wer hält Wache?"
"Kann ich machen", meldete sich Teresa freiwillig und ich nickte ihr dankend zu. Zusammen mit Flavia und Eliana betrat ich also den Waschraum. Ein paar der Maschinen waren gerade am laufen und machten ein brummendes Geräusch, doch die meisten waren nicht in Betrieb. Flavia ging zu einem der Wagen und hob ein paar der Handtücher hoch, bevor sie sie zurück warf und den Kopf schüttelte.
"Die Figur muss irgendwo sein, wo sie für so viele Jahre sicher war." Mein Zeigefinger legte sich automatisch an meine Unterlippe und begann dagegen zu tippen. "Sie muss irgendwo sein, wo man sicher sein kann, dass sich über viele Jahre hinweg nichts daran ändert und niemand plötzlich auf die Idee kommt, dort ein Versteck zu vermuten."
"Hier gibt es nur diese Wagen, die Waschmaschinen und ein paar Regale", sah sich Eliana um. "Wenn nichts hinter den Waschmaschinen ist, dann wüsste ich nicht, wo ich hier etwas verstecken sollte."
"Waschmaschinen können kaputt gehen und ausgetauscht werden", warf Flavia ein. "Du kannst nie sagen, wann was passiert, also denke ich nicht, dass wir die kleine Pyramide hier finden."
"Dann lasst uns erstmal weiter gucken." Wir verließen den Waschraum wieder, doch Teresa war nicht mehr allein. Uns sahen vier neue Augenpaare an.
"Da seid ihr ja!" Eliana lächelte Luca an, sobald sie ihn sah.
"Habt ihr da drin nichts gefunden?", fragte Leo an mich gewandt.
Ich schüttelte den Kopf. "Wir wollten weiter gucken. Jetzt finden wir vielleicht schneller etwas, wenn alle helfen."
Die nächste Tür befand sich ein paar Meter weiter, aber auf der gegenüberliegenden Seite. Als ich die Klinke hinunter drückte und hinein gehen wollte, musste ich feststellen, dass sie abgeschlossen war. Mein Blick landete sofort bei Teresa und sie verstand. Sie hockte sich vor die Tür und begann mit der Schlüsselkarte unseres Zimmers daran herumzufummeln, da sich die Tür leider nicht mit der Mitarbeiterkarte einfach öffnen ließ. Ich sah, wie ihre Hand dabei zitterte und als sie meinen Blick bemerkte, räusperte sie sich einmal. Sie überspielte das Zittern, indem sie sich etwas beeilte. Ich wusste zwar nicht, wie sie es immer schaffte, doch Schlösser knacken war genau ihr Ding.
Die Tür sprang einen Spalt weit auf und Teresa stellte sich wieder hin.
"Danke", sagte ich und sie zuckte bloß mit den Schultern. Wieder machte ich die Tür langsam auf und steckte zunächst meinen Kopf hindurch. Der Raum war dunkel und wurde ausschließlich von einem Haufen Bildschirmen beleuchtet, wobei nicht alle an waren. Als ich sicher war, dass die vier Stühle vor den Bildschirmen leer waren, trat ich ganz hinein.
"Der Überwachungsraum?" Leo folgte mir und sah sich um. "Ich dachte, es muss immer einer hier sein?"
"Heutzutage nehmen die meisten Kameras alles auf und Speichern das Material, was am Ende des Tages oder am Ende eines Monats dann gelöscht wird. Wenn etwas passiert, dann wird es eben aufbewahrt und man hat Beweise", warf Christian ein.
"Wo könnte man hier die Miniaturfigur verstecken?", fragte Luca in die Runde und ich sah mich noch einmal im Raum um. Es war ein kleiner Raum voller Bildschirme und drei Schreibtischen, an denen vier Personen sitzen konnten.
"Ich glaube nicht, dass die hier ist", meldete sich James zu Wort. "Kann ich mir irgendwie nicht vorstellen, you know?"
"Dann ab zum nächsten Raum", bestimmte Flavia. Sobald wir alle raus waren, ließ Teresa die Tür einfach ins Schloss fallen und sie war verschlossen, als wären wir dort nie drin gewesen.
Die nächste Tür war am Ende des Flurs und zum Glück war sie nicht verschlossen. Vor uns erstreckten sich nun Reihen von hohen Regalen. Es schien eher eine Lagerhalle, als ein Raum zu sein. Die Regale reichten bis unter die Decke und waren voll bepackt. Links befanden sich die Regale mit Lebensmitteln und rechts waren viele Souvenirs gestapelt.
"Ich glaube, hier werden wir finden, was wir suchen", sagte Leo. "Am besten immer zu zweit eine Reihe abgehen." Er fing mit Christian ganz rechts an, die Reihe daneben nahmen Teresa und ich in Angriff, die Reihe neben uns suchten Flavia und James ab, während Luca und Eliana sich eine Reihe weiter aussuchten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte ich Eliana freudig rufen: "Leute! Wir haben die Kartons der Figuren gefunden!"
"Am besten nehmen wir die erstmal mit", meinte Christian aus der Reihe neben uns. "Ich glaube kaum, dass wir da drin etwas finden, aber man kann nie wissen."
"Aber wir können doch nicht fünf Kartons voller Figuren bis nach oben schleppen!", warf Eliana entsetzt ein.
"Tja", grinste ich nun. "Dafür haben wir ja einen Wagen neben dem Aufzug warten."
"Wo könnte die Figur denn noch sein?", überlegte Flavia dann laut und ich sah mich weiter um. Ich stand vor dem Regal und sah hoch. Es war wirklich komplett voll gestellt. Vielleicht, wenn man einmal nachsehen ging, was sich dort oben befand...
Ich ließ meinen schwindelerregenden Gedanken gar keine Zeit, mich umzustimmen. Ich stellte meinen Fuß auf die unterste Stufe und zog mich hoch. Ich machte etwas Platz und stieg dann noch ein Brett höher. Das Regal wackelte kaum, da es viel zu voll war, um auch nur ansatzweise umzukippen.
"Was tust du da?!", fragte mich Teresa entsetzt, als sie meinen Plan zu erkennen schien.
"Kurz nachgucken", erwiderte ich bloß.
"Aber du hast doch Höhenangst!"
"Echt? Hab ich wohl vergessen, so ein Pech aber auch."
"Alex?", hörte ich Leo mahnend fragen. "Was tust du?"
"Ich suche bloß, genauso wie ihr auch." Dabei stieg ich wieder höher und unterdrückte den Drang, hinter mich zu schauen, da ich ansonsten definitiv eine Panikattake bekommen würde.
"Mach' keinen Scheiß!"
"Würde ich nie tun." Dabei stieg ich wieder höher. Ich biss mir auf die Unterlippe und zwang mich weiter nach oben zu sehen, anstatt nach unten. Alles wird gut, Alex, du kannst das schaffen, du bist stark, lass dich nicht von einer blöden Angst aufhalten.
Ich hörte die anderen, wie sie zu uns in den Gang kamen.
"Alex! Komm' da runter!", hörte ich Teresa sagen.
"Erst wenn ich mir das angeguckt habe da oben! Jetzt bin ich gleich da, also beruhigt euch doch mal!" Ich krallte mich mit der linken Hand fest ans Regal, während meine rechte ein paar Dinge zur Seite schob. Ich schaffte es bis ganz nach oben und musste feststellen, dass hier wohl schon länger niemand war, da eine dicke Staubschicht auf allen Kartons lag.
"Jetzt warst du oben. Kannst du bitte wieder runter kommen, bevor etwas passiert?", seufzte Leo.
"Gleich." Ich versucht zu erkennen, ob auf den anderen Regalen irgendetwas verdächtiges war. Leider schien dies nicht der Fall zu sein. Als ich jedoch wieder einen Fuß auf das untere Regalbrett setzen wollte, blitzte etwas in meinem Augenwinkel auf. Ich stellte mich wieder richtig hin und schob den schweren Karton auf meinem Regal etwas zur Seite, um auf das gegenüberliegende Regal zu sehen. Immer wenn ich meinen Kopf bewegte, blitzte etwas auf. "Da ist was", meinte ich.
"Was hast du gefunden?", fragte Christian.
"Da leuchtet etwas auf. Es liegt auf dem anderen Regal ganz oben."
"Ich gehe kurz gucken", sagte James.
"Warte, ich helfe dir." Flavia folgte ihm und sie verschwanden im anderen Gang. Ich wartete, bis Flavias Wuschelkopf auftauchte.
"Hier?", fragte sie und durchsuchte ein paar Kartons.
"Etwas weiter rechts", erklärte ich. Sie schob ein paar Dinge mit ihrem Fuß weg und bewegte sich dann in die genannte Richtung. "Genau da!" Flavia blieb sofort an der Stelle stehen und suchte zwischen den Kartons. Als sie eine Folie anhob, lehnte sie sich etwas aufs Regal.
"Careful", warnte James von unten.
"Es ist so weit hinten", brachte meine beste Freundin hervor. Sie stellte sich auf Zehenspitzen und versuchte an etwas dranzukommen. Flavia machte sich noch ein wenig länger und richtete sich kurz darauf wieder auf. Sie drehte sich zu mir um, hielt grinsend etwas in der Hand und wackelte mit den Augenbrauen.
"Super!", rief ich ihr strahlend zu.
"Könnt ihr dann bitte beide wieder herunter kommen?", bat Teresa ungeduldig. "Ich werde nervös, wenn ich euch zwei da oben sehe."
"Ich komm' ja schon", meinte ich und sah automatisch auf meine Füße, um nach unten zu gehen und das Regal nicht zu verfehlen. Dies stellte sich allerdings sofort als riesen Fehler heraus. Mir wurde augenblicklich schwindelig und ich weitete meine Augen, als ich sah, wie weit ich eigentlich vom Boden weg war. Panisch schnappte ich nach Luft und krallte mich fester ans Regal.
"Alex? Alex, ist alles okay?", hörte ich Leos Stimme weit weg fragen. Ich glaubte, benommen den Kopf zu schütteln, doch ich war zu konzentriert auf den Versuch, Luft zu bekommen. Ich kniff meine Augen zusammen und konzentrierte mich auf meine schnelle Atmung. Das war zu hoch. Wieso hatte ich das nur getan? Wie sollte ich wieder herunter kommen?
"Lass' dich fallen!", rief Luca.
"Wir fangen dich auf!", fügte Christian hinzu.
"I-Ich-", stotterte ich und schüttelte wieder den Kopf. Alles drehte sich und ich krallte mich weiterhin ans Regal. Ich würde das nicht einfach loslassen.
"Komm' schon, Alex!", versuchte es nun Leo. "Dir kann nichts passieren, wir sind alle hier und fangen dich auf!"
"Nein", brachte ich kaum hörbar hervor. Daraufhin folgte erstmal leises Gemurmel, doch ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. Das nächste, was ich halbwegs mitbekam war, dass irgendwer plötzlich das Regal hochkletterte und kurz darauf neben mir auftauchte. Jemand versuchte meine Finger vom Regal zu lösen, doch ich hielt mich weiterhin krampfhaft fest. Irgendwann tauchte eine weitere Person auf und nun versuchten sie gemeinsam meine Hände zu lösen. "Nein", hauchte ich wieder, als sie es geschafft hatten und mich fest an den Handgelenken hielten.
"Okay", sagte Leo und plötzlich wurde mir ein kleiner Stoß verpasst. Ich schnappte erschrocken nach Luft und kniff meine Augen noch fester zusammen. Ich spürte schon, wie ich auf dem Boden aufklatschte. Ich spürte schon den Schmerz, welcher durch meinen Körper fahren würde.
Doch all dies kam nie.
Stattdessen landete ich plötzlich in kräftigen Armen und sofort krallte ich mich an das Shirt dieser Person.
"Alles gut. Hey, Alex, atme tief durch", hörte ich eine bekannte Stimme sagen. Eine sehr bekannte. "Du bist wieder unten, kein Grund zur Panik." Ich holte ein paar Mal tief Luft und merkte beim Ausatmen, wie ich zitterte. Mir stieg ein bekannter Geruch in die Nase und sofort beruhigte ich mich etwas. Ich war sicher. Alles war gut. Ich war endlich unten.
Langsam öffnete ich meine Augen und sah Leo auf mich herab blicken. Er hatte mich aufgefangen und mir beruhigende Worte zugesprochen. "So viel zum Thema nicht in Schwierigkeiten bringen, hm?" Er grinste vor sich hin, doch ich war zu schwach, um dagegen zu diskutieren. Erschöpft lehnte ich meinen Kopf an seine Schulter und schüttelte diesen leicht.
"Du bist so ein Idiot", murmelte ich.
"Ein Idiot, der dich rettet", korrigierte er schmunzelnd.
○●○
"Ich hätte nie gedacht, dass wir den Wagen nochmal brauchen würden", meinte Eliana, als sie den Putzwagen in unser Zimmer schob, welcher unter den Handtüchern allerdings die Kartons mit den Miniaturfiguren enthielt.
"Wir probieren erst den aus, den Flavia hat", sagte ich, noch immer etwas schwach. Leo hatte mich den Weg über gestützt und nun ließ ich mich neben ihn aufs Bett fallen. Erschöpft legte ich mich zurück und bedeckte meine Augen mit den Händen. Ich hasste meine Höhenangst.
"Aye, Aye, Captain!", hörte ich Flavia sagen und konnte mir vorstellen, wie sie salutierte. Ich hörte ein wenig Geraschel, als jeder versuchte, die ganzen Rätsel zusammenzusuchen.
"Geht's dir besser?", fragte mich Leo. Ich nahm die Hände runter und sah ihn an.
"Danke", meinte ich bloß.
"Wofür?" Er hob seine Augenbrauen.
"Dass du einfach immer da bist."
"Ach, das." Er winkte ab und zwinkerte mir lächelnd zu. "Keine Ursache." Ich erwiderte sein Lächeln, bis Christian plötzlich verkündete, dass sie alle Rätsel zusammen hatten. Ich setzte mich auf und beobachtete Teresa dann dabei, wie sie die Zettelchen vor sich auf dem Schreibtisch ausbreitete. Flavia stand neben ihr, den Miniluxor in der Hand. Sobald alle Rätsel vor ihnen lagen, machte Luca die Rollläden herunter und Christian das Licht aus.
"Zeit der Wahrheit", sagte Flavia, bevor sie das Licht der Figur einschaltete und auf die Zettel vor sich leuchtete. Sofort tauchten neue Zeichen und Striche auf den Rückseiten der Rätsel auf, die wir in den verschiedenen Städten bekommen hatten. Erstaunt stand ich auf und stellte mich zu meinen Freundinnen.
"Noch erkennt man gar nichts", warf Eliana ein, als sie Teresa über die Schulter sah.
"Leo ist das Fehlende Puzzleteil", meinte ich und nahm die Zettel zur Hand, bevor ich mich zu ihm drehte. "Wir brauchen das Tattoo." Sofort verstand er und zog sein Shirt aus, bevor er sich zurück aufs Bett legte. Zum Glück war es im Zimmer fast komplett dunkel, ansonsten hätte ich mich von ihm zu sehr ablenken lassen.
Mit den Rätseln stieg ich aufs Bett und kniete mich neben ihn. "Leuchte mal aufs Tattoo, Flavia." Meine beste Freundin stellte sich ans Bettende und leuchtete auf Leos Oberkörper. Tatsächlich wurde das Tattoo mit einer bestimmten Tinte gestochen, da eine komplett anderen Karte auftauchte. Ich versuchte irgendwie die Zettelchen richtig anzuordnen, damit diese mit dem Tattoo vereint eine sinnvolle Lösung ergaben.
"Ich glaube, dass muss hier hin." Teresa half mir, die Zettel irgendwie richtig anzulegen. Aus den komischen Zeichen wurden plötzlich Buchstaben und aus diesen Buchstaben wurde irgendwann auch ein Wort.
"Havasupai", las James laut vor.
"Gesundheit", erwiderte Luca.
"Das habe ich schon irgendwo mal gehört", überlegte Teresa. "Hm...Havasupai...es erinnert mich an irgendetwas." Es mochte dunkel sein, doch ich bemerkte trotzdem ihren verstohlenen Blick zu Christian. Ansonsten lösten sie so etwas immer gemeinsam.
"Wartet mal, da ist noch etwas." Flavia zeigte auf einen kleinen, kaum merkbaren Punkt etwas weiter links auf Leos Tattoo. Ich beugte mich weiter vor und hob das Zettelchen hoch.
"Kann ich einmal bitte das Licht haben?", fragte ich Flavia und sie reichte es mir sofort. Ich beugte mich über Leos Tattoo und leuchtete drüber. "Sieht irgendwie aus, als wäre dieser Strich hier ein Fluss oder so."
"Da ist auch wieder so ein Punkt", meinte Flavia.
"Eher ein kleines X." Ich strich vorsichtig drüber, wobei ich merkte, wie Leo sich kurz anspannte.
"X markiert die Stelle", warf Luca ein.
"Ich hab's! Grand Canyon!" Teresa sah uns strahlend an. Sie schien mit sich selbst sehr zufrieden.
"Das musst du jetzt erst erklären", forderte Eliana. "Ich bin gar nicht mehr mitgekommen."
"Havasupai, ein indigener Stamm, welcher seit vielen Jahren im Grand Canyon lebt", nickte Christian. "Der Fluss soll bestimmt den Colorado River darstellen."
"Und das X dort steht bestimmt für Arizona", beendete Teresa ihre Erklärung. Christian machte das Licht wieder an und ich nahm die Zettel von Leos Oberkörper, bevor er sich hinsetzte. James reichte ihm sein Shirt, was er sich wieder anzog.
"Heißt also, wir müssen zum Grad Canyon?", fasste Leo zusammen.
"Sieht ganz so aus", bestätigte ich nickend.
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