9. Kapitel

"Nein, Marino." Vor zwei Jahren hatte ich eine lebensverändernde Entscheidung getroffen. Die werde ich nicht so einfach zurücknehmen. Meine Stimme war glasklar. Das Auftauchen von Marino hatte mich etwas ins Wanken gebracht, aber schlussendlich mich nur noch bestärkt. Mein Leben ist hier. Punkt.

Marino musste den Ton meiner Stimme bemerkt haben. Sein Gesicht verschloss sich und wurde so gekünstelt wie eh und je. "Na gut, wenn du meinst." Er lehnte sich nach vorne. "Aber lass dir etwas sagen. Ich hätte mehr von dir erwartet. Ich hätte gedacht, dass dir dein Volk und deine Heimat nicht egal ist, aber anscheinend habe ich mich geirrt." Tiefe Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Mein Körper verspannte sich bei Marino's Worten. Sie trafen meine Haut wie spitze Dornen.

"Marino, hör zu. Mir ist es nicht egal, aber" Er stand einfach auf und tat als würde er mich nicht hören. Seine Gestik zeigte mir, dass er mir längst nicht mehr zuhört. Zielstrebig ging er Richtung Haustür. Meinen Schal immer noch lässig um die Hüften geschwungen.
Omg. Er machte mich noch wahnsinnig. Hat er ernsthaft, dass ich einfach so freiwillig mit ihm zurückgehen würde? Frustriert sprang ich auch von meinem Sessel auf und eilte ihm hinterher.

Flink schlüpfte ich zwischen ihm und die Tür, die er soeben öffnen wollte. In dem Moment, als ich vor ihm zu Stehen kam, wandte er sich beleidigt ab. Er musterte den alten Teppich, als hätte er noch nie etwas Interessanteres gesehen. Er war jetzt die beleidigte Leberwurst. Schön. Soll mir recht sein. Aber ich würde ihn nicht so außer Haus lassen.

"Du musst dir etwas anziehen. Du kannst so nicht außer Haus gehen." Ich nickte Richtung seinen halbnackten Körper. Er grummelte nur ungeduldig. Ich zwang mir einen unbeschwerten Ton auf. "Ich bring dir etwas zum Anziehen. Irgendetwas habe ich schon, dass dir passt." Irgendetwas, das mir nicht wichtig war, den ich würde es bestimmt nie wieder zu Gesicht bekommen. Und wenn, dann würde ich es bestimmt nicht mehr anziehen. Eher wegwerfen, so wie er sich hier aufführte.

"Nein"
Ich blickte ihn verwirrt an. "Wie nein?"
Er blickte mich mit seinen tiefblauen Augen an. Verstimmt. Beleidigt. Missmutig.

Okay, definitiv eine gute Voraussetzung, um mit ihm zu sprechen. "Nein danke, Niara. Ich lehne dein Angebot gerne ab." Die Stimme war gefährlich kalt. Ich presste meine Lippen zusammen. In dem Zustand würde er nicht mehr mit sich reden lassen. Dafür kannte ich ihn zu gut. "Na gut. Dann freu dich auf durchgefrorene Arme und Beine."
Seine Lippen verzogen sich zu einem abfälligen Lächeln. "Das mache ich, danke. Ist mir noch lieber, bevor ich so wie du herumlaufe." Er musterte mich wieder mit diesem abschätzigen Blick.

Jeder seiner Blicke und alle seine Worte rieben mich wund. Es war als würde jemand immer wieder mit Schleifpapier über die Haut fahren. Die verlorene Freundschaft schmerzte mich mehr, als es sollte. Die Vergangenheit war vergangen. Ich sollte mich endlich auf das jetzt konzentrieren.

Ich drückte meine Schultern durch. "Auf Wiedersehen, Marino." Seine Mundwinkel zuckten unfreundlich. Meine Hand drückte die Türklinke in dem Moment nach unten, als es an der Tür klingelte. Perplex öffnete ich die Tür weiter.

Meine Augen weiteten sich, als ich sah, wer hinter der Tür stand. "Frederick." Erstaunt blickte ich in seine Karamell-Augen. Sein Mund öffnete sich, schloss sich allerdings wieder wie ein Fisch, als Marino sich durch den Türspalt drängelte und sich neben Frederick stellte. Seine Augen weiteten sich genauso wie meine vorhin.
Nach einer oder auch mehreren Starrsekunden, wandte sich Frederick verwirrt an mich. "Ich wollte nur kurz vorbeischauen und fragen wie es dir geht." Seine warme Stimme legte sich wie Balsam auf meine Haut, die Marino aufgerieben hatte. Oh Mann, wieso musste er eine so warme Stimme haben?
Er runzelte kurz die Stirn und wagte einen Seitenblick auf Marino. "Aber anscheinend komme ich ungelegen."

Die Situation konnte wohl nicht unangenehmer sein. Marino, nur in meinem Schal gewickelt, war halbnackt neben mir aus der Wohnung gekommen. Omg. Wie beschissen konnte ein Tag werden? Marino betrachtete Frederick wie ein Rätsel, dass es zu entschlüsseln gab. Konnte ich jetzt nicht einmal mehr, Menschen um mich haben, die sich um mich sorgen?

Frederick musste sich wohl jetzt denken, dass Marino und ich etwas laufen hatten. Wahrscheinlich wirkte es, als wären wir beide soeben aus dem Bett gestiegen. Wie könnte es auch anders sein? Wenn ich in Frederick's Wohnung eine halbnackte Frau neben ihm stehen sehen würde, dann würde ich mir auch dementsprechendes denken.
Und wieso dachte ich überhaupt darüber nach?

Frederick war mir genauso wenig Erklärungen bezüglich seinem Privatleben schuldig wie ich ihm. Oder?
Wir hatten heute nur einen kurzen Moment, der bestimmt nichts Großes bedeutet hat.

Marino riss mich aus meinen Gedanken, indem er Frederick die Hand hinhielt. "Ich bin Marino. Du?"
Frederick starrte auf die Hand, als wäre er unsicher, ob er damit einen unbekannten Pakt eingehen müsste. Als ich Frederick's zweifelndes Gesicht sah, ergriff ich das Wort und half ihm aus der Patsche. Mithilfe von losen Bewegungen stellte ich die beiden einander vor. "Marino, das ist Frederick. Frederick, das ist Marino. Ein alter Bekannter der soeben gehen wollte, stimmts?"

Ich blickte Marino bedeutungsvoll an. Er verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und zog seine Hand wieder zurück. Während er Frederick abwartend taxierte, sagte er: "Ja genau. Ich wollte soeben gehen." Er zog seine Worte unnötig lange auseinander.
Seine Augen verzogen sich zu schmalen Schlitzen, als er zwischen mir und Frederick hin und herschaute.
"Es hat mich gefreut dich kennenzulernen, Frederick." Seine Stimme sagte etwas ganz anderes als seine Worte. Es war ihm anzuerkennen, dass er Frederick nicht ausstehen konnte. Wahrscheinlich, weil er ein Mensch war.

Ein letzter abschätziger Blick an Frederick und ein letzter vorwurfsvoller Blick an mich. "Auf Wiedersehen Niara." Dabei betonte er es, als wäre es schon sicher, dass wir uns wiedersehen. Ganz bestimmt nicht. Niemals. Keine Chance.
Ich rang mir ein gekünsteltes Lächeln ab. So ein Arsch. Es war unmöglich, wie er sich hier aufführt und sich gegenüber Frederick verhält.

Mit aufrechter Haltung stakste er mit sichtlicher Mühe die Stufen nach unten. Frederick und ich sahen ihm stumm hinterher. Keiner rührte sich oder sprach ein Wort bis man unten die Haustür zuschlagen hörte. Bei dem Knall zuckte ich zusammen.

Er katapultierte mich wieder ins Hier und jetzt. Mitten in den 1. Stock. Ich sah Frederick unsicher an. Unsicher, was ich jetzt tun oder machen sollte.
"Tja, also…" Mehr fiel meinem Hirn nicht ein. Ganz große Leistung. Ich vergrub meine Hände in die Bauchtaschen den Hoodies. Eine Angewohnheit, die erst über Wasser entstand. Früher hätte ich niemals meine Hände gegenüber meines Gesprächspartners versteckt. Den das hatte in unseren Kreisen bedeutet, dass man etwas zu verbergen hatte.

Wenn man genau war, verbarg ich auch etwas vor Frederick. Jede Menge sogar. Frederick griff sich in den Nacken. Er lächelte schief. "Ziemlich seltsame alte Bekannte hast du."
Mein Mundwinkel zuckten leicht. "Ja, aber ich wünschte er wäre nicht aufgetaucht."
Er runzelte süß die Stirn. "Hast du ein Problem mit ihm? Ist etwas passiert?" Seine Besorgnis rührte miii...

Whoa. Warte mal kurz, Niara. Was hast du eben gedacht? Sein Stirnrunzeln sollte süß sein? Jetzt mach mal langsam okay. Meine innere Stimme lachte fast schon hysterisch auf. Auch wenn er aufgetaucht war, um nach mir zu sehen, das bedeutete gar nichts. Es bedeutete bestimmt nicht, dass er seine Stirn süß runzeln konnte. Ganz bestimmt nicht.

Okay gut, dass das geklärt war. Warte was war noch mal seine Frage? Ach ja.
Ich räusperte mich, um meine kleine innere Diskussion zu überspielen.
"Nein, es ist nichts passiert. Nur eine alte Geschichte."
Ich merkte wie er kurz abwartete, ob ich noch mehr sagen würden aber da kam nichts. Irgendwann müsste ich ihm wohl meine Geschichte erzählen, aber bestimmt nicht hier zwischen Tür und Angel. Das musste in einer gemütlichen Atmosphäre passieren, damit der Schock nicht allzu übermäßig groß sein wird.

"Falls du irgendwann jemanden zum Reden brauchst, dann weißt du ja wo du mich findest."
Eine kleine Welle der Zuneigung schwappte durch mich. Oh Mann, wieso war er bloß so verdammt nett?
"Das ist schon das zweite Mal an einem Tag, dass du mir das vorschlägst. Ich muss echt einen miserablen Eindruck machen. Schaue ich echt so scheiße aus?" Ich lachte kurz auf.
"Nein, nein. Um Gottes willen, dass wollte ich bestimmt nicht damit sagen." Er lächelte zögerlich. "Im Gegenteil"

Verblüfft starrte ich ihn an. Seine weichen Gesichtszüge, seine warmen Augen und sein vorsichtiges Lächeln. Hatte ich mich verhört?
Unsicher, was ich machen sollte, strich ich mir eine Strähne hinters Ohr.
"Ähm danke, schätze ich." Meine Stimme kam mir noch nie so vor wie in diesem Moment.
Frederick beobachtete mich aufmerksam. "Gerne, jederzeit wieder."

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