6. Kapitel

Marino's Lächeln wurde breiter. Gezwungener.
Alles in mir schrie: LAUF!
Doch seine Augen fixierten mich. Ich konnte nicht weg. So ein Arschloch. Setzte einfach seine Magie bei mir ein. Auch wenn ich wollte, hätte ich keinen Schritt gehen können. Neben Furcht breitete sich etwas anderes in mir aus. Seine Augen bewirkten etwas. Sie rufen etwas längst Vergessenes Verdrängtes in mir hervor. Erinnerungen. Erinnerungen, an die ich mich nicht mehr erinnern möchte.

"Lass mich los!" Neben der Funktion der Organe war auch mein Mundwerk nicht von ihm beeinflussbar.
Wütend starrte ich ihn an. Sein Lächeln verlor minimal an Strahlkraft. "Nur wenn du versprichst, liebste Niara, dass du stehen bleibst." Mir entkam ein schnaubendes Lachen.
Wie er vor mir stand. Die Haltung. Sein Blick. Als wäre er der König über mich und könnte alle Entscheidungen für mich treffen.
"Jetzt hör mir mal gut zu Königssöhnchen." Meine Stimme war schneidend kalt. So wie der Wind, der an einem tiefen Wintertag über das Meer zieht. "Ich weiß nicht, warum du hier bist. Geschweige denn, wie du mich gefunden hast. Aber eines weiß ich, wenn du mich nicht sofort loslässt, dann finde ich einen eigenen Weg. Und ich versprich dir, dass das wehtun wird."

Unter Wasser wäre mir gewiss eine Möglichkeit eingefallen, wie ich ihn entkommen könnte. Es gibt immer einem Weg aus der Magie heraus. Auch, wenn er lang und schmerzhaft war. Keine Magie hielt ewig. Zumindest nicht, wenn man es mit jemanden wie mir, mit viel Erfahrung zu tun bekam.
Egal wie und nach wie viel Zeit, der der die Magie ausübte, bekam danach furchtbare Schmerzen. Es schmerzt dort, von wo die Magie ausging. Bei ihm wären es die Augen.

Er konnte nicht wissen, dass man über Wasser nur beschränkte Möglichkeiten hatte, eine Magie zu durchbrechen, aber das musste er auch nicht wissen.

Marino wirkte beleidigt, fast schon gekränkt. Sollte er doch. Geschieht im Recht. Elendiger Verräter.
Seine Miene wurde etwas sanfter. Etwas. Aber wirklich nur um eine Spur.
"Niara." Schon komisch wie er nur in diesem Rock vor mir stand. Vor drei Jahren hätte ich noch mit ihm darüber gelacht. Jetzt nicht mehr. Diese Zeit war Vergangenheit.
Wenn ich es könnte, würde ich herausfordernd eine Augenbraue nach oben ziehen. Konnte ich aber nicht. Deswegen erwiderte ich bloß patzig: "Was?"

Er seufzte und fuhr sich durch seine Locken. Seine Miene war wieder etwas sanfter geworden. "Ich will dich echt gerne loslassen. Ich will nicht so mit dir reden. Aber du musst versprechen, dass du stehen bleibst und mir zuhörst. Ich habe so lange nach dir gesucht. Ich will dich nicht wieder aus den Augen verlieren."
"Das hättest du dir früher überlegen sollen." Nach wie vor starrte ich ihn an, wie den Teufel persönlich. Egal wie versöhnlich seine Worte waren, ich würde niemals vergessen könne, was er mir angetan hatte. Niemals.

Bedeutungsvoll zog er eine Augenbraue nach oben. "Tu nicht so, als hättest du keine Fehler gemacht. Wir haben beide Mist gebaut."
Wenn ich könnte würde ich mich umdrehen und einfach gehen. Die letzten Tage waren anstrengend genug. Ich wollte mich damit nicht auch noch herumschlagen.
Missmutig presste ich die Lippen zusammen. Ich war stark genug, um das durchzustehen.
"Ich bin im Gegensatz zu dir wenigstens zu meinen Taten gestanden. Aber dafür war dir doch dein goldenes Krönchen zu groß."

Verstimmt verzog Marino das Gesicht. "Ich weiß ich habe Fehler gemacht. Aber ich ... Lass mich ausreden." Er verschränkte die Arme, als ich Luft holte, um ihn zu belehren, wie unverzeihbar und zutiefst demütigend seine Fehler waren. Beleidigt schloss ich meinen Mund wieder. Es war nicht so, dass ich ihm meine Meinung schon lange gegeigt hatte, aber ich fand, dass es nie zu viel sein konnte.

"Was ich sagen wollte. Ich wollte dir sagen, dass ich mit dir reden muss. Unbedingt."
"Und was ist, wenn ich nicht mit dir reden will?"
"Du musst. Ich gehe nicht, ohne dass ich mit dir geredet habe." Seine Stimme nahm einen bestimmenden Ton an.
Ich schnaubte.
"Ich werde nicht gehen. Du wirst mich nicht wegschicken können. Wenn ich sage, dass ich bleibe, dann bleibe ich auch. Auch wenn das bedeutet, dass ich mein Lager bei dir aufschlagen muss. Ich werde erst wieder gehen, wenn du mit mir geredet hast."

Ich kochte vor Wut. Was bildet er sich ein, nach all der Zeit, hier auftauchen zu können und zu verlangen, was ich tun sollte. Aargh. Ich war so was von durch mit ihm. Dieses Gefühl gab mir einmal mehr die Bestätigung, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, abzuhauen. Bei all meiner Liebe zu meiner Heimat, aber Momente wie diese bestätigten mich nur.

Rasend dachte ich hin und her. Wenn ich nicht mit ihm redete, dann konnte ich mir eine Menge an Nerven sparen. Aber auf der anderen Seite, wenn er seine Drohung wahr machte und halbnackt vor meiner Wohnung kampierte, dann war Ärger vorprogrammiert. Meine Nachbarn konnten mich so schon nicht leiden. Außerdem war ich neugierig, auf das, was er mir zu sagen hatte und vor allem wie er mich gefunden hatte.

Deswegen lenkte ich ein. Es ging mir gegen den Strich. Definitiv. Aber was sollte ich sonst machen?
Zudem war ich schon immer von Natur aus neugierig gewesen.

Kapitulierend biss ich die Zähne zusammen. Aargh. Ich werde das so was von bereuen.
"Gut. Ich werde dir zuhören." Ein gewinnendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Gott, ich glaube, mir wird schlecht.
"Aber." Sein Lächeln stockte kurz. So einfach kam er mir nicht davon. Etwas wollte ich von ihm auch erfahren.
"Du wirst mir vorher sagen, wer dich geschickt hat und zweitens wirst du dir mehr anziehen. So kann ich nicht ernsthaft mit dir reden."

Marino runzelte die Stirn. "Also erstens: es hat mich keiner geschickt und zweitens, was ist an meinem Outfit falsch?" Mit einer losen Bewegung zeigte er an sich hinunter.

Ich musterte ihn abschätzig. "Ich glaube dir nicht, dass dich niemand geschickt hat und falls es dir noch nicht aufgefallen ist, so läuft man hier nicht herum. Mich wundert es, dass dir noch nicht kalt ist."
Immerhin war die Sonne bereits hinter dem Meer versunken und der leichte Wind wurde schön langsam ungemütlich. Ich grub meine Finger in den flauschigen Stoff in der Bauchtasche. Es war nicht mein Plan gewesen, länger draußen zu bleiben.

Seine Stimme bekam einen eindringlichen Ton. "Niara. Wenn ich es dir doch sage. Mich hat niemand geschickt. Niemand weiß, dass ich hier bin. Wie kommst du auf so etwas?"

Vermeintlich unbedeutend zuckte ich mit den Schultern. "Ich wüsste nicht, wie du mich alleine gefunden hättest." Meine Gedanken hüpften zurück zu gestern Nacht. Wenn ich es richtig verstanden hatte, hatten die beiden für einen Auftraggeber gehandelt. Was ist, wenn Marino die Unbekannte in der Gleichung war?
"Außerdem, wieso solltest du mich suchen? Es ist doch klar, dass da jemand dahinter steckt. Eine Art Auftraggeber."
Unschuldig musterte ich seine Gesichtszüge. Wie reagierte er darauf?

Große Hoffnung, einfache Antwort.
Er reagierte überhaupt nicht. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Entweder hatte er in letzter Zeit seinen königlichen Unterricht nicht mehr geschwänzt, oder hatte damit wirklich nichts zu tun.
Als ich noch in Sum Adiva gelebt hatte, schwänzte er regelmäßig seinen Unterricht, der ihn in seinen königlichen Pflichten lehren sollte. Unnütze Zeitverschwendung nannte er es immer. In jungen Jahren verbrachte er die Zeit beim Training in der Elitegarde. So hatten wir uns übrigens auch kennengelernt. Er gab sich als eine Art Lehrling aus. Die erste Lektion handelte davon jemanden kampfunfähig zu machen. Erst später sollte ich erfahren, dass es sich bei dem Typ, den ich krankenhausreif geschlagen hatte, um den Cousin der Thronfolgerin handelte. Seitdem war er regelmäßig in den Trainings aufgetaucht.

Verärgert schüttelte ich den Kopf. Das war eine der Erinnerungen, von denen ich nichts mehr wissen wollte. Eigentlich sollte sich diese Erinnerung im Gehirn in der letzten Ecke befinden. Verschlossen in Kisten, von denen ich den Schlüssel weggeworfen hatte. Aber anscheinend hatte Marino's Anwesenheit bewirkt, dass das Schloss von selbst aufsprang. Scheiß Schloss.

Wenn Marino seine Stirn weiterhin so viel runzelte, würde er sich bald eine glatte Stirn spritzen müssen. "Was? Ein Auftraggeber? Und ich dachte, du kennst mich. Ich würde niemals nach den Befehlen anderen arbeiten."

"Auch nicht, wenn die Befehle mit deinen Wünschen zusammenhängen?"

"Was?" Jetzt sah er wirklich perplex aus. "Hast du hier etwa Literaturnachhilfe bekommen?
Und nein. Wie oft soll es dir noch sagen?
Ich. mache. das. hier. alleine. Punkt, aus. Ich alleine wollte das machen. Wieso sollte dich überhaupt jemand suchen? Der Prozess gegen dich wurde schon letztes Jahr verworfen. Wegen mangelnder Beweise und fehlerhaften Aussagen gegen dich. Es gäbe keinen Grund dich deswegen zu suchen."

Das war neu. Der Prozess wurde verworfen? Echt jetzt? Das musste erst einmal durchsickern in mein Gehirn. Der Prozess war einer der Gründe gewesen, weswegen ich abgehauen war. Ich weiß, das klang jetzt echt feige. Aber ich liebte nun mal meine Freiheit. Niemand könnte mir sie je nehmen. Und da es damals echt mies für mich aussah, bin ich abgehauen. Ein unbeaufsichtigter Moment und weg war ich.

"Oh, das ist mir neu." Meine Verwunderung war wohl unüberhörbar. Neben der Wut auf Marino mischte sich etwas anderes hinzu. Verblüffung.
Auch Marino merkte wohl meinen Stimmungswechsel. Sein Gesichtsausdruck wurde versöhnlicher. Langsam ging er einen Schritt auf mich zu. Mit angehaltenem Atmen beobachtete ich, wie er zögerlich eine Hand ausstreckte. Als wollte er mir seine Hand auf die Schulter legen.

Mein Körper wollte zurück. Aber ich stand immer noch da wie festgenagelt.
"Könntest du bitte endlich deine dämliche Magie lösen?" brachte ich angespannt hervor.
Marino zuckte zurück. Es schien, als wäre ihm erst jetzt eingefallen, dass er meinen Körper noch immer kontrollierte. "Oh, ja klar."
Seine Augen leuchteten für einen Moment kurz auf. Im nächsten Moment flutete wieder Leben meinen Körper.
Ein grandioses Gefühl.
"Oh, Gott sei Dank." Ich seufzte glücklich auf. Um wieder Schwung in meine Gelenke zu bekommen, schüttelte ich alles nacheinander aus. Füße, Hände, Finger. Alles bewegte sich wieder. Traumhaft. Einfach traumhaft. So lässt es sich leben.

Marino warf mir ein leichtes Lächeln zu. Ich wurde aus ihm einfach nicht schlau. Tauchte hier einfach auf, war auf der einen Seite sauer auf mich und auf der anderen wirkte er wieder normal. Aber es betraf auch mich. Ich konnte nicht vergessen, dass er mich einfach fallengelassen hatte, wie eine schrumpelige Kartoffel. Auf der anderen Seite wollte ich nicht mit ihm streiten. Ich wollte zumindest zivilisiert mit ihm reden können.

Aus diesem Grund drückte ich meinen Rücken durch und atmete einmal tief aus. Ich strich meine Verwünschungen aus meinem Gehirn und sprach mir gut zu.
'Du schaffst das. Du musst dir nur anhören, was er zu sagen hatte. Dann wirst du ihn wahrscheinlich nie wieder sehen.'
Okay.
Ich lächelte mein perfektestes Lächeln, dass ich zustande brachte. Es fühlte sich an, als würde ich in eine andere Haut schlüpfen.

"Also, was wolltest du mir sagen?"

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