3. Kapitel

Unsicher trat ich von einem Füß auf den anderen. Schon seit 20 Minuten stand ich hinter dem Vorhang und lugte immer wieder vorbei durch das Fenster. Sie müssten jeden Moment aufwachen. Ich musste sichergehen, dass sie verschwanden.

Draußen war es mittlerweile stockdunkel. Vor dem Haus verlief eine einspurige Straße, daneben lag ein Fußgängerweg und dahinter erstreckten sich die Weiten des Meeres. Das Mondlicht spiegelte sich in den sanften Wellen.
Ich wusste, dass es ein Risiko war, wenn ich in der Nähe des Meeres wohnte, aber ich konnte nicht anders.
Es gab mir eine Art Sicherheit. Ich fühlte mich trotz allem zu dem kühlen Nass hingezogen. Ich konnte nicht anders. Es war immerhin meine Heimat.
Auch wenn ich das Meerwasser seit über zwei Jahren nicht einmal mit der kleinsten Zehe berührt hatte.

Ein Schrei durchbrach die nächtliche Stille. Ein lauter, von Schmerzen verursachter, Schrei. Kurz darauf hörte ich auch einen zweiten Schrei. Sie waren erwacht. Das war gut. Wenigstens etwas.
Schon nach kurzer Zeit stolperten zwei dunkle Gestalten aus der Seitengasse auf die Straße. Neugierig stellte ich mich auf die Zehenspitzen. Im Licht der Straßenlaternen konnte ich die beiden Typen von vorhin ausmachen.

Sie taumelten über die leere Straße und rubbelten sich die Augen. Das würde es allerdings noch schlimmer machen. Ich wusste das aus eigener Erfahrung nur zu gut. Die beiden bewegten sich weiter Richtung Meer. Dabei stolperten sie immer wieder über ihre eigenen Füße.
Jep. So wie es ausschaute, waren sie gut bedient und würden nicht so bald wieder kommen. Als sie bei der niedrigen Steinbrüstung ankamen, stürzten sie kopfüber ins Meer. Das Gewässer war hier schon einige Meter tief. Es würde sie also nicht umbringen.

Ich beobachtete die Straße noch einige Minuten, bevor ich mich erleichtert abwandte. Huch.
Die Gefahr schien für den Moment gebannt zu sein.
Mit der Gewissheit, dass ich mich in Sicherheit wiegen konnte, setzte ich mich erschöpft auf einen Esszimmerstuhl. Mein Blick fiel auf das Waschmittel, dass ich in der Eile am Küchentisch abgestellt hatte. Was so ein Fleckenkiller alles bewirken konnte.

Für uns Meermenschen waren chemische und ätzende Mittel extrem gefährlich. Dadurch, dass bei uns alles eher naturel war, waren wir extrem empfindlich gegen solche Substanzen. Als ich das erste Mal dieses Waschmittel benutzen wollte, verätzte ich mir sofort die Hände. Noch Wochen danach, waren meine Handgelenke schmerzhaft gerötet. Seitdem nahm ich nur mehr biologische Waschmittel und dieses chemische Ding wanderte ganz nach hinten in den Schrank. Zum Glück hatte ich es noch nicht weggeworfen.

Das Mittel hatte ich nämlich ins Gesicht und auf die Fußgelenke meiner beiden Anggreifer gegoßen. Natürlich mit Sicherheitsabstand und extra dicken Latexhandschuhen. Versteht sich.
Die beiden würden sich in nächster Zeit wahrscheinlich nicht wirklich fortbewegen und weder richtig sehen, noch riehen oder sprechen können.
Geschieht ihnen recht.

Mit meinen Händen rubbelte ich mir wieder über das Gesicht. Schön langsam musste ich mir der Frage stellen, wie sie mich gefunden hatten. Nach über zwei Jahren. Ich hatte ehrlich gehofft, dass sie die Such bereits eingestellt hatten. Dem war anscheinend nicht so.

Mein erster Instinkt war wegzulaufen. Mal wieder. Aber ich wusste nicht wohin. Gut, das hatte ich beim ersten Mal auch nicht gewusst, aber egal.
Außerdem hatte ich mich jetzt schon eingelebt und ein wenig an die gemütliche Kleinstadt gewöhnt. Mit den kleinen Cafès und den gemütlichen Parks war sie mir ins Herz gewachsen. Ich wollte nicht schon wieder weg. Und mein Budget würde ebenfalls nicht ausreichen. Niedergeschlagen wanderte ich zum Kühlschrank und nahm mir etwas Gin.
Zu ziemlich das einzige wir unter Wasser nicht hatten war Alkohol. Es gab zwar ebenfalls Mittel, die benommen machten, aber keines schmeckte so gut. Außerdem hatten wir unter Wasser ein viel kleineres Sortiment.

Herrlich. Der süßliche Geruch stieg mir in die Nase. Nach mehrern Schlucken wusste ich, dass ich heute sowieso nicht auf eine Antwort kommen würde. Deswegen schmiss ich für heute den Hut drauf und fiel ermüdet in mein Bett.

☆☆☆☆☆☆☆

Am nächsten Morgen überlegte ich, ob ich meine Pistole mit zur Arbeit nehmen sollte. Ich entschied mich dagegen. Der Preis war zu groß. Sollte mich wieder jemand angreifen, würde ich mich schon selbst verteidigen können. Wenn ich auf jemanden schießen würde und mich dabei jemand beobachtete, dann könnte ich es nie mehr rückgängig machen. Ich müsste Fragen beantworten. Fragen auf die ich keine Antwort geben kann. Nein, das Risiko war zu groß.

Als die Sonne ihre ersten Sonnenstrahlen hinter den Häusern und Bäumen hervorstreckte, steckte ich den Schlüssel in das Schloss meines kleinen Cafès. Das Cafè war ein kleines Backsteingebäude am Rande des Campusgelände. Als ich anmietete, wusste ich nicht einmal, dass es auf Campusgrund befand. Das erfuhr ich erst, als ich bemerkte, dass meine Kunden hauptsächlich Studenten waren und mir die Geländepass per Post zugeschickt wurde.
Damals war ich völlig fokussiert auf die Suche nach einem Arbeitsplatz gewesen, dass ich diese Tatsache schlicht und einfach übersehen hatte.

Die Vormieterin ging damals in Pension und suchte jemanden, der es nachführte. Den Erhalt des Gebäudes sowie Wasser- und Stromkosten übernimmt die Uni. Somit wurde es mit meinem bescheidenen Budget leistbar. Die einzigen Kosten waren eine überschauliche Miete und die Einkaufskosten.

Die meisten Studenten kamen um die Mittagszeit und zum Nachmittagskaffee. In der Früh kamen nur übermüdete Streuner, die auf der Suche nach Kaffee waren. Als erstes drehte ich die Lichter auf und machte die Kaffeemaschine an. Das war definitiv das wichtigste Instrument in meinem Cafè.

Da ich mir Mitarbeiter nicht leisten konnte (und nicht wollte), führte ich mein Geschäft mit Selbstbedienung. An der Vorderseite und einer Längsseite waren Tische, die ich nachher noch mit den feinsten Köstlichkeiten ausstatten würde. Ich ging hinter die Theke. Getränke brachte ich meistens zum Tisch, außer wenn es sehr stressig wurde.
Mit einem Putzkübel bewaffnet, machte ich mich an den frühmorgendlichen Putz. Als ich den Kübel voll mit Wasser anheben wollte, zuckte ich zusammen.

Schmerz schoss durch meine Unterarme. Ich schob die langen Ärmel meines T-Shirts nach oben. Verdammt. Auf beiden Händen sah man deutlich gerötete Druckstellen. Dort wo der zweite meine Hände gepackt hatte und nach hinten verdreht hatte. Vorsichtig betastete ich die Stellen. Nichts. Ich versuchte wieder den Kübel zu heben und ... ich musste ihn sofort wieder abstellen. Keine Chance. Seufzend leerte ich wieder Wasser in das Spülbecken zurück bis nur noch wenige Zentimeter im Kübel blieben. Verärgert ging ich zum ersten Tisch. Zuerst der Überfall und jetzt trug ich auch noch die Folgen davon mit.
Das würde heute noch ein langer Tag werden.

"Danke vielmals." Lächelnd sah ich den braunhaarigen Studenten an. "Und noch einen schönen Tag."
"Danke ebenfalls", meinte er und wandte sich zum Gehen. Ich wusste seinen Namen nicht, aber ich wusste dass er immer dienstags und donnerstags kam und seinen Kaffee stets schwarz trank. Bei meinem Gästen war dies der Fall. Ich kannte zwar die meisten Namen meiner Gäste nicht, aber ich kannte ihre Ess- und Trinkgewohnheiten.

Namen waren noch nie meine Stärke gewesen. Auch noch als ich im Meer lebte, merkte ich mir eher Details vom Aussehen, die Art wie sie sprachen und sich fortbewegten. Nur Menschen, mit denen ich es öfter zu tun hatte, drangen bei mir ins Langzeiggedächtnis ein.
So wie Frederick zum Beispiel.

Apropos Frederick. Dreimal dürft ihr raten, wer gerade durch die gläserne Türe tritt und mich angrinst wie ein Honigkuchenpferd.

Die Hände lässig in die Hose gesteckt schlendert er mit seiner Clique zu meinem Tresen.
"Hey, Nari. Wie geht's?" Wie es scheint, hatte er unsere kleine Diskussion vergessen. Oder einfach ignoriert.
"Hi Ricky." Ich nickte ihm und die anderen zu. "Bisschen schlecht geschlafen, aber sonst ganz gut. Ein normaler Dienstag würde ich sagen."
Frederick nickte.
"Kenn ich. Heute war eine Zwischenprüfung. Diese Nacht hat keiner von uns viel geschlafen."
Ich zog die Augenbrauen hoch und stützte mich am Tresen ab. "Aha, das heißt es gibt etwas zu feiern? Ich kann euch heute meine Spezialität empfehlen. Paradieskrapfen."
Frederick's Augen wurden weiteten sich und er grinste wieder. "Echt? Du weißt, dass ich bei denen nicht nein sagen kann." Er blickte in die Runde. "Ich würde sagen, einmal Krapfen für uns alle." Die anderen nickten zustimmend.
Jap, meine Paradieskrapfen waren immer wieder ein Highlight.
"Sehr gut. Dann sechsmal Paradieskrapfen und die üblichen Getränke?"
"Ja, klingt gut."
Ich lächelte und wandte mich ab. Zeit, dass ich die Kaffemaschine wieder ins schwitzen brachte.

"So, erstmal die Paradieskrapfen. Die Getränke kommen sofort." Meine Hände zitterten leicht, als ich das Tablett abstellte. Schon das Tragen einfacher Plundergebäcke waren pure Anstrengung für meine Arme.
"Heute mal keine große Mucki-Vorstellung?" Einer von den Jungs aus der Clique sprach mich an. Ich denke er heißt Jacob. Oder Jacky? Keine Ahnung.

"Nein" Ich lächelte schmal. "Zu wenig Schlaf dafür." Eine glatte Notlüge, aber was solls?
Normalerweise war ich dafür bekannt, zwei oder drei Tabletts gleichzeitig tragen zu können. Dank meiner Ausbildung in der Meerwelt besaß ich dementsprechend Muskeln. Aber heute war wohl alles ein wenig anders.

Ich schnappte mir das Tablett, ging hinter den Tresen und stellte alle Kaffeetassen darauf. Ein fataler Fehler, wie ich auf dem Weg zu ihrem Tisch erkennen sollte. Offenbar waren sechs Kaffeetassen auf einmal eindeutig zu viel für meine Hände. Verbissen presste ich meine Lippen zusammen.
Ich schaffe das. Natürlich. Ich meine: Hallo? Ist immerhin nur ein Tablett. Das geht mit links. Es sind nur mehr fünf Schritte. Vier Schritte. Drei. Zwei. Mittlerweile zitterten meine Hände so stark, dass die Löffel auf den Untertassen klapperten.
Ich zwang mich zu einem Lächeln, als ich den letzten Schritt machte und ...
mir das volle Tablett entglitt.

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