11. Kapitel
Ich durchdachte die Situation, sammelte Fakten in meinen Kopf und versuchte Schlussfolgerungen zu ziehen.
Okay, die Fakten waren, dass Marino in meine Wohnung eingestiegen war, diese Nachricht hinterlassen hatte und offensichtlich Frederick entführt hatte. Ob es nur ein Bluff war oder ob es stimmt. Keine Ahnung. Ein kleiner Teil von mir klammerte sich immer noch an die Hoffnung, dass es nicht so war. Dass das nur ein Trick von Marino war, damit ich doch zurückkam.
Fakt war außerdem, dass ich aktuell nicht wissen konnte, ob es stimmte. Ich hatte immerhin keine Ahnung wo Frederick wohnte, noch besaß ich seine Telefonnummer. Ich konnte also nicht überprüfen, ob Frederick wohlbehalten zu Hause war.
Wenn die Nachricht ein Bluff war, dann wäre es gut, weil Frederick in Sicherheit war. Der "Nachteil" war allerdings, dass Marino jederzeit seine Nachricht war machen konnte. Ich müsste also extrem auf Frederick aufpassen. Wobei dann naheliegend ist, dass es denkt, er hätte es mit einer Stalkerin zu tun. Auch nicht gut. Gar nicht gut.
Wenn die Nachricht allerdings kein Trick war, dann war ich ziemlich am Arsch. Dann befindet sich Marino mit Frederick auf dem Weg nach Sum Adiva. Und das wäre nicht nur nicht gut. Das wäre dann ziemlich scheiße.
Sollte Frederick wirklich entführt worden sein, dann musste ich ihn zurückholen. Keine Frage. Wenn es so wäre, durfte ich keine Zeit verlieren.
Frederick durfte die Tore von Sum Adiva nicht passieren. Denn wenn man einmal drinnen war, kam man nicht mehr so leicht heraus. Der Grund war kein generelles Ausreiseverbot, sondern das Frederick eben kein Taren war. Jeder der kein Taren war und in die Stadt kam, war grundsätzlich eine Gefahr für die Stadt und die Bewohner. Jeder Mensch, der die Tore durchschritt, musste sich ellenlangen Befragungen und verschiedenste Verfahren stellen, ob von ihm keine Gefahr ausging.
Nach 5 Tagen Dauerverhör bekam man dann eine Art Fußfessel für weitere 10 Gezeiten. Sie ortet nicht nur den Standort, sondern erkennt auch bestimmte Gefühlslagen. Wenn zum Beispiel jemand Schadenfreude oder Verachtung empfindet.
In den Verhör-Tagen kann man nicht mehr aus der Stadt. Man kommt ja nicht einmal aus dem Gebäude der OS heraus. Die Organisation für Sicherheit ist bekannt für ihre unendlich komplizierten Sicherheitsmechanismen. Wenn man keinen guten Grund hatte, rein oder raus zu müssen, dann konnte man auch nicht rein oder raus.
Wenn ich jetzt aufbrach, dann gab ich Marino nach. Dann würde ich seinen fragwürdigen Methoden nachgeben. Es gefällt mir nicht, welches Bild das vermittelt. Als würde ich schlussendlich doch immer ihm nachgeben. Als bräuchte er nur ein geeignetes Druckmittel, um mich zu dem bewegen, was er möchte. Das gefällt mir überhaupt nicht. Aber was sollte ich sonst machen, wenn diese Nachricht wirklich wahr war?
Ich konnte schlecht hier sitzen und Däumchen drehen und warten, während Frederick in tausenden Metern Tiefe den Albtraum seines Lebens erlebte. Das konnte ich nicht bringen. Sollte ich ihm jemals wieder über den Weg laufen, könnte ich ihm nie in die Augen sehen. Das wusste ich jetzt schon.
Zusammengekauert hockte ich weiterhin vor dem besagten Tresen in der Küche. In der Zeit als mein Gehirn Abendsport betrieb, war mein Körper zusammengesackt. Mein Kopf ruhte erschöpft auf den Knien. Es schien als wäre jeder Muskel erschlafft.
Ich hob schwermütig den Kopf als vom Wohnzimmer aus eine mir unbekannte Melodie erklang. Mein Gehirn brauchte ein paar Momente bis ich sie als meinen Klingelton erkannte. Wer war denn das jetzt noch? Um diese Uhrzeit?
So selten wie ich angerufen wurde. Die Anzahl der Anrufe konnte ich wahrscheinlich auf meinen beiden Hand abzählen.
Vom Sonnenuntergang durchleuchtet, fielen rote Sonnenstrahlen durch die Fenster des Wohnzimmers. Müde setzte ich mich auf die Couch und durchwühlte meine Handtasche. Als ich mein Handy in der Hand hielt, stockte ich.
Lisa?
Warum sollte sie mich anrufen?
Ich hatte ihr heute Morgen meine Telefonnummer gegeben, nachdem sie mich eingeladen hatte. Vielleicht wurde die Party verschoben?
Zögernd drückte ich auf den grünen Button.
"Hi Lisa."
"Hey Niara, Gott sei Dank, dass ich dich erreiche." Ihr Atem ging stockend. Als hätte sie soeben einen Sprint hinter sich.
"Ähm, was kann ich für dich tun?"
Statt die Frage zu beantworten, stellte sie sofort eine Gegenfrage.
"Ist Ricky bei dir?" In meinem Gehirn gingen sämtliche Alarmglocken an.
"Frederick? Nein. Wieso?"
Durch den Lautsprecher hörte ich sie scharf einatmen und dann resigniert ausatmen.
"Oh okay. Schade. Ich meine…" Sie holte tief Luft, um fortzufahren. "Frederick ist nicht erreichbar. Du weißt, dass er heute nicht an der Uni war. Er hatte sich einfach nicht gemeldet. Jetzt hätten wir in besucht, aber er war nicht in seiner WG. Sein Mitbewohner dachte, er hätte letzte Nacht bei jemandem von uns übernachtet. Wir waren auch schon in der Schwimmhalle, in der Bibliothek und haben gefühlt die halbe Stadt abgesucht. Es ist nicht seine Art sich einfach nicht zu melden. Am Nachmittag wollten wir uns zum Lernen treffen, aber er ist nicht aufgetaucht. Jetzt dachten wir noch, dass er eventuell bei dir sein könnte, weil er eben gestern auch bei dir war."
Ihre letzten Worte waren nicht mehr als ein Flüstern. Ihre Stimme klang, als würde sie bald in Tränen ausbrechen. Ich würde so gern etwas zu ihr sagen. Sie beruhigen, dass er sicher bald auftaucht. Dass wahrscheinlich einfach nur der Akku seines Handys leer war.
Ich würde so gern. Aber ich konnte nicht. Denn ich wusste es besser.
Jetzt hatte ich die fehlende Gewissheit. Und sie schnürte mir den Atem ab.
Ich versprach mich bei Lisa zu melden, falls Frederick bei mir noch auftauchte. Im letzten Moment fiel mir noch etwas Wichtiges ein. Ich erzählte ihr, dass ich wegen eines Notfalls in meine Heimat fahren musste. Das würde hoffentlich aufkommende Fragen eine Antwort geben.
Nachdem ich aufgelegt hatte, brauchte ich einen Moment um mich zu sammeln. Marino hatte Frederick. Ich musste ihn finden. Ich musste Frederick schnellstmöglich zurückbringen.
Ich richtete mich langsam auf und stackste einzelne Schritte Richtung Küche. Mein Blich fiel auf die Müslischale. Gefüllt mit einer Nachricht, die mein Leben wieder um zwei Jahre zurückdrehen wird.
Ich sah Marino vor mir. Wie er auf dem Boot stand, um mir zu verkünden, dass ich das richten sollte, was alle anderen offensichtlich nicht schafften. Dass ich helfen sollte, die Dreads einzufangen. Dass ich helfen sollte, die oberen beiden "ach-so-armen" Stämme zu beschützen. Marino mit seinem neuen falschen Lächeln. Dass so falsch und schadenfroh war, dass es mir den Magen umdrehte. Der missfallende Blick als ich gestern Menschen als meine Freunde bezeichnete.
All das staute sich in mir auf. Jeden Moment, in dem Marino sich wie ein Arsch verhalten hatte. Solange bis ich gedanklich auf sein Gesicht eine Zielscheibe malen konnte. Ich konzentrierte mich auf die Wut, die ich ihm gegenüber verspürte. So triefend heiß wie ich sie schon lange nicht mehr verspürt hatte.
Ich wusste, es war falsch in dem Moment alles Böse auf ihn zu schieben. Aber in diesem Moment war es leichter, Marino für alles verantwortlich zu machen. Für jeden noch so scheiß Moment in meinem Leben. Ich sah die Wut. Ich sah sie in mir heiß, wild und zerstörerisch. Dann packte ich die Wut und verstaute sie ganz tief in mir.
Wenn die Zeit gekommen war, dann konnte ich darauf zugreifen und die Energie daraus schöpfen, um Frederick zu retten. Denn die werde ich reichlich benötigen.
Ich kratzte mein letztes bisschen Selbstbeherrschung zusammen, nahm die Schale, leerte das Wasser entschlossen in das Waschbecken und vernichtete damit jeden Hinweis auf Magie in dieser Wohnung. Sicher ist sicher.
Einmal erlaubte ich es mir noch, tief durchzuatmen. Wenn ich jetzt noch länger über mein Vorhaben nachdachte, dann würde ich mich bestimmt in einer nie endenden Gedankenspirale wiederfinden. Das war das letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte.
Energisch stieß ich mich vom Tresen ab und marschierte in die kleine Abstellkammer. Am Boden kniend zog ich eine verstaubte Schachtel aus der untersten Regalablage. Meine Finger zitterten leicht als ich den Staub wegpustete und den Deckel abhob. Das war die einzige Gefühlsregung, die ich mir erlaubte.
Vorsichtig drehte ich die Kiste um und leerte aus, was sich darin befand. Meine Hände griffen nach dem Schulterbeutel. Als ich ihn bekommen hatte, strahlte der Stoff in einem satten Violett. Jetzt blickte ich einem gräulichen Lavendelton entgegen. Auch die anderen Dinge waren verblasst. Die wenigen Münzen, die ich damals bei mir hatte, der kleine Ausweis und eine dünne Decke. Alles verblasst, wenn es zu lange nicht mehr im Wasser gewesen war.
Mit einem Seufzen griff ich nach den Dingen und gab sie in den Beutel. Den Stoff des Beutels konnte man wohl am besten mit Seide vergleichen. Dünn und zart.
Zu ziemlich jeder Taren besaß so einen Beutel. Man konnte viel verstauen und beim Stromschwimmen schmiegte er sich an den Körper. Dadurch störte er nicht und nahm keine Geschwindigkeit weg. Genau das, was ich für meine Flucht gebraucht hatte.
Ich überlegte, ob ich noch etwas mitnehmen sollte. Etwas aus meinem jetzigen Leben.
Mir kam in den Sinn, dass ich meinen Gin mitnehmen konnte, aber der würde unter Wasser sowieso nicht trinkbar sein. Kaum würde man die Flasche öffnen, würde sie auch schon von Meerwasser geflutet werden.
Keine gute Mischung. Den Gedanken, dass ich meine Pistole mitnehmen könnte, verwarf ich ebenfalls. Unter Wasser gab es viel stärkere Kräfte als eine einfache Pistole.
Ich seufzte während ich mir den Beutel über die Schulter legte. Im Wohnzimmer schrieb ich eine kurze SMS an die Auswanderungshilfe. Die Auswanderungshilfe war eine Organisation, die anonym Taren half, die warum auch immer über Wasser leben wollten. Sie half einem bei der Wohnungs- und Jobsuche, half sich in der neuen Welt zurechtzufinden und regelte rechtlich Dinge. Von dort hatte ich auch meinem Pass und meinem Führerschein bekommen.
Praktisch, so ganz ohne Fahrprüfung.
Unter Wasser war die Organisation nicht gern gesehen, da sie der Annahme war, bewusst Taren vom Wasser wegzulocken. Auch, wenn das kompletter Blödsinn war.
Die Auswanderungshilfe wird schon wissen, was jetzt zu tun ist und sich zumindest um die Wohnung kümmern.
Mein Blick glitt ein letztes Mal über meine kleine, süße Wohnung. Wenn ich etwas vermissen werde, dann das euphorische Gefühl, das ich etwas ganz alleine ohne Magie geschafft hatte. Das Gefühl, wann immer ich durch die Wohnungstür trat.
Ohne einen weiteren Gedanken drehte ich mich um, versperrte die Tür hinter mir und ging eilig durch die Eingangstüre im Erdgeschoss. Schnellen Schrittes machte ich mich auf den Weg zu meinen kleinen privaten Steg. Das Mondlicht tauchte die Bäume und Straßenlaternen in unheimliche Schattenkreaturen. Am Himmel konnte ich keine einzige Wolke erkennen, während ich aufgrund des kalten Luftzugs erschauderte. Nur noch wenige Schritte, dann würde mir die Kälte für eine Weile nichts mehr ausmachen.
Meine Füße verweilten einige Zentimeter bevor der Steg endete. Bedächtig ging ich in die Hocke und ließ meine Finger sanft über die feinen Wellen streichen.
"Ren fa mi Tanil. Tanil fa mi Ren.", flüsterte ich andächtig. Ein Leben für das Wasser, Wasser für das Leben.
Das Wasser antwortete sofort und Energiewellen durchströmten meine Finger. Das Wasser erwartete mich freudig und mein Verräter von Körper führte einen Freudentanz in mir auf. Danke an dieser Stelle für die nicht vorhandene Unterstützung meines Körpers. Wenigstens jetzt könnte er mir das Leben ein wenig leichter machen.
Langsam erhob ich mich wieder und eine schmerzhafte Kälte blieb an meinen Fingern zurück. Jeder Teil meines Körpers protestierte und hätte sich wahrscheinlich sofort plump hineinfallen lassen. Mein letzter Stolz ließ das allerdings nicht zu. Stattdessen entschied ich mich für einen olympiaverdächtigen Kopfsprung mitten ins kühle Nass.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top