10. Kapitel
Der nächste Tag verlief schleppend. Aber so richtig. Der gestrige Tag hatte enorme Kraftreserven aufgebraucht.
Kurz nachdem Frederick sich verabschiedet hatte - natürlich erst, nachdem er sich noch einmal um mein Wohlbefinden erkundigt hatte - war mein erster Weg sofort zum Bett gewesen.
Im Schlaf kam jedoch nicht die erholende Erlösung, sondern nur ein wirrer Traum aus vergangener Zeit. Ich, wie ich das Versteck der Dreads stürme. Meine Mum, die mir wie damals jeden Tag einen trauernden Blick zuwarf. Marino, der mir in einer finsteren Gasse seine ewige Freundschaft schwor.
Ich hatte seit über einem Jahr nicht mehr von meiner Heimat geträumt. Der Besuch von Marino hatte alles durcheinander gebracht. Am Morgen war ich komplett übermüdet aufgewacht und mich mehr schlecht als recht in die Arbeit geschleppt. Mein liebstes Auto meinte mal wieder, es müsste streiken. Kurz bevor ich die Hoffnung aufgegeben hätte, war es doch noch angesprungen. Natürlich lief dann alles etwas stressiger ab. Ich musste schließlich alles für den morgendlichen Ansturm der Studenten vorbereiten.
Ich habe eine Einladung von Lisa bekommen, bei der nächsten Party dabei zu sein. Was mich jetzt schon vollkommen kirre macht, weil ich keinen Plan von Partys über Wasser habe. Ich meine hey, ich freue mich total, dass mich jemand zu einer Party eingeladen hat, aber ich bin mir nicht wirklich sicher, ob Partys mein Ding sind.
Ein kleiner Dämpfer war heute, dass Frederick heute nicht im Café war. Ich will mich ja nicht wie eine Stalkerin aufführen, aber ich würde lügen, wenn ich darüber nicht enttäuscht war. Keine Ahnung, was ich mit ihm geredet hätte, aber schon seine Anwesenheit hätte wahrscheinlich ein gutes Gefühl bei mir hinterlassen.
Falls es wer noch nicht mitgekriegt hat, ich denke, ich steuere direkt in ein Gefühlschaos hinein, dass mein Leben definitiv nicht einfacher machen wird.
Die gute Nachricht des Tages war, dass ich Marino nicht gesehen habe. Den ganzen Tag war ich höchst aufmerksam, ob mir jemand folgt oder beobachtet. Doch weder das eine noch das andere war der Fall. Vielleicht hatte ich ja Glück und er hatte sich wirklich wieder in sein geliebtes Wasser verzogen. Das wäre echt eine sehr gute Nachricht, den ich weiß nicht wie ich auf ihn reagieren werde, geschweige den reagieren soll, wenn ich ihn wieder sehe. In dem Moment hoffte ich einfach auf mein Glück und seinen Verstand. Wobei ich darauf nicht zu viel setzen würde.
Erschöpft schloss ich die Tür hinter mir. Ich schloss kurz die Augen als ich mich kurz an die Tür anlehnte. Das einzige, was ich heute noch wollte, war eine große Tasse mit Kamillentee. Ein wenig Heimatfeeling durfte ruhig sein.
Meine Tasche fiel kraftlos auf das Sofa und mein Schlüsselbund klimperte als ich ihn auf den Couchtisch legte. Mit einem Seufzer wandte ich mich von der Stelle der Couch ab, wo gestern noch Marino gesessen war.
Obwohl ich es nicht wollte, wanderten meine Gedanken immer wieder zu unserem Gespräch. Was würde passieren, wenn sich die Dreads zu einem Racheangriff formierten. Was planen sie und wer ist ihr Opfer? Die Königsfamilie, alle oder nur die Livanier und Midovs? Mein Gesicht verspannte sich augenblicklich als ich an die obersten beiden Gesellschaftsschichten dachte.
Die, die das Schicksal aller in der Hand hatten.
Die, die ich mit meinem Leben beschützt hatte.
Die, zu denen ich nie dazugehört hatte. Egal, wie erfolgreich ich war.
Verärgert schüttelte ich den Kopf. Ich wollte jetzt nicht an sie denken. Ich wollte einfach nur schlafen und alles vergessen. Ach ja, und einen Tee. Das hätte ich schon wieder fast vergessen.
Stirnrunzelnd blieb ich mitten in der Küche stehen, als ich sah, dass auf dem Tresen meine Müslischale stand. Was an sich nichts Ungewöhnliches ist, aber ich war mir sicher, sie heute ins Regal gestellt zu haben. Verwirrt ging ich zum Tresen, um sie wieder zu verstauen. Aber etwas hielt mich zurück. Und dieses etwas war im Grunde ziemlich offensichtlich, den die Schüssel war randvoll mit Wasser aufgefüllt. Nun war ich endgültig misstrauisch. Warum stand hier eine voll aufgefüllte Schüssel?
Ich drehte mich langsam um die eigene Achse und scannte dabei meine Wohnung. Nichts Ungewöhnliches.
Skeptisch streckte ich meine Hand zu der Schale. Meine Hand stockte kurz. Was, wenn die beiden von vorgestern Abend zurückgekehrt waren? Was, wenn es überhaupt kein Wasser war? Aber was war es sonst? Ich musste es wissen.
Fest entschlossen, wenigstens daran zu riechen, bewegte ich mich wieder weiter darauf zu. Mit zitternden Händen legte ich eine Hand auf die Schüssel. Was zum...?
Mit offenem Mund starrte ich den Inhalt der Schale an. Augenblicklich wurde mir kalt. Wie in aller Welt konnte das sein? Unfähig mich zu bewegen, ließ ich meine Hand auf der Schüssel liegen. Dadurch wurde alles nur noch mehr angetrieben und auf einmal war mir glasklar was hier vor sich ging.
In dem Moment als ich meine Hand auf die Schale gelegt hatte, hatte der Inhalt langsam zu schimmern begonnen. Das Wasser in der Schüssel schlug kleine Wellen, ehe es sich wieder beruhigte und dann leicht milchig glänzte. Ich wusste, was jetzt kam, und doch war ich darauf nicht vorbereitet gewesen.
In dem Wasser tauchte nun ein hellblau leuchtender Schriftzug auf. Er tanzte eine Weile auf dem Wasser, ehe er sich formierte. Ich brauchte einem Moment um zu erkennen, was ich sah. Um zu lesen, was am Wasser geschrieben war.
'Elah Niara! Unser Treffen verlief nicht nach Plan. Darum habe ich jetzt einen neuen. Da du nicht mitkommen wolltest, habe ich eben den einen Menschen mitgenommen. Der, der gestern bei dir war.
Da Tasa Niara!
Ich hoffe, dass ich dich damit umstimmen kann und dir wenigstens etwas im Leben wichtig ist'
Betäubt ließ ich meine Hand sinken. Das Wasser klärte sich wieder und schien wieder komplett normal. Aber ich war nicht normal. Schock. Mit einer Hand stützte ich mich auf dem Holztresen ab. Ich versuchte Luft zu bekommen. Stotternd drang Sauerstoff in mich. Das war unmöglich. Wie? Was? Wie konnte das passieren? Stimmte das überhaupt? Aber wieso sollte es nicht stimmen?
Dumpf drängte ein einsamer Gedanke aus dem hintersten Winkel meines Gehirns auf Aufmerksamkeit. Ich wollte ihn nicht zulassen. Wollte nicht zulassen, dass es wahr wurde. Dass es wahr wurde, wenn ich daran dachte. Meine Finger verkrampften um den Tresen. Von dort ausgehend verkrampfte sich mein kompletter Körper. Schock.
Mutlos versuchte ich meine Gedanken zu sortieren. Marino war wieder hier gewesen. Während ich nicht zu Hause war. Er war einfach so hereingekommen. Ich wollte jetzt nicht näher darüber nachdenken.
Viel wichtiger war die Nachricht, die er mir hinterlassen hatte. Die Botschaft die darin steckte.
Marino hatte Frederick entführt.
Marino hatte Frederick entführt.
Marino hatte Frederick entführt.
Marino hatte Frederick entführt.
Wie ein Mantra lief dieser Gedanke immer wieder vor meinem inneren Auge ab. Frederick der gestern einfach nur nett sein wollte und nach mir geschaut hatte. Frederick, der einfach am falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen war. Frederick, der mir etwas bedeutete.
Aargh, es war zum aus der Haut fahren.
Wieso machte Marino das? Weil ich nicht mitgekommen war? Das war doch kein logischer Grund. Nur weil ich mir hier ein Leben aufgebaut hatte, war das kein Grund, das Leben von jemand anderen komplett auf den Kopf zu stellen.
Aus der anfänglichen Ungläubigkeit wurde langsam, aber sicher Wut und Unverständnis.
Wut auf Marino, weil er so ein Holzkopf war und einfach machte, ohne nachzudenken.
Und auch Wut auf mich, weil ich die Menschen hier nicht ausreichend beschützen konnte. Beschützen von der Welt in der ich groß geworden war. Eine Welt von der niemand mehr über Wasser weiß.
Bebend atmete ich ein.
Und wieder aus.
Ich brauchte mehr Platz. Ich musste mich bewegen. Wenn ich unter Wasser wäre, würde ich Kilometer für Kilometer schwimmen. Mich durch die Strömungen ziehen lassen. Nicht sehen, wohin es einen treibt.
Aber dazu fehlte mir hier das Wasser. Ich unterdrückte den Impuls, mich meinen Kleidern zu entledigen, einfach nach draußen zu sprinten und in das kalte Nass zu springen. Das würde allerdings nur neugierige Blicke auf mich ziehen und jeder würde sich fragen, ob ich verrückt geworden war.
Das war keine Option.
Deswegen entschied ich mich für das, was schon immer meine Stärke war.
Nachdenken.
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