1. Kapitel

Das Wasser fühlte sich wie lieblicher Samt auf meiner Haut an, als ich mit kräftigen Zügen durch das Schwimmbecken Westfields zog. Ich holte Luft. Eins, zwei, drei, vier Schwimmzüge. Ich holte wieder Luft. Meine Schwimmbrille ermöglichte mir, währenddessen noch etwas zu sehen. Beziehungsweise ich könnte etwas sehen. Aber mein inneres Ich war vollkommen auf die Bewegungen konzentriert.
Ich rollte mich am Beckenrand ein, drehte Unterwasser um und stieß mich wieder kräftig ab.

Im Wasser war ich in meinem Element. Es war mein Zuhause. Meine Lebensader.
Ich spürte mein Herz pochen. Ich genoss es, wie das Wasser meinen Tribut abverlangte. Das Ziehen der Muskeln. Das Brennen der Lunge.
Ich stieß mich ein letztes Mal ab und zog mit kräftigen Zügen zum gegenüberliegenden Rand.
Als ich dort ankam, tauchte ich erschöpft auf. Gierig befüllte ich meine Lungen mit Luft. Ich wartete bis sich mein Körper beruhigte. Währenddessen sah ich mich im Schwimmbad um. Da es mitten unter der Woche war, gab es im Moment nur wenige Besucher. Ein paar Senioren zogen weiter unten ihre Bahnen. Die Nachmittagssonne brach in dem stetig bewegenden Wasser.

Für einen Augenblick fühlte ich mich zurückversetzt in vor zwei Jahren. Draußen mitten im Meer.
Ich beobachtete skeptisch in einiger Entfernung das Treiben am Strand. Ich achtete darauf niemanden zu Nahe zu kommen. Von der Weite mochte ich wie eine normale Schwimmerin aussehen, aber wenn mir jemand zu Nahe kam, würde er das verräterische Schimmern auf meiner Haut sehen. Violett schimmernde Schuppen zogen sich quer über mein Gesicht bis in die kleinste Zehenspitze. Es war nicht so, dass ich komplett davon bedeckt war, aber sie bestückten meinen Körper in regelmäßigen Abständen. Früher war ich stolz über meine spielerische Anordnung. Ich liebte mein Muster. Aber nun wusste ich, dass dies mein größtes Problem werden wird. In großen Bogen schwamm ich an dem belebten Strand vorbei. Kritisch betrachtete ich die Kleinkinder, die kreischend mit einer Plastikschaufel und einem Plastikeimer über den Strand liefen. Die Mütter, die versuchten die Kleinen wieder einzufangen. Väter, die verwirrt von ihrer Zeitung aufsahen. Der Strand war eindeutig zu belebt. Ich musste zu einer der kleinen Buchten, die ich im Vorfeld bereits ausspioniert hatte. Wenn ich nicht wollte, dass ich entdeckt wurde, musste ich mich beeilen. Entschlossen tauchte ich wieder ab.

Kopfschüttelnd vertrieb ich die Gedanken an die Vergangenheit. Die Vergangenheit war vergangen. Ich konnte und wollte nicht mehr zurück. Jetzt zählte die Gegenwart. Und das bedeutete, dass es Zeit war aus dem Becken herauszukommen. Einmal noch strich ich verträumt über das Wasser. Traurig wandte ich meinen Kopf ab. Dann hievte ich mich aus dem Wasser und wrang meine aschblonden Haare aus. Beim Anblick meiner Haare verzog ich jedes Mal das Gesicht. Die Farbe war echt hässlich. Genauso wie meine stumpfe helle Haut. Egal wie lange ich in der Sonne blieb, sie wurde einfach keinen einzigen Ton dunkler. Nicht einmal Bräunungscremes halfen.

Ich schnappte mir mein Handtuch von meinem Platz und rubbelte mich trocken. Ich bevorzugte schlichte Farben. Deswegen war mein Badeanzug, mein Handtuch, mein gemütliches Freizeit-T-Shirt, meine Skinny Jeans und meine Umhängetasche in einem dunklen Mitternachtsblau gehalten.

Als ich aus der Umkleide trat und um die Ecke ging, rannte ich wortwörtlich in muskulöse verschränkte Arme hinein. Erschrocken machte ich einen Schritt rückwärts. Wie auf Kommando spannten sich meine Muskeln an. Es war ebenfalls ein Mitbringsel aus der Vergangenheit. Mein innerer Instinkt.
In dem Moment als ich sein Gesicht musterte, entspannte ich mich wieder. Die besagte Person war zwar unglaublich nervig, aber so gefährlich wie ein verspieltes Kätzchen. Ich seufzte. "Was willst du Ricky?"
Ricky grinste mich an, als er sich seitlich bei den Fliesen anlehnte.
"Du weißt, warum ich hier bin. Aus demselben Grund wie gestern." Ricky war nur sein Spitzname. In Wahrheit hieß der nervige Typ Frederick und ließ einfach nicht locker. Spätestens alle zwei Tage kam er mir mit derselben Frage. Ich schob mich zwischen ihm und dem restlichen Platz in dem Gang vorbei. Ächz. Warum musste der Typ sich immer die unmöglichsten Stellen aussuchen?

Als ich mich an ihm vorbeigezwängt hatte, drehte ich mich wieder zu ihm um. Ricky hatte sich ebenfalls umgedreht.
"Und du weißt, dass ich dasselbe sagen werde." Ich ließ eine dramatische Pause. "Nein."
Ricky stoß sich von der Wand ab und verzog gequält das Gesicht. "Ach, komm schon Nari. Ich werde nicht locker lassen. Nicht so lange ich Kapitän bin und du so perfekt schwimmst. Bitte, sag doch einfach ja." Ricky sah mich bettelnd an. Eine seiner braunen Locken war ihm ins Gesicht gerutscht, aber er schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Seine Aufmerksamkeit lag ganz allein bei mir. Innerlich bewunderte ich ihn für seine Standfestigkeit und seine Ausdauer. Aber ich sollte mich selbst in den Arsch treten, dass ich ihm das jemals sagen würde.

Frederick Hoblet war der Kapitän des städtischen Colleges. Frauenliebling und ehrgeiziger Athlet. Seit er mich vor fast einem Jahr im Schwimmbad schwimmen sah, wollte er unbedingt, dass ich seinem Team beitrat. Es würde nicht einmal etwas ausmachen, das ich keine Studentin bei der Westfield war. Dadurch dass ich den Geländepass des Colleges besaß, könnte ich mich automatisch bei jeder außerschulischen Aktivität anmelden. Und darauf spielte Frederick natürlich ab. Jedes Mal, wenn wir uns sahen, sprach er mich darauf an und versuchte mich zu überzeugen. Immer wieder. Jedes Mal.
Am Anfang fand ich es aufmerksam, danach nervte mich es und mittlerweile finde ich es fast witzig. Ich nahm es mit Humor. Ich würde sowieso nie mitmachen, egal wie oft er mich ansprechen wird und egal wie viele gratis Frappuccinos er mir versprechen wird.
Ich lächelte ihn breit an und tippte ihn mitten auf die Brust. "Mein lieber Frederick, du weißt genau wie ich, dass das sinnlos ist und du damit nur deine Zeit vertrödelst." Mit beiden Händen umfasste er meinen Finger und sah mit bittend an. "Niara, bitte. Hast du es dir überhaupt einmal ernsthaft überlegt? Du hast damit überhaupt keine Verpflichtungen. Alle sind total nett und es freut sich jeder über neue Mitglieder. Du wärst in einer tollen Gemeinschaft und bist immer willkommen. Wieso willst du nicht? Nenn mir einen guten Grund und ich lasse dich für immer in Ruhe." Seine karamellfarbenen Augen fingen meinen Blick auf. Verblüfft starrte ich ihm in die Augen. Es war lange her, dass er sich so sehr ins Zeug legte. Ich wich seinen Blick aus. Stattdessen landete nein Blick auf seine Hände, die immer noch meine Hand umgaben. Hatte er mich jemals berührt? Ich versuchte nachzudenken, aber ich scheiterte. Das Gefühl seiner warmen Hand war einfach zu verführend.
"Hey. Erde an Niara." Rickys sanfte Stimme holte mich ins Hier und jetzt zurück. Verwirrt blickte ich ihm wieder ins Gesicht. "Was? Ähm, ich meine Entschuldigung. Ich war weggetreten. Was hast du gesagt?" Belustigt blickte Frederick mich an. "Ich fragte, ob du einen guten Grund hast, dass du jedes meiner Angebote ausschlägst."
"Oh." Ich entzog meine Hand aus Fredericks warmen Umhang und strich mir damit eine Strähne zurück. Das Problem war, dass ich ihm keinen guten Grund sagen konnte. Keinen der ihn nicht sofort schreiend weglaufen oder besorgt den Psychiater rufen ließ.

Ich wandte wieder den Blick ab und versuchte in den hellblauen Fliesen eine gute Antwort zu finden. Enttäuscht musste ich feststellen, dass diese mir keine Offenbarung zukommen ließen. Seufzend sah ich Frederick wieder in die Augen. Er sah mich immer noch hoffnungsvoll an. Ein Teil von mir fühlte sich schlecht, weil er ihm keinen guten Grund liefern konnte. Ich musste ihn mit einer einfallslosen Lüge abspeisen.
"Ich mag keine Menschenmassen. Ich fühle mich in der inmitten von vielen Menschen nicht wohl." Er wusste, dass ich log. Ich wusste es in dem Moment, als ich zu Ende sprach. In seinen Augen geschah etwas. Es war, als würde ein Funke ausgehen, als hätte jemand eine Kerze ausgepustet. Sein Blick wirkte enttäuscht. "Niara." Ein einziges Wort. Aber es reichte, um meinen Entschluss ihn anzulügen, in die Gefahr brachte, ins Wackeln zu geraten. "Das stimmt doch nicht. Ich kenne dich zwar nicht gut, aber ich weiß, dass du deinen Job liebst. Du liebst Menschen." Mist.
Ich setzte eine undurchdringliche Maske auf und presste meine Lippen fest aufeinander. Ich erwiderte kühl: "Wenn du mich jetzt entschuldigst. Ich muss noch einige Einkäufe tätigen, sonst habt ihr morgen nichts zu essen."

Mit all meine Kraft und all meiner Sturheit wandte ich mich ab und ging mit steifen Schritten Richtung Ausgang. Die ganze Zeit wusste ich, dass Frederick meinen Rücken mit enttäuschtem Gesicht anstarrte.

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