85. Kapitel
Harry:
Irritiert bleibe ich einen Moment stehen. Ich weiß nicht, was das gerade sollte und ich finde auch keine Erklärung. Dennoch fange ich an zu packen. Das wollte ich sowieso heute Nacht noch tun, bevor in wenigen Stunden der Wecker klingelt. Ich leere den Koffer und stopfe die Wolle in meinen Rucksack. Dann falte ich meine Klamotten und packe sie ordentlich zusammen. Natürlich könnte ich sie auch einfach in den Koffer schmeißen, aber ich glaube nicht, dass es passen würde. Zwischen die Kleidung kommt gut eingepackt das Buch von Jules Verne, was Louis mir geschenkt hat. Traurig streiche ich über das Cover, bevor ich es einpacke. Ich werde ihn so sehr vermissen, wenn wir zurück in England sind. Noch mehr, als ich es sowieso schon tue.
Ich schlafe nicht gut. Die ganze Nacht wälze ich mich unruhig hin und her und irgendwann ist es so schlimm, dass ich vor meiner Zimmertür stehe und entschlossen bin, zu Louis zu gehen. Da ist es vier Uhr morgens. Nein, ich wollte ihn nicht mitten in der Nacht wecken. Ich bin wieder ins Bett gegangen und habe gelesen. Um sechs Uhr ist alles fertig gepackt. Ich lese mein Buch weiter und warte auf Gemma. Meine Gedanken sind so laut, das ich kaum etwas von meinem Buch mitbekommen. Heute ist die letzte Chance. Ich werde einfach mit ihm beim Frühstück sprechen. Verdammt, wann fliegt er eigentlich? Was ist, wenn er schon weg ist? Oder gerade abgeholt wird? Oder erst heute Abend fliegt und später als ich frühstückt und ich dann schon weg bin?
Ich stehe auf und stecke mein Buch ein. Es ist halb sieben. Unruhig laufe ich in meinem Zimmer umher. Ich muss etwas tun. Ich kann nicht einfach zurück nach England fliegen, das geht nicht. Ich schreibe Gemma:
Me: Ich muss mit Louis sprechen.
Gemma: Ich bin in zehn Minuten bei dir. Warte so lange, okay?
Me: Okay.
Ich vertraue Gemma. Sie würde nicht sagen, dass ich warten soll, wenn ich das nicht könnte. Die zehn Minuten fühlen sich an wie eine ganze Stunde – wenn nicht eher zwei. Ich öffne die Tür, sobald ich sie den Flur entlang laufen höre.
„Ich muss etwas tun! Meinst du ich kann einfach zu ihm gehen? Oder schläft er noch? Oder ist er schon weg?", frage ich überfordert. Meine Nerven sind alle bis zum Zerreißen gespannt und mein Herz klopft schneller, als es sollte. „Er ist noch hier, alles gut." – „Was? Woher weißt du das?", frage ich irritiert. „Ich habe mit Lottie gesprochen. Sie werden in einer halben Stunde abgeholt." – „So früh? Oh Gott, ich muss zu ihm!" – „Nein, Moment." – Aber..." – „Harry, hör mir zu."
Sie drückt mich mit den Händen auf meinen Schultern auf mein Bett, sodass ich mich setze. „Du musst mit Mum sprechen, das musst du zuerst tun." – „Und dann? Soll ich mit ihm nach Irland fliegen?", frage ich in Rage. Gemma schweigt einen Moment. „Ich könnte nach Irland fliegen", überlege ich laut. Mein Konto gibt das her. Theoretisch könnte ich das machen. Oh Gott, das ist bescheuert. Ich kann doch nicht einfach so nach Irland fliegen!
„Mum würde mich umbringen." – „Ist das dein einziges Gegenargument?", fragt lediglich und bleibt im Gegensatz zu mir erstaunlich ruhig dabei. „Ich weiß doch gar nicht, ob Louis mich noch will", antworte ich verzweifelt. „Was ist, wenn er genug von mir hat und ich dann in Irland bin und er..." – „Halt mal die Luft an. Das kannst du nicht wissen, wenn du es nicht versuchst", fällt sie mir ins Wort und klopft neben sich auf das Bett. Ich setze mich.
„Ich habe mit Lottie gesprochen, gestern Abend." – „Was?" – „Ich wollte wissen, wann sie fliegen und wie es Louis geht. Er vermisst dich, Harry. Er will es überspielen und weitermachen, aber er vermisst dich genau so sehr, wie du ihn vermisst." – „Du meinst, ich soll wirklich in seine Maschine steigen?" Sie lächelt und zieht etwas aus ihrer Hosentasche. „Lottie ich und haben gestern so lange rumtelefoniert, bis wir hinbekommen haben, ein Ticket für dich zu buchen. Ich habe mich als deine Managerin ausgegeben und gesagt, du musst zu einem wichtigen Sponsorentermin nach Dublin." – „Du hast was?" – „Es ist deine Entscheidung. Lottie hat es so gedreht, dass du theoretisch einen Platz neben Louis in der Maschine nach Dublin hast. Oder du fliegst mit Mum und mir nach Hause. Es ist deine Entscheidung. Und du musst definitiv vorher mit Mum sprechen."
Ich muss... was? Ich kann... Gemma, das geht doch nicht." Sie hält mir nur die Bordkarte hin. „Ich habe es übrigens auf deine Kreditkarte buchen lassen. Nur, dass du es weißt", fügt sie hinzu. Perplex sehe ich sie an. Das hier ist doch ein Traum. Das kann nicht meine Realität sein.
„Ich könnte... zu Louis." – „Ja, aber dann müssten wir uns gleich ein Taxi schnappen." – „Du kommst mit?" – „Zumindest zum Flughafen. Dann warte ich dort auf Mum", nickt sie. Ich atme tief durch. Dann greife ich nach meinem Handy und rufe meine Mutter ein. „Guten Morgen... können wir uns gleich unten treffen.... Ja genau... okay... bis gleich."
Ich atme tief durch und nicke. Gemma lächelt und ich schultere meinen Rucksack. Louis müsste gerade in den Bus steigen, als wir unten ankommen. Mum steht bereits unten. Sie war gerade schon einen Kaffee trinken und hat mit einem Geschäftspartner telefoniert. Ich stocke, als ich sehe, dass Spencer sich mit ihr unterhält.
„Guten Morgen", sage ich nervös. Gemma sieht Spencer skeptisch an. Mums Miene ist eisig und sie verschränkt die Arme vor der Brust. „Stimmt das, Harry? Stimmt es, dass du schon länger Zeit mit diesem irischen Sportler verbracht hast?", will sie wissen. Ich sehe zu Spencer. „Was hast du ihr erzählt?" Er zuckt mit den Schultern. „Ich habe mich nur gewundert, dass du dich gerade nicht von Louis verabschiedet hast, immerhin ist er schon abgefahren. Ich wusste ja nicht, dass deine Mutter davon nichts weiß." – „Verschwinde", sagt Gemma kühl. „Ich habe nichts getan", antwortet er ihr. „Verschwinde. Sofort", wiederholt Gemma und ihr Blick könnte in diesem Moment töten. Spender verdreht die Augen und geht.
„Also? Kannst du mir das erklären?", verlangt Mum. Ich atme tief durch. Gemma legt eine Hand auf meine Schulter. Ich kann das. Die Zeit sitzt mir im Nacken und ich merke förmlich, wie Louis sich immer weiter von mir entfernt. Jetzt zu kneifen, geht nicht. Jetzt muss ich mutig sein.
„Ich bin schwul. Ich habe mich in Louis verliebt, vor Jahren schon auf der Silvesterparty. Wir waren zusammen, er war mein fester Freund. Er hat mich immer unterstützt und nie abgelenkt und..." – „Wie bitte? Was sagst du da? Harry, das kannst du nicht ernst meinen!", unterbricht sie mich sofort. „Wir haben so lange für diese Medaille trainiert und du..." – „Ich!", falle ich ihr ins Wort.
Meine Knie zittern, aber ich straffe meine Schultern und spreche mit fester Stimme weiter. „Ich habe trainiert! Ich bin immer wieder vom Turm gesprungen und habe geübt bis zum Umfallen! Ich habe den Wettkampf gewonnen, das ist meine Medaille, nicht unsere! Und ich habe mich in Louis verliebt. Es ist mein Leben, Mum. Ich wollte nicht, dass du herkommst. Ich wollte keine Fliege tragen oder dieses Hemd. Ich wollte meine Haare nicht so tragen und ich will auch nicht jetzt schon für die nächsten Olympischen Spiele trainieren! Ich will zu Louis zurück und mit ihm zusammen sein! Ich will eine Pause haben, kein Training mehr, kein frühes Aufstehen mehr und keine verdammten Ernährungspläne mehr! Ich will mit meinen Freunden in eine Kneipe gehen und Bier probieren. Ich möchte mit Louis ausgehen und an faulen Tagen den ganzen Tag im Bett liegen! Ich will... ich bin erwachsen, Mum. Ich entscheide selbst."
Perplex und entgeistert sieht sie mich an. „Harry. Das kann unmöglich dein Ernst sein. Hat Louis dir das eingeredet? Hat er dir diesen Schwachsinn in den Kopf gepflanzt? Sei froh, dass er schon weg ist. Wir fahren gleich nach Hause und du kannst dir Gedanken darüber machen, wie viel Glück zu hast, dass du nicht noch mehr Zeit mit ihm verbringen musst."
„Ich habe mit ihm Schluss gemacht, weil ich auf dich gehört habe. Weil ich Angst hatte, mich zu outen. Es ist grauenhaft. Ich will das hier nicht, Mum. Ich gehe zu ihm." Ich greife meinen Koffer. „Ich sage dir Bescheid, wenn wir gut gelandet sind", füge ich noch hinzu und gehe an ihr vorbei. „Harry, bleib sofort stehen! Das ist eine dumme Idee! Komm zurück, dann können wir darüber reden und du erkennst, dass das ein riesiger Fehler ist!"
Ich drehe mich nicht um. Gemma geht mit mir. Das Taxi steht schon bereit. Ich setze mich und sobald ich die Tür schließe, höre ich Mum nur noch leise. Sie kommt auf das Taxi zu. Gemma setzt sich neben mich. „Zum Flughafen Charles-De-Gaules bitte. So schnell wie möglich", sage ich und er nickt. Wir fahren los, als Mum wenige Meter vor dem Taxi ist. In diesem Moment bricht der Damm und ich fange an zu weinen. Erleichterung. Freude. Angst, meine Familie zu verlieren. Es ist alles zusammen. Und die Angst, Louis zu verpassen oder zu spät zu sein. Gemma nimmt meine Hand. „Wir schaffen das. Ich habe Lottie gerade geschrieben, dass wir auf dem Weg sind." – „Weiß er es?", will ich von ihr wissen. Sie schüttelt den Kopf. „Es ist euer Moment, Harry. Nicht ihrer oder meiner."
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Harry hat es geschafft und ist seiner Mutter gegenüber getreten. Meint ihr, er schafft es pünktlich zum Flughafen?
Love, L
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