84. Kapitel

Harry:

Zu sagen, dass man mutig ist, ist deutlich leichter, als es tatsächlich zu sein. Ich stehe vor dem Spiegel und betrachte den Kerl, der mir entgegen blickt. Ich bin vor einer viertel Stunde aus der Dusche gestiegen und der Spiegel ist inzwischen wieder klar. Soll ich meine Locken lassen wie immer? Oder probiere ich etwas anderes? Ich könnte sie so stylen wie an Silvester und wie bei der Eröffnungsfeier. Meine Mutter wird das gar nicht gut finden. Ich sollte so nicht im Fernsehen zu sehen sein. Oder? Ich mag die Frisur eigentlich, aber was ist, wenn ich die Aufnahmen bald sehe und feststelle, dass sie recht hatte?

Verdammt. Ich seufze und gehe aus dem Badezimmer. Die Haare müssen sowieso erst trocknen. Ich habe sie zwar schon frottiert, aber es dauert trotzdem noch eine Weile, bis ich sie stylen kann. Ich nehme den Kleidersack mit meinem Outfit für die Abschlussfeier heraus. Er hat ein halbes Vermögen gekostet. Sobald klar war, dass ich herfliegen werde, hat Mum sich um meine Garderobe gekümmert. Ich ziehe die Hose und das Hemd an, Es sitzt gut. Es sieht gut aus. Der Anzug ist dunkelblau und das Hemd weiß. Dazu kommt eine rote Fliege. Klassisch und zeitlos. Ich sehe auf die Fliege. Ich mag sie nicht. Die Farbe gefällt mir nicht und ich weiß von der Anprobe, dass ich sie eng binden muss, damit Mum zufrieden ist. Schon im Winter bei der Anprobe habe ich kaum Luft bekommen. Und jetzt ist es Sommer.

Das Jackett ist okay. Die Schuhe auch. Ich sehe in den Kleiderschrank. Mein blaues, glänzendes Hemd habe ich bereits auf der Eröffnungsfeier angezogen, das kann ich heute nicht noch einmal tragen. Ich wünschte, ich hätte mehr von Kleidung dieses Stils. Kurz kommt mir der Gedanke, dass ich hier in Paris genug Zeit gehabt hätte, einkaufen zu gehen. Ich hätte allen gehen können oder mit Louis oder Gemma oder allen zusammen. Ich habe es nicht einmal in Betracht gezogen. Ich hatte den Wettkampf im Kopf und dann ist Mum hier angekommen und... Ich seufze. Gemma hat recht, sie kontrolliert mich viel zu sehr. Es sind ausreden. Ich hätte nach meinen Wettkämpfen genug Möglichkeiten gehabt, in die Innenstadt zu fahren. Und das Geld hätte ich auch gehabt.

Ich habe mein eigenes Konto und gebe so gut wie nie Geld aus. Ein oder zwei Hemden wären kein Problem gewesen. Ich greife nach der Fliege und lege sie mir um. Nein, das ist nicht das Wahre. Ich schüttle den Kopf, als ich mich im Spiegel betrachte und ziehe am Kragen. Das ist zu eng und nicht mein Stil. Kann man überhaupt sagen, dass ich einen Stil habe?

Plötzlich klopft es an der Tür. Kurz springt mein Herz bei dem Gedanken, es könnte Louis sein. Genauso schnell, wie dieser Gedanke aufgetaucht ist, verschwindet er allerdings wieder und ein druckendes Gefühl macht sich in mir breit. Es wird nicht Louis sein, wieso sollte er auch? Er macht sich sicher gerade selbst fertig. Ich öffne. Mum steht mir gegenüber. „Wieso bist du noch nicht angezogen?" – „Ich habe doch noch eine halbe Stunde", antworte ich ihr irritiert. Sie geht an mir vorbei in mein Zimmer. „Mach eine Haare, du solltest schon längst fertig sein." – „Aber wieso das denn?" – „Wegen der Fotos natürlich. Das weißt du doch." Verdammt. Die Fotos. Mum hatte mir gesagt, dass sie vor der Abschlussfeier noch welche machen lassen möchte.

Ich verschwinde im Bad. Meine Locken sind noch etwas feucht. Ich versuche sie einigermaßen zu richten, aber es klappt nicht so, wie ich das möchte. Am Ende wird es ganz okay, aber nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe.

Ich ziehe die Schuhe an und Mum hält mir die Fliege hin. „Wir haben nicht ewig Zeit." – „Mir ist dafür zu warm, es sieht doch auch gut aus, wenn ich..." – „Mach dich nicht lächerlich. Du willst doch nicht so unkultiviert aussehen wie bei der Eröffnungsfeier", unterbricht sie mich. Ich presse die Lippen zusammen und ziehe sie an. Danach folgt das Jackett. „Los jetzt. Gemma wartet bestimmt schon auf uns."

Ich folge ihr schweigend zum Aufzug. Ich freue mich nicht so richtig auf die Feier. Es sollte ein wunderbarer Abschluss für die letzten Wochen sein, aber stattdessen ist es für mich nur eine weitere Veranstaltung zu der meine Mutter mich schleift. Sie hat extra einen Fotografen bestellt. Wir machen die Fotos vor dem Stadion. Ich ziehe immer wieder an meinem Kragen. Ich schwitze und würde am liebsten die Knöpfe des Kragens öffnen. „Lass das sein, Harry. Das sieht nicht gut aus. Benimm dich", mahnt Mum und begrüßt dann den Fotografen freundlich. „Alles okay?", fragt Gemma mich skeptisch. „Ja, alles gut", antworte ich knapp. Ich weiß, was sie eigentlich fragen will. Wieso hast du dich nicht getraut? Ich würde nur antworten, dass ich es nicht weiß.

Wir machen Familienfotos. Mum gibt mir dafür meine Medaille. Ich hänge sie mir um und setze das seit Jahren einstudierte Lächeln auf. Dann will Mum ein paar Fotos von mir allein vor der Stadion. Überrascht schaue ich zu Gemma. Sie zuckt mit den Schultern und stellt sich hinter den Fotografen. Sonst sagt Mum immer, dass wir gewonnen haben. Wieso möchte sie Bilder von mir allein machen lassen? Ich hinterfrage es nicht und lasse es über mich ergehen.

Die halbe Stunde ist schnell um und immer mehr Leute finden sich im um die Halle ein. Louis entdecke ich nirgendwo. Vielleicht ist es besser so. Nachher werde ich ihn sowieso entdecken, aber besser später als früher. Es ist grausam ihn zu sehen. Nein, es ist grausam, ihn zu sehen und zu wissen, dass ich es vergeigt habe. Ich hätte ihn als Freund haben können. Ich hätte alles haben können und habe es mit einigen wenigen Sätzen komplett zunichte gemacht. Idiotisch. Vollkommen dämlich.

Ich zwinge mich, nicht nach ihm Ausschau zu halten. Normalerweise habe ich eine gute Selbstbeherrschung, das muss ich als Spitzensportler haben, aber wenn es um Louis geht, versage ich dabei auf voller Länge. Die Musik, die Auftritte und Reden lenken mich ein wenig ab, aber ich kann nicht verhindern, immer wieder zu ihm zu schauen, als ich ihn schließlich entdecke. Wir reden schon seit Tagen nicht mehr miteinander. Ich vermisse ihn unglaublich und der Gedanke an morgen ist so schlimm, dass mein Magen sich umdreht. Mir wird schlecht und ich ziehe am Kragen und besser Luft zu bekommen. Sofort höre ich die mahnenden Worte meiner Mutter in meinem Kopf. Benimm dich, Harry.

Ich nehme die Hand wieder herunter und warte auf das Ende dieser Veranstaltung. Vermutlich bin ich der Einzige hier, der hier weg möchte. Ich will in mein Bett, ich will aus diesen Klamotten raus und ich will allein sein. Die Option zu Louis zu gehen, habe ich mir selbst genommen. Die nächst beste Alternative ist, meine Ruhe zu haben.

Louis sieht nicht einmal zu mir. Bin ich ihm inzwischen egal? Das will ich nicht glauben. Aber je später es wird, desto mehr tue ich es. Ich sehe ihn später mit Champagner anstoßen. Er lacht und ist glücklich. Er trägt seine Medaille um den Hals. Ich blicke an mir herab. Ich trage Gold und bin nicht annähernd so gut gelaunt wie er. Ich muss doch irgendetwas tun können. Oder? War es das?

Ereignis, Zufall, Muster. Kommt etwas danach? Nein, es gibt kein viertes Mal auf dieser Liste. So sehr ich mir es auch wünschen würde.

Einsamkeit hüllt mich ein, sobald ich auf mein Zimmer flüchte. Ich verschwinde so schnell, dass ich sogar vergesse, Mum die Medaille wieder zu geben. Ich bemerke es erst, als es ein paar Minuten, nachdem ich in meinem Zimmer angekommen bin, an der Tür klopft. „Ich bin's." Gemma. Nicht Mum. Ich öffne und sie kommt rein. Sie lässt sich auf das Bett fallen. „Zieh die ätzende Krawatte endlich aus." Ich lege die Medaille ab und öffne endlich den Kragen. Das Jackett lasse ich einfach auf den Boden neben die Schuhe fallen. „Morgen Mittag geht es nach Hause." – „Mhm." – „Hast du mit ihm gesprochen?" – „Wann denn?", frage ich mit bitter klingenden Stimme und schüttle den Kopf. Gemma sieht sich die Medaille an. „Du hast weniger als zwölf Stunden bis wir zum Flughafen fahren."

Ich nicke stumm. „Hat Mum nicht die kleine Tasche für die Medaille?", fragt sie dann. Ich zucke mit den Schultern und öffne meinen Koffer. Der Cardigan liegt dort noch. Verdammt. Ich greife nach der kleinen Tasche, die ich für eine Medaille gehäkelt habe und gebe sie Gemma. „Das ist besser", nickt sie. „Was hast du noch gemacht?" – „Nichts besonderes." Sie hebt skeptisch die Augenbraue und kommt zu mir. „Einen Cardigan?" Sie sieht sich ihn an. „Das ist die Irische Flagge." – „Mhm." – „Du hast ihn für Louis gemacht?" Ich antworte ihr nicht.

„Ach verdammt", flucht sie und legt die Sachen weg. „Ich muss was klären. Sei morgen um sieben Uhr fertig, okay?" – „Wir müssen doch erst um acht los?", frage ich irritiert. „Sei einfach fertig", antwortet sie mir und verlässt mein Zimmer wieder. „Gemma wieso?", rufe ich ihr nach, aber da ist die Tür schon zu gefallen. 

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Harry hat doch wieder das getan, was seine Mutter wollte. Hattet ihr etwas anderes erwartet? 

Love, L

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