83. Kapitel

Harry:

Louis geht weg. Ich sehe ihm nach und kann mich nicht bewegen. Es fühlt sich an, als würde ich fallen. Tief und unbarmherzig. Mir treten Tränen in die Augen. Drei Tage. So lange bleiben wir noch hier. Drei Tage und dann sehe ich ihn nicht mehr wieder. Ein viertes Mal wird es nicht geben. Ereignis, Zufall, Muster. Drei Mal, nicht vier. Es ist vorbei. Ich habe es versaut. Ich stehe wie eingefroren an der Stelle. Was wollte ich hier noch einmal machen. Louis sitzt wieder bei seiner Familie. Lottie sagt irgendetwas und er lacht. Er ist glücklich. Er braucht mich nicht. Vielleicht hatte Mum recht und ich sollte keinen Kontakt zu ihm haben. Das ist jetzt sowieso zu spät. Ich gehe zurück und setze mich.

Cayla ist wirklich gut. Sie gewinnt Silber. Ich freue mich für sie. Auf dem ersten Platz landet ein Japaner. Cayla ist zufrieden und glücklich. Es ist schön, das zu sehen. Silber. Wäre ich damit zufrieden? Mum hat immer gesagt, zweitbester zu sein reicht nicht. Das sind nur Trostpreise. Jetzt gerade habe ich nicht das Gefühl, dass Cayla denkt, es sei ein Trostpreis. Sie wird beglückwünscht und tritt auf das Treppchen. Sie grinst breit und ich sehe, dass Louis es filmt, wie sie ihre Medaille bekommt. Hat er das bei mir auch getan? Ich habe es bei ihm nicht gemacht. Mum meinte, so etwas tut man nicht. Es wird sowieso übertragen und es gibt später die Aufnahmen davon. Ich hätte gerade eine eigene gehabt.

Mum bemerkt nicht, dass es mir nicht gut geht. Gemma schon, aber sie sagt nichts. Das muss sie nicht. Ich weiß, dass sie irgendwann nachfragen wird, wenn unsere Mutter nicht in der Nähe ist. Das ist in Ordnung. Ich könnte es jetzt sowieso nicht erklären.

Ich verziehe mich so früh wie möglich in mein Zimmer. Ich versuche zu lesen, aber meine Gedanken driften immer wieder ab. Ich will zu Louis. Zu wissen, dass ich nur die Etage wechseln müsste, um an seine Zimmertür klopfen zu können, macht mich wahnsinnig. Wie soll ich die nächsten Tage nur aushalten? Und danach die Wochen und Monate in England?

Nach zwei Tagen glaube ich, durchzudrehen. Jeden Abend fange ich unter der Dusche an zu weinen. Jeden Morgen denke ich darüber nach, zu ihm zu gehen. Und dann? Ich weiß nicht, was ich dann tun soll. Nur zu reden bringt nicht mehr viel. Er würde mich wegschicken. Mit ungemachten Haaren und müdem Blick sitze ich am Frühstückstisch. Gemma mustert mich. „So kann das nicht weitergehen", sagt sie, als Mum sich einen Kaffee holt. Ich zucke motivationslos mit den Schultern. Ich habe in Büchern oft davon gelesen, wie sehr Liebeskummer weh tut, aber so schlimm? Damit habe ich nicht gerechnet. Es ist grausam. Schlimmer als alles, was ich bisher erfahren habe. „Wir reden nachher", legt Gemma fest. „Okay", sage ich nur. Ich habe keine Kraft, um zu widersprechen und ihr zu sagen, dass das sowieso nichts bringt.

„Harry, morgen ist die Abschlussfeier", sagt Mum, als sie sich wieder setzt. „Du solltest bis dahin diese schlechte Laune in den Griff bekommen. Du hast Gold für England gewonnen, da solltest du einen glücklichen Eindruck machen. „Natürlich Mum", nicke ich und stochere in meinem Omelette herum. Die Abschlussfeier. Ich wette, Louis wird wahnsinnig gut aussehen. Er wird unglaublich aussehen. Und ich? Ich werde aussehen wie immer. Nicht besonders gut oder einzigartig. Normal. So wie ich immer aussehe. Das Outfit hängt gebügelt in meinem Schrank. Mum hat den Anzug ausgesucht. Und das Hemd. Und die Schuhe.

Ich sollte mich auf diese Feier freuen, aber eigentlich will ich nur ins Bett. Daran zu denken, dass morgen wieder dutzende – nein hunderte – Kameras auf mich gerichtet sein werden, verursacht nur, dass mein Magen sich umdreht. Ich will dort nicht hin. Es gehört dazu.

„Also? Was ist los?", fragt Gemma nachmittags, als Mum gerade nicht da ist. Ich zucke mit den Schultern. „Raus mit der Sprache", fordert sie. Wieso muss ich schon wieder weinen? Wieso überrollen meine Gefühle mich immer sofort und wieso kann ich nichts dagegen tun? Andere Leute haben das doch auch im Griff! Ich schniefe und wische mir über die Augen. „Harry..." Sie zieht mich in eine Umarmung. Ich schluchze auf und klammere mich an meiner großen Schwester fest. Ich bin vollkommen verloren. Sie hält mich einfach fest. Das ist lange nicht mehr vorgekommen. Sehr lange. Ich schnappe nach Luft und schluchze und schniefe immer wieder. Meine Wangen sind komplett nass und ich glaube ihr T-Shirt an der Schulter auch.

„Ich habe... Louis..." – „Ihr seht euch nicht mehr, oder? Mir ist es die letzten Tage schon aufgefallen?", fragt sie und wir setzen uns auf eine Bank. Nein, nicht eine Bank. Es ist die Bank auf der ich gesessen und mein Buch gelesen habe, als Louis draußen trainiert hat. „Es klappt nicht, Gem. Kann es doch gar nicht", antworte ich und zucke unbeholfen mit den Schultern. „Und er will mich nicht mehr sehen." – „Das kann ich mir nicht vorstellen." – „Er hat es mir gesagt", erzähle ich und mein Herz zieht sich bei der Erinnerung daran schmerzhaft zusammen. So schmerzhaft, dass ich glaube, es hört gleich einfach auf zu schlagen, weil es eine Pause von dem ganzen Schmerz braucht.

„Irgendwie habe ich mit ihm Schluss gemacht, glaube ich." – „Du hast was?", fragt sie perplex und sieht mich verwirrt und irritiert an. „Wieso machst du so einen Scheiß?" – „Ich wusste nicht... ich wollte nicht... es hat doch sowieso keine Zukunft, oder?" – „Wieso das denn nicht? England und Irland sind nicht zwanzig Flugstunden voneinander entfernt. Und selbst dann kann es klappen", widerspricht sie mir sofort. „Was hast du dir dabei gedacht?" Ich zucke mit einer Schulter und sehe auf den Boden. „Es war... Ich konnte nicht...", stottere ich heraus. Wie soll ich das nur erklären?

„Harry, sei ehrlich. Hat Mum was damit zu tun?", will sie wissen. „Sie hat doch recht. Das geht nicht. Es würde nur schlimmer werden." – „Heißt das, du hast dich vor ihr geoutet? Hast du ihr gesagt, dass du schwul bist?" – „Wieso ist das wichtig?" Gemma seufzt. „Siehst du es nicht? Sie will nicht glauben, dass du auf Männer stehst. Sie sieht dich als erfolgreichen Sportler, bis du zu alt dafür bist. Dann studierst du Medizin und heiratest irgendeine Frau, um eine Familie zu gründen. Sie plant dein Leben durch, das hat sie schon immer getan. Ein Mann an deiner Seite würde all diese Pläne durchkreuzen", erklärt sie mir mit ruhiger Stimme. „Solange du Mum nicht gegenüber trittst du ihr ganz klar sagt, dass du niemals eine Frau heiraten wirst, wird es immer so weiter gehen."

„Aber wieso... warum muss ich das tun? Wieso kann ich nicht einfach jemanden lieben?", frage ich verzweifelt. Ich will dieses Gespräch mit Mum nicht führen. Niemals. Aber ich will nicht für immer allein bleiben. Ich will... ich will Louis. Nur ihn. Schon immer. „Du wirst ihr widersprechen müssen. Sie kontrolliert alles, das merkst du doch." – „Sie will doch nur das Beste für mich." Gemma seufzt und schüttelt den Kopf. „Vielleicht scheint das so, aber ist es dir nie aufgefallen? Wir gewinnen Gold. Wir benehmen uns so und so. Wir machen so etwas nicht. Harry, du hast die Medaille gewonnen. Du bist gesprungen, nicht sie. Aber sie hat die Medaille bei sich." – „Aber sie ist unsere Mum. Sie würde doch nicht... sie will doch bestimmt nicht...", stottere ich. Ich weiß, dass Gemma recht hat.

Natürlich ist es mir die ganzen Jahre lang aufgefallen, aber ich hatte keinen Grund etwas dagegen zu tun. „Wie sehr möchtest du zu Louis?", fragt sie mich. „Ich liebe ihn, Gemma. Irgendwie... schon immer glaube ich", gebe ich zu. „Seit Silvester damals?", fragt sie mich lächelnd. „Seit Ibiza", antworte ich. Es ist das erste Mal, dass ich es jemandem sage. „Seit Ibiza? Was?" Irritiert sieht sie mich an. Ich zucke mit den Schultern. „Da habe ich gemerkt, dass ich nicht hetero bin. Dass ich schwul bin habe ich erst später verstanden." – „Aber Ibiza? Das ist vor zehn Jahren gewesen", antworte sie und schüttelt verwirrt den Kopf. Sie kann es nicht einordnen, aber das nehme ich ihr nicht übel.

„Weißt du noch, als du mit den anderen Teenagern Beachvolleyball gespielt hast?", frage ich sie. Sie nickt zögerlich. „Ja, denke schon." – „Mum wollte, dass ich meine Sprünge übe, deswegen habe ich nicht mitgemacht", erinnere ich mich. Schon damals im Urlaub hat sie bestimmt, was ich tue und was ich lasse. „Lottie hat mich damals gefragt, ob ich mitspielen möchte. Ich hätte es so gerne getan, aber es ging nicht. Dann habe ich das erste Mal Louis gesehen. Ich habe kein Wort mit ihm gesprochen, aber in diesem Moment... irgendetwas war anders. Ich hatte einen Crush auf ihn, schätze ich. Ich habe den ganzen Urlaub gehofft, mit euch Beachvolleyball spielen zu können. Dann sind wir abgereist. An dem Morgen bin ich noch einmal zum Strand gegangen. Er ist mit einer Gruppe anderer Menschen Fahrrad gefahren. Ich glaube, sie haben eine Tour gemacht. Seitdem ist er mir nie aus dem Kopf gegangen", gebe ich zu. „Ein paar Jahre später kam Silvester Er wusste nicht mehr, wer ich bin und ihr habt euch auch nicht erkannt, also habe ich nichts gesagt."

Gemma schweigt einen Moment. Sie sieht mich nur an und ich denke, sie braucht einen Moment, um zu verstehen, was ich ihr gerade gebeichtet habe. Ich presse die Lippen zusammen und warte auf ihre Reaktion. Hält sie mich jetzt für irre? Denkt sie, dass ich vollkommen durchgeknallt oder besessen bin?

„Du denkst seit zehn Jahren an ihn? Das hat nie aufgehört?" Ich schüttle stumm den Kopf. Sie schließt die Augen und atmet tief durch. „Oh, Harry, wieso hast du nie etwas gesagt." – „Gesagt? Wieso das?" – „Weil du das nicht allein hättest durchstehen müssen. Das erklärt so einiges, weißt du? Aber viel wichtiger ist, dass du Louis jetzt nicht gehen lassen darfst." – „Ich habe so miese Sachen gesagt. Er wird mich nicht mehr wollen." – „Das bezweifle ich. Du musst es versuchen. Sei mutig." Mutig. Ich? Das passt nicht zusammen. So gar nicht.

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Harry hat Gemma die Wahrheit gesagt. Und Gemma hat Klartext gesprochen. Was wird Harry jetzt tun? 

Love, L 

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