59. Kapitel
Harry:
„Irgendetwas ist anders." – „Was? Nein, es ist alles wie immer. Was soll sein?", frage ich etwas zu schnell. Mein Trainer schüttelt den Kopf. „Das war keine Frage, Harry, das war eine Feststellung. Irgendetwas ist anders." Ich bleibe stehen. „Wieso? Inwiefern?", will ich wissen. Er zuckt mit den Schultern. „Du bist ausgeglichener, besser gelaunt und weniger gestresst." – „Weniger gestresst?", frage ich perplex. Wie soll ich denn jetzt gerade weniger gestresst sein? In wenigen Tagen ist mein erster Wettkampf und noch dazu befinde ich mich in einer Situation, von der ich keine Ahnung habe, wie ich mit ihr umgehen soll. Die Situation, dass jemand – Louis – mich offenbar wirklich mag. Sehr mag – auf diese andere Art und Weise.
„Du lügst mich doch sonst nicht an." – „Tue ich nicht. Ich lüge nicht!" Er sieht mich skeptisch an. Verdammt. „Es... uhm...es ist nicht relevant, okay? Ich springe besser als je zuvor, reicht das nicht?", frage ich hoffnungsvoll. „Theoretisch ja." – „Aber?" – „Ich glaube nicht, dass das nur ist, weil wir hier bei Olympia bist. Du bist schon einigen Tagen besser gelaunt." Erwischt. Ich schweige. Am liebsten würde ich ihm sagen, dass es ihn nichts angeht, aber das wäre es vermutlich nicht besser machen. „Glaubst du mir, wenn es nichts ist, was mir schaden könnte?", weiche ich stattdessen aus. „Natürlich. Ich weiß, dass du nie etwas unüberlegtes tust." Skeptisch mustert er mich. Dann seufzt er. „Ich sehe schon, du willst nicht darüber sprechen. Versteh mich nicht falsch, ich muss nicht jedes Detail aus deinem Leben kennen. Ich frage mich nur, welchen Grund es hat, dass du auf einmal so viel besser gelaunt ist."
„Uhm..." Ich zögere. Ist es normal, dass ich den Drang habe, mit jemandem darüber zu sprechen? Oder besser gesagt, es jedem zu erzählen? Ich will jedem sagen, dass Louis und ich... Ich weiß nicht einmal, was wir sind. Das ist in diesem Moment aber kein Grund, nicht das Bedürfnis zu verspüren, es laut auszusprechen. „Liegt es daran, dass deine Mutter nicht hier ist?", fragt er auf einmal. Er spricht die Frage zögerlich und vorsichtig aus. Überrascht sehe ich ihn an. „Meine Mutter?" – „Ich weiß, mir steht es nicht zu, dazu etwas zu sagen, aber kann es sein, dass es besser für dich ist, dass sie nicht hier ist?" Perplex schweige ich einen Moment. „Wie... warum..." – „Weil sie dich unbedingt auf dem ersten Platz sehen möchte. Natürlich möchte ich das auch, aber der ganze Verein hat sich schon gefreut, als du es bis hierher geschafft hast. Ich habe den Eindruck für deine Mutter war die Qualifizierung nur ein Punkt auf der To-Do-Liste zum ersten Platz."
„Sie unterstützt mich. Ihr ist wichtig, dass ich mein Potential ausschöpfe", antworte ich ihm angespannt. Er nickt. „Das ist uns allen wichtig." – „Meinst du, weil sie immer da ist? Weil sie mein Training verfolgt und ich ihr Videos von meinen Sprüngen schicken muss?" – „Auch", antwortet er. Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung. Es... uhm... sie wird nicht herkommen." – „Findest du das gut oder schlecht?" Ist das gut oder schlecht? „Ich weiß es nicht." – „Das bedeutet, dass du es nicht nur schlecht findest, oder?" Ich blinzle ein paar mal. Was? Ich soll es gut finden, dass meine Mutter nicht nach Paris kommt? „Sie hat viel zu tun. Ich möchte nicht, dass sie meinetwegen ihre Arbeit nicht machen kann." – „Sie könnte sich Urlaub nehmen", entgegnet mein Trainer. „Aber ihre Arbeit ist wichtig. Projekte müssen fertig werden und..." – „Und ihr Sohn ist bei den Olympischen Spielen. Es geht mir gar nicht darum, etwas zu beurteilen. Ich habe mich nur gefragt, ob deine gute Laune und deine Guten Leistungen damit zusammen hängen, dass sie dir nicht ständig über die Schulter schaut."
„Ich weiß es nicht", antworte ich ehrlich. Bisher bin ich davon ausgegangen, dass Louis der Grund ist aber, so direkt habe ich nicht darüber nachgedacht, was ich gerade zu hören bekommen habe. Es stimmt, meine Mutter schaut mir schon immer über die Schulter; in der Schule, beim Training. Immer. Ich kenne es nicht anders. Auch jetzt telefoniere ich mit ihr, schicke ihr Aufnahmen von meinem Training aber... es ist schon anders. Erst gestern habe ich ihr anstatt drei Videos nur zwei geschickt, weil ich mit einem Sprung nicht zufrieden war. Sie hat diesen Sprung nie zu Gesicht bekommen und war mit der Leistung, die sie gesehen hat, ziemlich zufrieden. Ich habe mich gut gefühlt, dass sie mir geantwortet hat, dass ich gut gesprungen bin.
„Ist der Grund nicht egal? Solange ich gut springe, ist doch alles in Ordnung, oder nicht?" – „Es darf sich nur bis zum Wettkampf nicht mehr verändern", merkt mein Trainer an. Das wird es nicht. Oder? Nein, es wird sich nicht ändern. Louis meinte schließlich, er schaut bei mir zu. Er würde das nicht sagen, wenn es sich ändern würde. Kurz zögere ich. Jahrelang war die Vorstellung, dass Louis mich bemerkt nur Wunschdenken. Es waren Tagträume, in denen er mit mir gesprochen und mich sympathisch gefunden hat. Jetzt ist es tatsächlich so. Verdrehe ich die Wahrheit, um näher an diese Tagträume zu kommen? In Gedanken versunken klettere ich die Leiter nach oben.
Gleich ist das Training vorbei. Ich stehe auf der Plattform und schaue auf die Große Uhr an der Wand der Halle. Noch drei oder vier Sprünge, dann ist Feierabend für heute. Ich schaue auf meine Füße. Meine Zehen berühren genau die Kante. Auf einmal nehme ich eine Bewegung im Augenwinkel wahr. Irritiert sehe ich zum Beckenrand. Louis steht dort und winkt mir. Sofort fange ich an zu lächeln. Neben ihr steht eine junge Frau. Ich erkenne sie wieder, es ist seine Schwester. Sie hat mich damals auf Ibiza angesprochen und mich eingeladen, Volleyball mit ihnen zu spielen.
Er spricht mit ihr. Ich werde nervös. Ist es weil er hier ist oder weil ich nicht hören kann, was er ihr sagt. Will ich wissen, was er ihr sagt? Ich schüttle den Kopf und atme tief durch. Ich muss mich konzentrieren. Ich springe ab. Meine Muskeln bewegen sich wie von selbst. Ich fliege, falle und dann treffe ich auf die Oberfläche. Ich bleibe darunter. Diese Momente nehme ich mir ab und zu. Ich tauche nicht direkt auf, ich verweile einige Sekunden unter der Oberfläche. Stille hüllt mich ein und ich lasse mich ein wenig tiefer nach unten sinken.
„Ich dachte schon du tauchst gar nicht mehr auf", grinst Louis. „Um nicht zu sagen, er wäre in den Pool gesprungen, um dich hochzuholen, wenn du noch länger da unten geblieben wärst", fügt Lottie hinzu. Ich sehe zu Louis' Schwester. „Uhm... ne. Mir geht es gut." Ich schaue wieder zu Louis. „Ich muss noch ein paar Mal springen. Uhm... sehen wir ins einfach in der Kantine oder..." – „Harry? Feierabend für heute!", ruft mein Trainer quer durch die Halle. „Aber..." – „Kein aber. Geh duschen." Er nimmt seine Sachen und verschwindet aus der Halle. Meine nassen Haare tropfen und unsicher trete ich von einem Fuß auf den anderen. „Ja... ich gehe duschen und dann... uhm..." – „Wir warten einfach draußen, okay?", schlägt Lottie vor. Ich nicke und sehe zu Louis. Er mustert mich. Er versteckt es nicht einmal. Sofort erröte ich ein wenig. „Ich beeile mich", bringe ich heraus und gehe zu den Duschen. Ich möchte Louis und seine Schwester so kurz wie möglich warten lassen.
Ich wusste, dass sie heute da sein wird, aber wieso bringt er sie mit in die Trainingshalle? Wieso ist er plötzlich dort aufgetaucht. Ich wasche mir die Haare und denke mal wieder an Louis. Ob er seiner Schwester gesagt hat, dass wir... dass zwischen uns... Nein, vermutlich hat er es ihr nicht gesagt. Ich werde so tun, als wären wir Freunde. Das ist die beste Lösung, oder? Ich stelle die Dusche ab und ziehe mich an. Meine Locken hängen nass herunter, als ich in Richtung Ausgang gehe. Bevor ich die Glastür öffne, bemerke ich, dass Lottie und Louis davor stehen. Ich atme tief ein und wieder aus. Das klappt schon. Ich stoße die Tür auf. Louis dreht sich als erstes zu mir. „Hi. Das Training sah gut aus. Wie lief's?", fragt er mich direkt. „Gut. Bei dir?" Er nickt und sieht zu Lottie. „Das ist meine Schwester. Lottie. Lottie, das ist Harry." – „Der englische Turmspringer", nickt sie und lächelt. „Freut mich, dich kennenzulernen." – „Uhm... gleichfalls." – „Gehen wir essen?", fragt Louis. „Klar. Gemma wartet dort auf mich." – „Seine Schwester", fügt Louis hinzu.
„Ah, stimmt. Du hast erzählt, dass ich mir mit ihr eventuell Paris anschauen kann", antwortet Lottie. „Habt ihr euch die Stadt schon angesehen?" – „Wir waren am glitzernden Eiffelturm", antworte ich. „Und in einer Buchhandlung." – „Mit Louis?", fragt sie überrascht und sieht zu ihrem Bruder. „Freiwillig?" – „Ja. Ob du es glaubst oder nicht. Freiwillig." Lottie sieht wieder zu mir. „Wie hast du das denn geschafft?" – „Uhm... ich wollte da sowieso hin und Louis hat vorgeschlagen, dass er mitkommt." Lottie sieht mich verwirrt an. „Seine Idee?" – „Lottie, bitte." Er verdreht die Augen. Dann stockt Lottie, schmunzelt und sieht wieder zu mir „Lass mich raten. Er will dich abschleppen?" – „Was? Nein... uhm... ich denke nicht... also...", stottere ich vor mich an. „Musste das jetzt sein? Ich will nicht immer jemanden abschleppen?" – „Das war die letzten Jahre anders." – „Lottie." – „Louis." – „Uhm... gehen wir rein? Meine Schwester steht da vorne schon", unterbreche ich die beiden zögerlich. Ich weiß, dass Louis oft und gerne mit anderen Leuten geschlafen hat, aber muss ich jeden Tag daran erinnert werden?
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Harry trifft auf Lottie. Meint ihr, Lottie erinnert sich an Harry? Oder Gemma?
Love, L
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