4. Kapitel

Harry:

Die Müdigkeit sitzt noch in meinen Knochen. Und ich habe Muskelkater, aber den habe ich fast immer, als kümmert es mich kaum noch. Es gibt nicht viele Tage, an denen ich nicht irgendwo ein Ziehen verspüre. „Harry, bist du fertig?", höre ich Mum rufen und seufze. Mein Koffer ist schon seit gestern fertig gepackt und ich hatte die Hoffnung, noch ein wenig länger in Ruhe in meinem Zimmer sitzen zu können. Tja, falsch gedacht. „Ich bin sofort da!", rufe ich zurück und trage den Koffer nach unten zur Tür. „Wir wollen frühstücken." 

Ich nicke und setze mich dazu. Meine Schwester nimmt sich ein Brötchen, Rührei und Käse dazu. Ich hingegen lasse von alldem die Finger. Meine Mum stellt mir ein Glas hin. Ich trinke jeden Morgen zuerst einen Vitaminshake und dann einen Proteinshake. Danach nehme ich mir erst Rührei. Mum achtet penibel auf meine Ernährung, inzwischen tue ich das auch. Es lohnt sich allerdings, ich bin so fit wie noch nie und ich spüre, wie es immer besser wird. Seitdem ich in die Pubertät gekommen bin, wachsen meine Muskeln schneller und bald werde ich wohl ein Sixpack haben. Ich bin verdammt gut trainiert, ich bin trainierter, als alle meine Mitschüler.

„Also, wir fliegen heute Nachmittag", verkündet Mum. „Harry, ich habe mit Sully telefoniert. Du triffst ihn heute Vormittag noch für zwei Stunden. Wir holen dich mit dem Auto ab und fahren dann direkt weiter. „Alles klar." Ich muss heute nochmal trainieren? Das hat sie mir nicht gesagt. Bestimmt hat sie das spontan entschieden. Gestern war ich bis halb elf im Schwimmbad. Meine Sprünge waren nicht gut. Gerade arbeiten wir daran, dass ich es sauber schaffe drei Saltos vom Dreimeter-Brett zu springen und gerade im Wasser zu landen. Normalerweise kann ich das, aber jetzt mache ich den Sprung aus dem Handstand. So gesehen sind es dreieinhalb Drehungen. Sully meint, das Problem ist, dass meine Schultermuskulatur nicht stark genug ist, dass ich sicher an der Kante im Handstand stehe, schon gar nicht, wenn ich es im Training immer wieder mache.

„Nehme ich meine Schwimmsachen dann mit?", frage ich verwundert. Wie soll das gehen, wenn wir direkt zum Flughafen fahren. „Oh nein, du verstehst das falsch. Heute ist nur Krafttraining, Harry", lächelt Mum. Oh, na dann. „Achso." Ich widerspreche nicht. Wieso auch? Ich weiß, dass ich zu viel Zeit im Wasser und zu wenig Zeit im Trocken-Trainingsraum verbringe. Es ist längst überfällig, dass sich das ändert. Gemma sieht mich prüfend an. Ich möchte heute eigentlich nicht schon wieder trainieren, ich bin sicher, sie weiß es. Aber uns ist beiden bewusst, dass wir Mum lieber nicht widersprechen.

„Gemma, hast du schon geschaut, was du auf Ibiza sehen möchtest?" – „Noch nicht", antwortet sie schulterzuckend. „Ich blättere im Flieger mal durch den Reiseführer." Wir haben die ganze Zeit lang einen Mietwagen, wir sind nicht gebunden und können hinfahren, wo wir wollen. „Okay, mach das." – „Ich würde gerne einen der Hippiemärkte sehen", werfe ich ein. Überrascht sieht Mum zu mir. „Äh... ich habe es online gesehen und es sieht wirklich schön dort aus", erkläre ich schnell. „Mal schauen, vielleicht kommen wir ja an einem vorbei." Ich nicke. Immerhin.

Mum bringt mich zum Training. „In zwei Stunden hole ich dich wieder ab. Sei dann fertig, ich will deinetwegen nicht zu spät am Flughafen sein." – „Tschüss Mum." Sie braust davon. Ich betrete das Gebäude und Sully wartet schon auf mich. „Fahrt ihr heute nicht in den Urlaub?" – „Du kennst Mum doch." – „Also hat sie dich mal wieder nicht gefragt", stellt er fest. Ich schüttle den Kopf. Sully ist ein guter Trainer und er weiß, wie sehr Mum mich unterstützt. Manchmal habe ich das Gefühl, er könnte verstehen, wieso ich ab und zu nicht so gerne trainiere wie sonst. So wie heute. Heute wäre ich gerne länger im Bett geblieben und hätte in Ruhe Koffer gepackt. Stattdessen habe ich das gestern Abend noch getan und diese Nacht nur etwa fünf Stunden geschlafen. Aber ich beschwere mich nicht. Andere haben es viel schlechter als ich. Ich habe Glück, in einer Familie aufzuwachsen, die mich so unterstützt und fördert.

„Wir trainieren Rücken, richtig?", frage ich, als ich den geräteraum betrete. „Ja, aber erst einmal machst du dich auf dem Laufband warm." Ich hasse laufen. Ich kann es nicht leiden. Weder joggen noch sprinten, noch sonst irgendetwas in diese Richtung. Ohne mich zu beschweren, ziehe ich die Schnürsenkel meiner Sportschuhe fest und schalte das Gerät an. Bereits nach kurzer Zeit spüre ich meine Muskeln. Sie brennen noch nicht, aber dennoch würde ich das Band am liebsten ausstellen. Ich lasse die Finger von den Knöpfen. Sully stellt die Geschwindigkeit etwas höher und mein Körper wird wärmer. Immerhin funktioniert es.

Außer Atmen steige ich fünfzehn Minuten später vom Laufband. Ich verstehe nicht, wieso Leute das freiwillig tun. „Also, wir fahren mit ein paar Handständen an der Wand an", erklärt Sully. „Danach gehen wir an die Geräte." Ich nicke und folge meinem Trainer zu der freien Wand.

„Denk dran, die Beine durchzustrecken. Und die Füße, zieh die Schule aus." Ich tue, wie mir geheißen. Ich lasse meine Schultern kreisen und anschließend meinen Kopf. Beim ersten Mal stoße ich mit meinen Füßen prompt an die Wand. Das darf nicht passieren. Wenn ich die Wand berühre, bedeutet das, dass ich mich zu weit nach hinten lehne. Ich richte mich auf und drehe meine Handgelenke. „Du hast es gemerkt, oder?", fragt Sully. „Ja, ich versuche es noch einmal." Auch dieses Mal stoße ich mit einer Ferse an die Wand. Verdammt! Das darf nicht passieren.

„Du musst deine Waden von Anfang an anspannen." Er mustert mich kritisch. „Und deine Füße, du weißt das doch eigentlich." Allerdings tue ich das, aber Wissen und Umsetzen ist etwas Unterschiedliches. Nicht, dass ich Sully das sagen müsste. Ich setze erneut an. Ich lege die Hände auf den Boden und ziehe meinen Oberkörper in die Vertikale. Mit den Füßen stoße ich mich ab, spanne meinen ganzen Körper an ziehe mich nach oben. „Besser", kommentiert Sully. Wäre ich nicht so konzentriert, würde ich jetzt lächeln, aber das könnte meine Form verändern. Mein Trainer fasst an meine linke Wade. „Hier. Da musst du anspannen." Er tippt gegen den Muskel. Ich versuche seiner Anweisung nachzukommen. „Wenn du dich auf dem Brett dann abstößt, schaffst du es schneller, in die Drehung reinzukommen", erklärt er mir. „Und nicht locker lassen. Zieh dich hoch." Ich spanne meinen Rücken noch mehr an und versuche, meine Schultern nicht absinken zu lassen. Es ist verdammt anstrengend.

Eine Minute lässt Sully mich in dieser Position noch ausharren, ehe ich es noch dreimal wiederholen muss. „Besser" sagt er zufrieden. „Und jetzt an die Kraftgeräte." Ich sage keinen Ton. Ich weiß, was ich tun muss. Sully stellt die Gewichte ein. Er weiß als mein Trainer am besten, was ich schaffe und was nicht. Er passt auf, dass ich mich genug steigere, mir aber nicht zu viel zutraue. „Heute trainieren wir nach Pyramidensystem", sagt er mir. Ich lege die Hände an die Griffe und warte, dass er mir das okay gibt, anzufangen. Pyramidensystem bedeutet, dass ich relativ leicht anfange, mich zweimal steigere und dann mit dem Gewicht wieder runtergehe. Meistens ist das mittlere Gewicht das, mit dem ich letztes Mal trainiert habe.

Ich schwitze, mein Atem ist flach und meine Muskeln brennen. Ich mache weiter, ich will noch nicht aufhören. Ich trainiere bis zum Muskelversagen, bis meine Muskeln zittern und ich kein Gramm mehr bewegt bekomme. „Einer noch", fordert Sully. Ich atme tief ein und wieder aus. Ich widerspreche nicht. Mein Griff verfestigt sich und ich drücke das Gewicht nach oben. Mein Körper will streiken, aber ich lasse es nicht zu. „Dein Verstand ist stärker, drück die Atme hoch!", höre ich Sullys Stimme. Ich beiße die Zähne zusammen und konzentriere mich auf meine Muskeln. Ich schaffe das, ich kann das.

„Sehr gut, Harry." Ich schnappe nach Luft und sinke nach vorne. Ich bin völlig fertig. Seit zwei Stunden fordere ich von meinem Körper 110% und jetzt weiß ich, dass mein Lieblingsteil des Trainings ansteht. Ich stehe auf und sehe, dass Sully bereits die Yogamatte ausbreitet. Ein bisschen Yoga und Stretching. Vor alle Stretching. Dabei braucht Sully mir so gut wie keine Anweisungen zu geben. Hier und da korrigiert er mal etwas, aber alles in allem ist es sehr entspannt. Ich schließe die Augen und lehne mich nach vorne. Ich sitze im Spagat und meine Brust legt auf dem Boden. Meine Arme strecke ich nach vorne von mir weg.

„Feierabend, Harry. Geh duschen und dann ab in den Urlaub mit dir." Ich stehe auf und schnappe mir meine Wasserflasche. „Danke Sully." – „Wir sehen und nach deinem Urlaub. Verlerne nicht alles", grinst er.

Meine Haare sind noch nass, als ich bei Mum ins Auto steige. „Wie war das Training." – „Sehr gut, aber anstrengenden." Zufrieden nickt Mum und startet den Wagen. Ich straffe die Schultern und weiß bereits jetzt, dass der Muskelkater morgen besonders schlimm wird. Wir fahren direkt zum Flughafen. „Hier, dein Ticket. Verliere es nicht. Deinen Reisepass hast du?"– „Natürlich", nicke ich und nehme das Ticket an mich. Gemma hat ihres offenbar schon. Während wir darauf warten unser Gepäck abgeben zu können, esse ich einen Proteinriegel. Er schmeckt nicht sonderlich gut, aber ich habe Hunger. Es ist Kokos, ich mag lieber die Riegel mit Schokolade oder Vanille oder Erdbeere. Hauptsache nicht Kokos. Danach esse ich noch eine Banane, danach bin ich satt. Zumindest erstmal. 

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Ich schätze, ihr habt es begriffen: Die POVs werden wechseln. Ich kann noch nicht sagen, ob sie mit jedem Kapitel wechseln werden, aber die Story wird definitiv aus beiden Perspektiven geschrieben. 

Love, L

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