26. Kapitel
Harry:
Im Prinzip ist es ziemlich unnötig, dass ich mir einen Wecker stelle. Ich wache sowieso immer auf, bevor mein Handy mich theoretisch aus dem Schlaf reißen würde. Trotzdem habe ich ihn mir gestellt, denn die Angst, ohne Wecker zu verschlafen, überwiegt. Ich öffne die Augen und sehe an die Decke meines Zimmers. Ich bin in Paris, bei den Olympischen Spielen. Ich setze mich auf und schaue auf den Tisch, der schräg gegenüber vom Bett steht. Ob es wohl zu früh ist, eine kleine Tasche für eine Medaille zu häkeln? Ja, allerdings ist es das. Ich bin nicht abergläubisch, aber der Gedanke, dass wenn ich zu übermütig werde, nicht gewinne, ist so präsent, dass ich mir vornehme, erst eine kleine Tasche zu häkeln, wenn ich wirklich meine erste Medaille habe. Meine Erste. Wenn es nach Mum geht, dürfte ich nur mit Goldmedaillen nach Hause kommen, mit allen, die ich kriegen könnte. Es ist nicht so, dass ich mich dafür nicht anstrengen möchte, allerdings ignoriere ich nicht, dass meine Konkurrenz zu den besten der besten zählt und dass es nicht so leicht wird, überhaupt aufs Treppchen zu kommen.
Ich schwinge meine Beine aus dem Bett und springe unter die Dusche. Es ist halb sechs und die Sonne. Es wird langsam hell draußen, aber noch steht die Sonne nicht voll am Himmel. Die Vögel zwitschern und ich lasse das Fenster auf Kipp geöffnet, als ich mich anziehe. Ich brauche nicht viel, denn ich werde vor dem Frühstück einige Bahnen schwimmen. Nur für mich. Und weil ich gleich sowieso ins Wasser springen werde, föhne ich meine Haare erst gar nicht.
Die Halle ist vollkommen leer, als ich dort ankomme. Zufrieden lächelnd lege ich meinen Kram auf die erste Stufe der Tribüne und dusche mich ab. Es ist gerade einmal sechs Uhr. Das Wasser im Becken ist kühl, aber nicht zu kalt. Ich tauche unter und bleibe einige Sekunden dort. Das Becken ist tief, das muss es wegen den Sprungtürmen sein. Ich tauche nach unten ab und schwimme quer auf die andere Seite. Ich liebe es, ein Schwimmbecken für mich allein zu haben. Kein Trainer, keine anderen Sportler, nicht meine Mutter – nur ich. Ich ziehe meinen Bahnen, ohne auf meine Form oder auf die Zeit oder sonst etwas zu achten. Ich schwimme einfach nur. Springen werde ich erst nachdem ich gefrühstückt habe. Kurz schiele ich zum Sprungturm. Er wirkt von hier unten nicht so hoch, wie er von oben scheint. Als ich das erste Mal auf dem Dreimeterbrett stand, dachte ich, mir wird schlecht, inzwischen bin ich von weitaus höher gesprungen.
„Verdammt."
Ich zucke zusammen und drehe mich um. Ich blinzle ein paar Mal. Er ist auch so früh wach? Louis hat die Halle betreten und legt seine Sachen weg. Ich presse die Lippen zusammen und bleibe still. Kurz sieht er noch einmal zu mir, ehe er in Richtung der Duschen an der Seite geht. Er duscht sich ab und streich die nassen Haare nach hinten. Ich sollte einfach weiter schwimmen, aber stattdessen verweile ich in der Mitte des Beckens und schaue ihn an. Er trägt eine enge Schwimmshorts und das Wasser fließt über seine Haut. Er kreist seinen Kopf und streckt die Arme nach oben. Dabei bewegen sich seine Muskeln. Ich kann meinen Blick nicht abwenden. Er hat die Augen geschlossen und sieht mich nicht. Meine Gedanken sind völlig wirr, ich kann ihn nur ansehen. Er ist hübsch. Ob er mich erkannt hat?
Plötzlich ist seine Dusche wieder aus und er tritt zum Beckenrand vor. Er stellt sich auf den Startblock. Dann tritt sein Blick meinen und ich erwache aus meiner Starre. „Störe ich oder wieso schaust du mich so an?" – „Uhm... sorry", weiche ich schnell aus. „Nein, du störst nicht... uhm... ich dachte nur nicht, dass noch jemand so früh hier sein wird." – „Da sind wir schon zu zweit", antwortet er mir. „Willst du gleich springen?" – „Springen?" – „Du bist doch Turmspringer, oder nicht?", will er von mir wissen.
Ich kann nicht mehr richtig denken. Ich bin nervös und würde ich mich nicht gerade im Wasser befinden, würden mir wohl die Knie einknicken. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und kurz vergesse ich, wie man redet. „Harry?" – „Uhm...ja, richtig. Ich bin Turmspringer", brabble ich vor mich hin. Verdammt, kann man sich noch bescheuerter anstellen? „Nein, ich springe erst nachdem Frühstück", antworte ich ihm schließlich. „Wieso fragst du?" – „Weil ich dann vorgeschlagen hätte, dass wir die Bahnen tauschen. Deine Bahn ist nicht unter den Sprungtürmen und ich hätte nicht riskiert, dass du auf mich drauf springst." – „Wieso sollte ich das tun?", frage ich irritiert.
Er schüttelt den Kopf. „Vergiss es." Dann springt er geschmeidig ins Wasser. Er taucht ein Stück und wenig später durchbricht er die Oberfläche. Er ist unglaublich schnell. Ob er sich wohl gerade anstrengt? Bestimmt macht er sich gerade nur warm. Ich treibe immer noch mitten im Schwimmbecken. Louis dreht sich an der anderen Seite und stößt sich vom Beckenrand ab. In wenigen Augenblicken hat er die ganze Bahn hinter sich gelassen und dreht sich erneut. Shit, ich sollte ihn nicht so beobachten. Ich schüttle den Kopf und fange selbst wieder an zu schwimmen. Natürlich bin ich deutlich langsamer als er, aber schnelles Schwimmen ist nicht meine Disziplin, ich muss es nicht schaffen, ihn einzuholen.
Wir reden nicht. Wie auch? Und doch denke ich die ganze Zeit darüber nach, ob ich es gleich wohl schaffen könnte, mit ihm ein Gespräch zu starten. Dabei weiß ich nicht einmal, wie lange er bleibt. Ich hatte nicht vor, länger als eine Stunde zu schwimmen. Ich möchte zeitig Frühstücken und dann mit meinem Training starten. Das werde ich mir nicht davon durcheinander werfen lassen, dass ich fünf Minuten mit Louis sprechen möchte. Zumal ich relativ sicher bin, dass er überhaupt nicht interessiert daran ist, mit mir zu sprechen.
Irgendwann steige ich aus dem Wasser. Wir sind inzwischen nicht mehr allein. Es sind ein paar weitere Sportler in die Halle gekommen und ziehen ihre Bahnen. Ich stelle mich unter die Dusche und wasche das Chlorwasser herunter. Dann sehe ich auf einmal, wie Louis dich die Treppe hochzieht und ebenfalls aus dem Becken steigt. Einen kurzen Moment redet er mit einer jungen Sportlerin. Er steht mit dem Rücken zu mir und irritiert mustere ich ihn.
„Wieso ziehst du die Augenbrauen so zusammen?" Er kommt auf mich zu. Ich zucke fast schon zusammen, da ich nicht damit gerechnet habe, dass er mich anspricht. „Ich... uhm... war nur etwas irritiert", antworte ich nervös. Ich versuche gar nicht erst, es abzustreiten. „Irritiert?" – „Hast du dich verletzt?", möchte ich wissen, ohne weiter über meine Frage nachzudenken. „Tschuldige, es geht mich wahrscheinlich nichts an", schiebe ich direkt hinterher. Louis schaut mich verwirrt an. „Fragen ist nicht verboten." – „Ich weiß, aber..." Ja, was aber?
Ich bringe den Satz nicht zu ende. Louis wuschelt sich durch die Haare, um das Chlorwasser rauszuwaschen. Ich würde das gerne machen. Ist das komisch? Ich weiß es nicht. In den Büchern, die ich lese, waschen sich Pärchen gegenseitig oft die Haare, wenn sie duschen. Allerdings sind wir kein Paar und außerdem sind wir mitten in einer Schwimmhalle. Wir sind nicht einmal in den Gruppenduschen, sondern stehen nur unter den Duschen am Rand der Halle. Die sind nicht dafür da, sich richtig mit Shampoo und Duschgel zu waschen, sondern nur, um nicht einfach so ins Wasser zu springen. Oder eben für jetzt.
„Harry?" – „Sorry." Louis sieht an sich herunter. „Sehe ich verletzt aus?" – „Du hast Kratzer auf dem Rücken", antworte ich ihm und zucke mit den Schultern. „Kratzer?" – „Es sieht ein bisschen so aus, als wärst du in einen Busch oder so gefallen", überlege ich laut. Louis sieht mich unschlüssig an. Ich trete nervös von einem Fuß auf den anderen. „In einen Busch?" – „Ja, keine Ahnung. Vielleicht bist du gestern Abend hingefallen? Du hast ein bisschen getrunken und... ach egal", breche ich ab, als er sich ganz offensichtlich verkneifen muss, zu lachen.
„Ich bin nicht hingefallen." – „Okay. Sorry." – „Wie schlimm ist es?" – „Was?" – „Ist es sehr auffällig?", will er wissen und versucht sich über die Schulter zu schauen. „Uhm... ein paar Kratzer halt, wieso?" – „Ich bin nicht scharf darauf, dass jeder hier direkt erkennt, dass ich letzte Nacht Sex hatte."
Mein Herz setzt einen Schlag aus und mit großen Augen sehe ich ihn an. Mein Brustkorb scheint sich zusammenzusehen und auf einmal fühlt sich das Wasser der dusche eiskalt an. Es trifft wie kleine Nadeln auf meine Haut. Schnell stelle ich es aus. „Uhm... ach so. Sorry. Wie dumm, dass ich das nicht erkannt habe. Also man erkennt es nicht, denke ich. Das wollte ich sagen. Aber ich weiß es auch nicht, ich... sorry", plappere ich und laufe mit schnellen Schritten zu meinen Sachen. Verdammt, wieso habe ich das angesprochen? Ich bin so ein Idiot. Ich schnappe mir mein Handtuch und laufe zu den Umkleidekabinen. „Was ist denn jetzt los?", fragt Louis und kommt mir hinterher. „Nichts. Ich wollte nicht... ich wusste nicht..." Keine Ahnung, welche Wörter oder Formulierungen man in einer solchen Situation braucht.
„Ist doch nicht schlimm. Es ist nur Sex."
Ich nicke stoisch und öffne die Tür einer der Kabinen. Louis bleibt im Gang stehen. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nichts zu sagen. Kurz schaue ich ihn noch einmal an. Von Louis Haarspritzen fallen kleine Wassertropfen zu Boden. Er sieht so schön aus. Und er hatte gestern Nacht Sex. „Uhm... ich muss gleich Frühstücken." – „Bist du jeden Morgen hier?", möchte er wissen. „Vermutlich." Ich zucke mit den Schultern. Bevor die Situation noch unangenehmer werden kann, schließe ich die Kabinentür, bevor Louis mir antwortet. Dann setze ich mich auf die schmale Bank in der Kabine und atme tief durch.
Louis hat jemand anderen. Es sollte mich nicht überraschen. Es sollte mir vor allem nicht wehtun. Aber das tut es. Ich mag den Gedanken nicht und ich weiß nicht einmal, wieso nicht. Ich kenne ihn kaum. Ich habe ihn erst ein paar Mal gesehen. Sofort denke ich zurück an Ibiza. Was wäre wohl gewesen, wenn wir uns dort schon kennengelernt hätten?
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Harry weiß, dass Louis Sex hatte. Ob ihm das so gut tun? Und was meint ihr, wo werden die beiden noch so aufeinander treffen?
Love, L
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