16. Kapitel

Harry:

Gemma klopft schon wieder an die Badezimmertür. Unschlüssig stehe ich vor dem Spiegel. Kann ich mich wirklich so sehen lassen? „Harry, beweg deinen Arsch da raus!" Sie hämmert wieder gegen das Holz der Tür. Ich zögere. „Harry!" – „Tschudligung", murmle ich und verlasse schnell das Badezimmer, um ihr Platz zu machen. „Nervös?", fragt Cassy amüsiert. Sie steht im Flur und hat bereits ihr erstes Bier in der Hand. „Um... nein?" – „Komm mal mit, Kleiner." Ich bin nicht klein, ich bin größer als sie. Die beste Freundin und Mitbewohnerin meiner Schwester betritt Gemmas Zimmer. Ich habe meine Haare irgendwie gemacht, mehr schlecht als recht, aber mein Outfit trage ich noch nicht. Vielleicht bleibe ich auch einfach in Hose und Pullover, das passt doch, oder nicht?

Cassy nimmt meine Klamotten von Bett. Ich habe vorhin das Outfit auf der Tagesdecke drapiert, um es mir noch einmal anzusehen. „Zieh das an", bestimmt sie. „Uhm... sicher?" – „Ja, bin ich." Ich schaue auf den hellblauen, leicht glänzenden Stoff in meiner Hand. Ich habe das Hemd bisher erst einmal getragen. Ein einziges Mal und das war in den Umkleidekabine. Ich habe es mitgenommen, in der Hoffnung, dass es bald einen Anlass geben würde, es anzuziehen, aber ich bin mir nicht sicher, ob dieser Anlass wirklich heute ist. „Vertrau mir einfach, ja?" Ich zögere. „Und dazu die schwarze Jeans?" – „Genau und dann machen wir deine Haare." – „Wir?" – „Amy. Sie kann sowas gut", korrigiert Cassy. „Los zieh dich um. In fünf Minuten treffen wir uns im Bad, ich hole Amy." Sie schließt die Tür hinter mich und lässt mich mit der Kleidung allein.

Ich zögere. Cassy scheint sich sehr sicher zu sein, dass es gut aussehen wird. Ich ziehe mich bis auf Pants und Socken aus und greife nach der Jeans. Ich hatte sie erst ein paar Mal an. Es ist ein seltsames Gefühl diesen Stoff auf meiner Haut zu spüren. Ich bin nur meine Stoff und Trainingshosen gewöhnt, keinen Jeansstoff. Ich schließe sie und sehe mich in Gemmas großem Spiegel an. Ich bin gut trainiert, war ich schon immer. Mein Sixpack ist definiert, aber nicht zu stark ausgeprägt. Meine Beine ist stark und als ich mich drehe erröte ich sofort. Diese Jeans sitzt ganz anders als die Stoffhosen. Mein Hintern wird betont, er wirkt so... groß. Schnell nehme ich mir das Hemd und ziehe es über. Ich knöpfe es zu und verlasse das Zimmer, bevor ich mich wieder unsicher im Spiegel ansehen kann.

„Was wird dass denn?", fragt Amy irritiert. Sie steht vor dem Spiegel im Bad und schminkt sich gerade. „Uhm... ich habe mich angezogen?" – „Komm mal hier." Ich trete neben sie. „Was ist daran falsch?", möchte ich wissen. „Das Hemd muss in die Hose, Harry." – „Aber..." Ich breche ab. „Uhm... dann sieht man meinen Hintern so", murmle ich. Amy sieht mich irritiert an. „Das ist doch gut." – „Gut?" – „Du bist besser durchtrainiert als die meisten hier, sei doch stolz drauf, dass du so einen Körper hast," erklärt sie lächelnd. Ich zögere. „Weißt du was, probiert es einfach. Ich bin gleich wieder da." Sie verlässt das Bad und schließt die Tür hinter sich. Ja, probieren kann ich es. Ich öffne die Jeans und stecke das Hemd hinein. Dabei versuche ich darauf zu achten, möglichst wenig Falten in den Stoff zu machen.

Amy klopft und tritt wieder ein. „Hier." – „Ein Gürtel?" – „Der ist von unserem Nachbarn." – „Eurem Nachbarn?" Fragend sehe ich sie an. „Ja, hat er hier vergessen." –„Wieso vergisst er seinen Gürtel hier?" Sie möchte antworten, lässt es dann aber und schüttelt den Kopf. „Egal, zieh ihn an." Es ist ein schwarzer Ledergürtel mit schlichter, silberner Schnalle. Ich fädle ihn durch die Ösen und schließe ihn. „So und jetzt öffnest du die ersten drei Knöpfe." – „Drei?" – „Mach einfach", weißt sie mich an. Ich komme der Anweisung nach und immer mehr meiner Brust wird sichtbar. Fragend wende ich mich Amy zu. „Verdammt, du hast echt Muskeln." – „Uhm..." Ich zucke mit den Schultern. Sie zupft an dem Hemdkragen herum, bis sie zufrieden ist. „So, besser." Ich betrachte mich. „Meinst du?" – „Lass mich nur machen." Okay. Ich bleibe mitten im Badezimmer stehen und lasse zu, dass sie meine Locken stylt. Ich kann nicht sehen, was genau sie macht, meine Augen sind geschlossen, ich will kein Haarspray darein bekommen.

Plötzlich spüre ich etwas Kaltes an meinem Hals. Ich zucke zusammen und möchte sofort ausweichen. „Entspann dich, du Schisser", höre ich Gemma sagen. In diesem Moment sehe ich im Spiegel, dass sie hinter mir steht. „Das ist aber doch keine Kette? Wieso soll ich eine Kette tragen?" Sie zuckt mit den Schultern. „Es sieht gut aus, deswegen", antwortet sie nur und zieht mich in den Flur. Dort stellt sie mich vor den großen Ganzkörperspiegel.

„Oha..." Das soll ich sein? Nie im Leben. Meine Locken sehen so anders aus, mein ganzes Outfit sieht so... erwachsen aus. Ich sehe so erwachsen aus. „Zufrieden? Fühlst du dich wohl?", will Cassy wissen. Die drei jungen Frauen stehen um mich herum. „Mum darf das niemals sehen!", entfährt mir. Gemma fängt an zu lachen. „Wieso sollte sie auch? Sie ist nicht hier." Ich fange an zu lächeln. „Ja, ich mag es tatsächlich." Und ich fühle mich wohl, total wohl. Endlich kann ich dieses Hemd tragen und zu meinem erstaunen gefällt mir sogar Gemmas Kreuzkette an mir. Ich straffe die Schultern und drehe mich ein wenig. Verdammt, mein Hintern ist so betont. „Das ist so... obszön." Gemma verdreht die Augen. „Jammer nicht." – „Uhm... ist das gut?" – „Gut? Ich wünschte, ich hätte deinen Hintern", lacht Amy." – „Oh Gott, bitte nicht. Er ist immer noch mein kleiner Bruder!", mischt Gemma sich sofort ein. Cassy fängt an zu lachen. „Du hast uns gebeten, ihn fertig zu machen." – „Ich habe nicht um solche Kommentare gebeten", antwortet Gemma, grinst dabei aber.

Ich bin zufrieden, sehr. Ich würde sogar vielleicht vorsichtig sagen, dass ich gut aussehen. Ich mag diesen Style, es passt zu mir.

Ich bleibe erst einmal bei Cola und Wasser. Gemma trinkt ihr zweites Bier, wie die meisten hier. Ich bleibe bei meiner Schwester. Es sind so viele Leute hier, die ich nicht kenne, ich weiß nicht, mit wem ich sonst sprechen soll. Gemma kennt einige, aber nicht alle. Sie hat keine Probleme, ein Gesprächsthema zu finden und neue Leute kennenzulernen. Ich wünschte, ich könnte das auch so einfach, wie sie. Ich hatte schon immer Schwierigkeiten damit. Die Musik ist laut und der Alkohol fließt. Ich trinke immer noch nicht. „Harry, kommst du mit? Wir gehen hoch zu den anderen Nachbarn." – „Hoch?" – „Ja, hoch", wiederholt Gemma und öffnet die Haustür. Ich möchte nicht allein hier bleiben.

Ich folge ihr und einiger ihrer Freunde nach oben. Die Tür der anderen WG steht auf. Ich drehe nervös den Becher Cola in meiner Hand. „Hi Niall." Amy geht zu einem der anderen Kerle hier. „Gemma kennst du ja, das ist ihr Bruder Harry", stellt sie mich vor. „Hi, freut mich", lächelt er charmant. Ich nicke zögerlich. „Bedien dich einfach, Bier ist im Kühlschrank, Snacks in der Küche", sagt er. Danach legt er einen Arm um Amys Hüfte und zieht sie zu sich. Oh, deswegen lag der Gürtel bei Amy. Das ist bestimmt seiner. Ich sehe mich um. Noch mehr Menschen, die ich nicht kenne. Gemma ist plötzlich weg. Ich sehe sie nicht mehr. Verdammt.

Unschlüssig gehe ich in die Küche. Niall meinte, hier gibt es etwas zu essen. Ich nehme mir ein bisschen Fingerfood und schaue mich weiter um. Niemand scheint Kenntnis von mir zu nehmen. Es ist nicht so, dass das überraschend kommt, aber es fühlt sich nach wie vor nicht sonderlich gut an. Nein, ich mag das Gefühl überhaupt nicht. Es war allerdings schon immer so: In der Schule, in meinem ersten Verein... Ich weiß inzwischen damit umzugehen, mehr oder weniger zumindest. Vielleicht hatte ich auch die Hoffnung, dass sich durch das Outfit etwas ändert.

Plötzlich höre ich jemanden lachen. Es ist so voll, dass ich nicht direkt sagen kann, wer es ist. Die Stimme ist hoch, weich – sie ist so verdammt schön. Dann entdecke ich die Person, zu der die Stimme gehört. Mir rutschen fast die Füße unter meinem Körper weg. Meine Beine zittern und mein Herz setzt einen Schlag aus. Nein, niemals... das kann nicht sein. Ich kann meinen Blick nicht abwenden. Der Kerl, der dort steht, bringt meine ganze Wahrnehmung völlig durcheinander. Er ist es. Ich bin mir zu 100% sicher – zu 95%. Seine Haare sind braun wie Kastanien, seine Augen leuchtend blau. Er ist so schön, so unglaublich schön. Er lächelt amüsiert und unterhält sich mit der Frau, die ihm gegenübersteht. Ich sehe ihr Gesicht nicht. Er scheint Spaß zu haben. Ob seine Schwester wohl auch hier ist? Bestimmt würde sie mich sowieso nicht mehr erkennen.

Ich möchte nicht lauschen, aber ich kann nicht anders. Es ist, als würden alle anderen Stimme neben seiner in den Hintergrund rücken. Er spricht über Sport, er ist Sportler. Ob ich das als Gemeinsamkeit bezeichnen könnte? Mein Herz klopft nervös. Ob ich mich heute noch mit ihm unterhalten kann? Gemma kann ich nicht um Hilfe bitte. Er... ist ein Kerl. Ich bin schon seltsam genug, wieso muss mich ein anderer Typ auch noch aus der Fassung bringen? Nein, das will ich ihr nicht sagen.

Kurz sieht er zu mir. Sieht er zu mir? Ich bin mir nicht sicher. Verdammt, sei mutig. Nur einmal, sei mutig. Ich straffe die Schultern und gehe auf ihn zu.

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Na, wie wird das wohl? Schafft Harry es, ihn anzusprechen? 

Love, L 

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