Sechs Worte

Beleidigt stocherte Helena in ihrem Essen herum. Dabei roch das Rinder-Gulasch wirklich gut! Nur konnte sie sich einfach nicht darauf konzentrieren. Sie war mit ihren Gedanken immer noch bei dem gefürchteten Piratenkapitän. Dem Herrscher der Meere. Der grausamste Kriminelle.

Der im Angesicht ihres Verbotes einfach nur noch geschmollt und auf beleidigt getan hatte.

Helena fluchte lautstark und schlug mit der Faust auf den Tisch. So laut, dass sich Lou hinter ihr beim Abwasch fürchterlich erschreckte und den Teller fallen ließ. Das klirrende Geräusch ließ sie zusammen zucken und sie drehte sich schnell um. „Ohhhh, das wollte ich nicht, tut mir Leid!",entschuldigte sie sich, während ihr Herz wieder in ihre Hose sackte. Sie war aufgesprungen und beinahe schon am zerbrochenen Teller gewesen. Doch der Pirat wurde nicht laut, er lachte nur und wurde rot um die Nase. „Das kann jeden mal passieren. Ich hätte mich nicht so erschrecken sollen, alles gut! Setz dich hin und iss was!" Seinen letzten Satz sprach er allerdings mit etwas Nachdruck aus.

Die Ärztin seufzte und tat, was er verlangte. Sie wollte nicht, dass der Koch sauer auf sie wurde und er hatte recht. Sie sollte etwas in den Magen bekommen. Wer wusste schon, wann sie das nächste Mal etwas bekam? Vielleicht hatte Lou auch nur eine Laune und fütterte sie durch. Sobald er kein Interesse mehr an ihr hatte... dann musste sie hungern.

Verdammt, sie traute diesem Frieden nicht!

„Wie kann das nur sein ...", murmelte sie leise und tunkte ihren Löffel in das Gulasch. „Mh? Was denn?", fragend unterbrach der Rundliche seine Aufräumaktion. „Ich wundere mich nur, wie gut du das Essen hinbekommst!",erwiderte Helena als Notlüge. Zum Glück konnte er ihre feuerroten Wangen gerade nicht sehen. Schnell schaufelte sie sich der Überzeugung wegen ein paar Löffel Gulasch in den Mund.

Sie hatte trotz der Notlüge recht. Wieder einmal hatte sich Lou selbst übertroffen und sie hörte nicht mehr auf zu essen, bis der Teller leer gekratzt war. Hinter ihr lachte Lou erneut. Dabei klang er wirklich herzlich, aber auch ein wenig amüsiert. Als er sich neben sie setzte, konnte sie sehen, dass seine Wangen etwas rot angelaufen waren. „Ach weißt du, ich koche einfach gern. Ich habe schon viele Länder bereist und mir von den Besten ihre Tipps und Tricks geben lassen."

Die Schwarzhaarige hielt inne und musterte den grinsenden Koch. „In wie vielen Ländern warst du denn?", fragte sie ehrlich neugierig. Immerhin hatte sie einen ähnlichen Gedanken in ihrem Medizinstudium bekommen und reiste damals auch in ein paar Ländern zu den Top Ärzten, um ihnen auf die Finger zu sehen und sich ihr umfangreiches Wissen anzueignen.

Lou kratzte sich am Kinn. „Lass mal überlegen... in fast allen. Nur Afrika hab ich komplett außen vorgelassen und Madagaskar... naja eigentlich alle Gebiete, wo es diese großen, giftigen Spinnen gibt." Helena hob eine Augenbraue. „Weißt du, es gibt eigentlich über-" „Ja ich weiß! Sprich es nicht aus! Spinnen sind ekelig! Hässlich! Einfach igitt!", unterbrach Lou sie und regte sich ein wenig über die Tiere auf. Dabei gestikulierte er wild und wurde immer roter im Gesicht.

Die Nummer 2 der Top Ärzte auf der Welt besah sich das Schauspiel eine kleine Weile, bis sie nicht anders konnte und kicherte. Dabei legte sie eine Hand vor ihrem Mund und doch kamen die Laute deutlich hörbar raus. Sie konnte es nicht verhindern! Aber Lou sah einfach so niedlich dabei aus, wie er sich über Spinnen aufregte.

Ihr Kichern sorgte dafür, dass die Wangen des Piraten noch schlimmer glühten. Er bedeckte das Gesicht mit seinen Händen und drehte sich wohl peinlich berührt weg. „Mensch Helena...! Bitte, diese Monster sind einfach..."„Niedlich?", antwortete sie spöttisch. Kurz darauf bereute sie ihren Ton und sah ihn mit großen, vor Schreck geweiteten Augen an. Sie hatte sich einfach so hinreißen lassen! Das ... das!!!

Aber Lou bemerkte es nicht. Zumindest tat er nichts weiter als aufzustehen und sich weiter über die Tierchen aufzuregen. Vor allem darüber, wie sie die Spinnen bezeichnete. Jedoch verlor er dabei kein einziges Wort über ihren Spott.

Helena legte den Kopf auf den Tisch und seufzte innerlich. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm!

Eine sich öffnende Tür kündigte einen neuen Besucher in der Schiffsküche an. Die schweren Schritte sowie der leicht rauchige Geruch enttarnten den Gast sehr schnell. „Ah, Ben. Was gibt's?", begrüßte Lou den Vizekapitän, während sich Helena stocksteif hinsetzte und blinzelnd ihren Blick auf den Grauhaarigen richtete.

Beckmann murrte nur als Antwort und setzte sich auf den Platz, auf dem zuvor Lou gesessen war. „Wie geht's dem Boss?", fragte er ohne Umschweife mit kalter Stimme. Und Helena war sich wieder bewusst, warum diese Piraten so schrecklich waren, wie sie nun mal dargestellt wurden! Genau wegen ihm! Und wegen diesem Verhalten! Und eigentlich war er trotzdem noch zu nett dafür!

„Gut. Keine Infektion. Keine Nachblutung. Keine weiteren Vorkommnisse. Normale Heilung. Normales Schmerzempfinden.", ratterte sie automatisch und professionell von sich, ohne ihre wirren Gedanken zu verraten. Sie bekam keine Antwort, nur ein Nicken. Das genügte ihr und ihre Muskeln lockerten sich ein klein wenig. Nur für den nächsten Satz doppelt so angespannt zu werden.

„Dann ist das Gröbste wohl überstanden."

Sechs Worte.

Ein Satz.

Ein Satz, der ihr Herz für einen winzigen Moment zum Stillstand brachte. Helena hielt die Luft an, ihre Augen zuckten automatisch an Bens Seite. Dort, wo seine Pistole befestigt war. Oder... würde er sie einfach über die Reling ins kalte Meereswasser werfen?

Eine minimale Bewegung seiner Finger und sie zuckte fürchterlich zusammen. Als sich sein Blick mit dem ihren traf, war sich Helena C. Cronwell zu 100 % sicher, dass er dasselbe dachte wie sie. Exakt das selbe.

Ob er mit Shanks schon gesprochen hatte? Über ihren Wunsch auf einen schnellen, schmerzhaften Tod? Oder war es dem Vizen egal? Durfte es ihm egal sein? Jetzt verwünschte sie sich plötzlich dafür, so ehrlich mit dem Rothaarigen darüber gesprochen zu haben. Vielleicht wollte er sie ja einfach aussetzen und sich selbst überlassen. Jetzt hatte sie ihm quasi den Freifahrtschein für ihren Tod gegeben.

Als ob sie da eine Wahl gehabt hätte...

„So ein Glück! Dann geht's dem Boss wirklich schon besser. Ich hab mir echt Sorgen gemacht, genauso wie Yasopp und der Rest!" Lous glückliche Stimme sorgte wie ein Eimer kaltes Wasser. Bedröppelt drehte sich Helena sowie auch Ben zum Schiffskoch um und sahen den rundlichen Mann an. Er grinste wie ein Honigkuchenpferd und klatschte in die Hände. „Helena! Sag, wann darf er wieder feste Nahrung zu sich nehmen? Und was genau? Dann zaubere ich ihm das Beste vom Besten! Und er wird bestimmt auch bald wieder einen guten Tropfen trinken wollen!" Lou lachte lautstark. „Auch wenn er das wohl nicht sollte."

Komplett überfordert mit der Situation starrte Helena wortlos den Braunhaarigen an, während neben ihr Beckmann nur seufzte und den Kopf schüttelte. „Wenn er zu ungeduldig ist und aufsteht, dann könnte alles gar kein schönes Ende nehmen. Also setz ihm am Besten keine Flausen in den Kopf. Warte ab, bis unsere Geisel hier das okay gibt." Seine rauen Worte sorgten für Gänsehaut auf Helenas Rücken, gleichzeitig verstand sie seine Worte so, dass sie noch ein wenig Galgenfrist bekam.

Lou dagegen passte ihr Spitzname von Ben gar nicht. „Du kannst sie doch nicht so nennen! Sie hat einen Namen! Und sie hat den Boss das Leben gerettet." „Nicht freiwillig, vergiss das nicht. Mir gefällt eh nicht, wie sorglos du mit ihr umgehst. Sie könnte dich..." „Ja?! Was könnte sie?! Mich fressen? Ben, hüte deine Zunge!" Helena blinzelte erschrocken als sie Lou wütend erlebte. Der Koch sah plötzlich so gar nicht mehr freundlich aus. Seine ganze Mimik hatte sich verändert und erhob drohend eine Pfanne. „Ein Wort und du fliegst!", donnerte er seinem Vorgesetzten zu.

Die Schwarzhaarige schnappte leise nach Luft. Angespannt wandte sie sich an Ben, der genauso wütend drein blickte und dem Koch einen warnenden Blick zuwarf. Dabei stand erlangsam auf und baute sich vor Lou auf.

Helena konnte anhand der hochgekrempelten Ärmel Bens das Muskelspiel erkennen und wurde augenblicklich eingeschüchtert. Langsam rutschte sie von ihrem Hocker und lief auf Zehenspitzen in die andere Richtung, zur anderen Seite der großen Küche. Immerhin wollte sie nicht im Fokus, gar imZentrum ihres Streits geraten und vor allem wollte sie kein Blutbad mitansehen müssen.

„Sie ist eine Gefangene! Eine Geisel! Ein Nutzobjekt, wenn du das so willst. Sobald der Boss wieder gesundist..." „JAAA! Sobald er wieder gesund ist, passiert was?!"Lous Stimme wurde lauter. Noch aggressiver. Als ob er nicht wüsste, was dann mit ihr passierte. Sogar Helena wusste es und hatte es bereits akzeptiert. Sie ärgerte sich auch nicht mal mehr über diese Spitznamen. Immerhin hatte Ben in allen Punkten recht. Warum also wurde Lou so sauer? Er müsste es doch auch wissen, immerhin gehörte er dieser grausamen Mannschaft an!

„Dann stirbt sie! Das ist ein Gnadenakt..." „RAUS!", unterbrach der Koch seinen Vizen erneut. Die Bratpfanne hoch erhoben über seinem Kopf. „RAUS BECKMANN UND LASS DICH NICHT MEHR SEHEN!" „..."

Helena verstand die nächsten Worte nicht mehr. Sie drehte sich einfach um, sobald sie Beckmanns Hand zucken sah und flüchtete aus dem Raum. Sie fürchtete diesen Schuss viel zu stark... sie spürte die Angst in ihrem Nacken, die Panik und ja... sie fürchtete sich gerade nicht um sich selbst, sondern um Lous Leben. Sie hatte solche Angst, dass er starb... dass er abgeknallt wurde, nur weil er ihr Schicksal nicht akzeptieren wollte. Aus welchen Gründen auch immer. Allein dass offensichtlich eine Sympathie für sie hegte, machte sie fix und fertig.

„Warum Lou... warum...", wisperte Helena mit Tränen in den Augen und rannte um die nächste Ecke. Nur um gegen jemanden zu prallen und auf ihren Hintern zu landen.

Ein deutlich weiblicher Schmerzensschrei ließ die Ärztin aufsehen. Überrascht gab sie einen erschrockenen Ton von sich, als sie einer jungen Frau gegenübersaß, die sie dank des Zusammenstoß auf den Boden befördert hatte. Helena glaubte ihren Augen nicht. Völlig überfordert bekam sie nicht einmal eine Entschuldigung hervor, dann hörte sie einen aggressiven Schrei von Lou. Sie zuckte zusammen, während sich die fremde Frau aufrappelte. „Sie streiten sich, oder?", fragte sie.

Helena konnte nur atemlos nicken.„Diese Idioten. Du wartest hier, ich komme gleich!" Die Rothaarige sprang sofort auf, dann war sie auch schon in Richtung der Schiffsküche verschwunden und hinterließ eine völlig verwirrte Helena.

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