Ihr Grab
Nach einer dringend benötigenden Mahlzeit hatte Lou ihr das sogenannte „Deck" gezeigt, um frische Luft zu schnappen. Im Prinzip war das nichts anderes, als aus den vielen Gängen des Schiffes unter das Sonnenlicht zu treten. Helena blinzelte gegen den hellen Sonnenschein an und trat an die„Reling". Ein weiterer Seemanns-Begriff für das Geländer, welches sie davon abhalten sollte, vom Schiff ins Meer zu fallen.
Das Metall war kalt und rau unter ihrer Handfläche. Gedankenverloren strich sie über das vor Salz verkrustete Geländer und lief ein wenig am hinteren Deck herum. Lou hatte ihr zwar alle verschiedenen Decks erklärt, aber sie konnte sich keinen weiteren Begriff merken. Ihr Kopf war einfach zu vollgestopft von anderen Dingen.
Zum Beispiel machte sich ihr Kater wieder bemerkbar. In Kombination mit dem Abklingen des Adrenalins, dass sie auf die Beine gehalten hatte, fühlte sie sich wahrlich schrecklich. Helena stöhnte leise, stützte sich mit den Ellbogen auf der Reling ab und ließ ihren Kopf hängen. Ihre schwarzen Haare fielen ihr ins Gesicht und schützten ihre Augen vor dem grellen Sonnenlicht.
Ihre linke Hand machte sich bald selbstständig, griff in ihren Nacken und massierte diesen. Die Verspannungen, die sie schon immer hatte, wurden dank der letzten Tage noch grässlicher. „Verfluchter Mist.", murmelte sie leise vor sich hin und öffnete ihre Augen wieder. Unter sich erkannte sie das Meer und die seichten Wellen, die an das Schiff prallten. Eine Zeit lang beobachtete sie das Spektakel, bis sich ihr Rücken meldete und sie sich wieder aufrecht hinstellte. Langsam balancierte sie ihr Gewicht bei dem Wellengang, bis sie ihren Rücken durchstreckte und ihren Körper ein wenig dehnte.
Ihre Gedanken hatte Helena vollkommen abgestellt. Sie dachte an nichts, während sie ihre Knochen etwas knacken ließ und ihre Schultern rollte. Auch ihre Finger dehnte sie ein wenig und die Beine schüttelte sie aus. Nachdem ihr gesamter Körper einmal etwas bewegt und gedehnt wurde, wandte sie sich wieder in Richtung der Tür, aus welcher sie gekommen war. Lou wollte sie abholen kommen und sie hatte eine Tür quietschen gehört.
Zumindest glaubte sie das.
Ihre Sinne ließen sie hier viel zu oft im Stich.
Doch anstatt eine geschlossene Tür oder den Koch zu entdecken, erkannte sie Ben Beckman, der an der Wand lehnte, rauchte und sie unverhohlen musterte.
Ihre Augen wurden riesig.
Ungesund schnellte ihr Puls wieder nach oben und sie musste sich mit Mühe unterdrücken, einfach davon zu laufen. Oder ihre Handflächen auf ihre Brust zu drücken, da ihr Herz offenbar wieder eine massive Leistungsstörung vorwies.
Ihre abgeschalteten Gedanken rasten, genauso wie ihr Puls. Seit wie lange war er hier? Hatte er sie die ganze Zeit beobachtet? Warum sah er sie so an? Durfte sie auch eineZigarette bekommen?
Beim letzten Gedanken runzelte sie über sich selbst die Stirn. Normalerweise brauchte sie Nikotin nicht. Sie hatte im Studium dummerweise damit angefangen, um weniger Stress zu verspüren. Automatisch hatte sie weniger Hunger und sparte somit zusätzlich Zeit für das Lernen. Irgendwann hatte sie jedoch davon abgeschworen und rauchte nur, wenn ihr etwas verdammt nah ging. Wie das Kind, welches sie vor einigen Monaten in ihrer OP verloren hatte... Eine schreckliche Situation. Jedem Arzt ging es nah, wenn man Patienten verlor. Doch Kinder waren noch schlimmer. Sie hatten das Leben noch vor sich und doch wurde der Ärztin immer und immer wieder vor Augen geführt, wie schnell ein Leben vorbei sein konnte.
Ihre Gedanken stoppten, sowie ihre Atemfunktion, als sich Beckman von der Wand abstieß und ruhig –definitiv zu ruhig! - zu ihr schlenderte. Mit einer Armlänge Abstand stellte er sich neben sie an die Reling, nahm einen letzten Zug seiner Zigarette und warf sie dann ins Meer. Dabei wehte der Wind stärker und erfasste neben Helenas Haar auch die ergrauten Haare des Piraten. Wären sie nicht zusammengebunden, hätte er jetzt genauso eine Sturmfrisur wie die Ärztin.
Für einige Zeit war es furchtbar still zwischen den Beiden. Der Pirat hatte sich dem Meer zugewandt und beachtete Helena gar nicht, während diese wie auf Kohlen ihr Gewicht nervös von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Sie konnte nichtstill stehen bleiben, nicht wenn sie nicht wusste, was der Vize vonihr wollte. Und er wollte definitiv etwas, dass konnte sie spüren!
„Ich verstehe dich nicht. Und dasgefällt mir nicht." Seine ersten Worte hätten ihr beinahe einen Herzinfarkt beschert, doch allen erwarten war er nicht laut. Seine Stimme war ruhig, neutral und völlig banal. Stirn runzelnd wandte sich Helena dem Meer zu, bis sie ihre Augen wieder auf den Piratenlegte. „Du bist nicht einzuschätzen und das macht dich gefährlich. Vielleicht magst du jetzt ein wenig Vertrauen vom Boss haben wegen dieser Aktion. Ich vertraue dir kein Stück, verlass dich drauf. "Er richtete sich wieder etwas auf, wandte seinen Blick vom Horizont ab und musterte Helena in den übergroßen Klamotten von Silky.
Dann reichte er ihr plötzlich seine Hand. Die Geste kam so unerwartet, dass Helena fürchterlich erschrak und beinahe zurückgetaumelt wäre. Nur ihre Hand, welche sich in dem Geländer festgekrallt hatte, rettete sie davor. Mit klopfendemHerzen starrte sie seine riesige Hand an und blinzelte. Es dauerte einen Moment, bis sie diese zögerlich ergriff und er wider erwarten ihre Hand nicht zerquetschte. Stattdessen schüttelte er sie einfach, wie bei einem normalen Händeschütteln.
„Trotzdem muss ich mich bei dir bedanken. Danke, dass du Scarlett gerettet hast. Sie ist allergisch gegen Bienen, will es selbst aber nicht einsehen. Ohne dein Eingreifen wäre sie erstickt."
Vor den Kopf gestoßen nickte Helena mechanisch und hob den Kopf erneut, um Ben zu mustern. Der bald ergraute Schwarzhaarige hatte seine unergründliche Miene aufgesetzt, beobachtete ihr Verhalten ebenso wie sie seines. „Du bist eine hervorragende Ärztin."
Auf dieses ernst gemeinte Lob war sie nicht vorbereitet. Normalerweise störte sie das auch nicht und sie reagierte nicht mehr darauf. Ständig hörte sie das, von allen Seiten. Von ihren Kollegen, von anderen Krankenhäusern, von Interviews, von Zeitungen. Zur Anfangszeit hatte sie sich darüber gefreut, wurde sogar rot. Doch das war schon lange fort.
Jetzt jedoch unter diesen Umständen und genau von diesem Mann dieses Lob zu hören ... färbte ihre Wangen zartrosa. Ihr Herz flatterte erneut, dieses Mal jedoch nicht vor Panik. Stattdessen fühlte sie, dass dieses Kompliment wirklich ernst gemeint war und nickte. „Danke.", erwiderte sie, zu keinem anderen Wort fähig.
Der Vize ließ ihre Hand wieder los. Ein letzter Blick zum Meer und er wandte sich von Helena ab. Er war schon beinahe bei der stählernen Tür, da stoppte er.
„Ach ja, eins noch." Er drehte sich halb zu ihr um. Der Blick, den er ihr nun zuwarf, konnte definitiv töten. Er erinnerte ein wenig an das Bild, welches sie im OP-Saal von ihm bekam. Das war der knallharte Pirat, von dem die Zeitungen und das Fernsehen immer berichteten. Der Mann, der schon hunderte, tausende Menschen auf dem Gewissen hatte und erneut immer wieder töten würde, sollte sein Boss oder die Situation es vom ihm verlangen. Und es könnte ihn nicht weniger rühren.
„Stoß mich nie wieder zur Seite. Nie. Wieder. Haben wir uns verstanden?" Seine ruhige Stimme passte so gar nicht zu seinem Gesichtsausdruck. Selbst Helena mit ihrem nicht vorhandenen Talent, Emotionen des Gegenübers lesen zu können, konnte sie seine Stimmung sehr deutlich erkennen. „Sonst werde ich dich töten." Das wollte er damit sagen.
Helena bekam gerade noch ein atemloses Nicken zu Stande. Damit war Ben Beckman zufrieden. Als wäre nichts gewesen, verließ er das Deck und ließ eine zerstörte Helena zurück. Ihre Beine waren so furchtbar weich, dass sie zusammengesunken war und nun auf der kalten Oberfläche des Bodens saß. Einzelne Tränen lösten sich und rollten ihr über die Wangen, während ihre Hände fest auf ihre Brust gedrückt waren.
Dieser Mann ...
Dieser Mann würde ihr Grab sein. Da war sie sich sicher.
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