Ein Wunsch
Der nächste Morgen begann für Helenanoch vor den ersten Sonnenstrahlen. Mit pochendem Kopf schlug siegequält die Augen auf und runzelte die Stirn. Zuerstorientierungslos fragte sie sich, wo sie eigentlich war und was siegeweckt hatte. Dann ertönte ein Schaben, gefolgt von einer sichöffnenden Tür und ihr Kopf schoss blitzartig nach rechts.
„Aufstehen. Der Boss ist wachgeworden."
Zunächst verständnislos blinzelte sieden großgewachsenen Mann an, bis ihr ein Licht aufging und sie mitMühe ein Stöhnen unterdrückte. Sie nickte, schob ihre Decke wegund stand auf. Schnell griff sie zu den Schuhen, die sie am Tag davoreinfach abgestriffen hatte und zog diese an. Danach stand sie auf undfolgte dem Vizen der Redhairs.
Zum Glück hatte Helena ein paarMinuten, bis sie das Krankenzimmer erreichten. So konnte sie ihreträgen Gedanken ordnen und ihren Nervenzusammenbruch in denHinterkopf schieben. Sie war schon immer äußerst gut im Verdrängengewesen, deshalb saß ihre Maske bereits wieder, als Ben Beckman dieTür zu seinem Boss öffnete.
„Ahhh, Besuch. Mensch Ben, das hataber lange gedauert." Die Fröhlichkeit des Rothaarigen ließHelena stutzen. Doch ein Blick genügte für sie und sie wusste, dasses ihm nicht so gut ging, wie er es wohl seinem Vizen vorgebenwollte.
Das Gesicht ihres Patienten war immernoch schneeweiß. Sein aufgesetztes Lächeln durchschaute Helenamühelos, genauso wie seine sorgenlose Miene. Er hatte Schmerzen,eindeutig.
Die Schwarzhaarige setzte sich gleichin Bewegung. Sie blendete den Smalltalk aus, suchte ihre Sachen zusammen und zog gleich eine Spritze mit Schmerzmitteln auf. Damitbewaffnet begab sie sich zu ihrem Patienten, verdrängte hierbei,dass es sich um einen sehr gefährlichen Kriminellen handelte, undnahm wortlos sein linkes Handgelenk. Er zuckte nicht einmal. Nureinen Kommentar bekam sie, den sie nicht weiter beachtete.
„Mensch, seit wann haben wir so einehübsche Ärztin an Board?"
„Sie ist unsere Gefangene.",antwortete der Schwarzhaarige trocken. „Oh?" Sie spürte denBlick des Rothaarigen auf ihr, ignorierte es und verpasste ihm durchdie gelegte Kanüle in seinem Handrücken die Schmerzmittel. Danachsah sie auf den Monitor, welcher die Herzströme anzeigte und seufzteinnerlich auf. Es hatte sich alles soweit normalisiert. Gut.
Helena wollte zum nächsten Schrittübergehen – da machte der Rothaarige ihr einen Strich durch dieRechnung. „Was auch immer du mir gerade gegeben hast... das Zeughaut rein." Seine Worte wurden immer mehr zu einem Genuschel undsie hob kurz den Blick, um ihn zu mustern. Gleichzeitig konnte sie imAugenwinkel eine Bewegung erkennen. Ben hatte seinen Finger wieder amAbzug.
„Das waren Schmerzmittel. DieReaktion ist völlig normal. Ein leicht flaues Gefühl im Magen wirdwohl auch bald auftreten." Ihre Stimme klang neutral, so wie siegehofft hatte. Mit einem Blick zum Vizen, der seine Muskeln wiederentspannte, griff sie zum Verbandsmaterial. „Ich würde jetzt dieVerbände wechseln und die Wunden überprüfen." Und den Kathederüberprüfen. Diese Arbeit wollte sie eigentlich erledigen, sobaldder Schwarzhaarige das Zimmer verließ. Allerdings sah es so aus, alswollte er bleiben.
Na großartig.
„Ach Ben, ich glaube du kannst michalleine lassen. Sie ist doch ganz nett." Die Stimme des höchstgefährlichen Kriminellen sprach genau das aus, was sich Helenagedacht hatte. Naja, bis auf den letzten Teil. Und so wie sie es sichdachte, passte es dem Vizen gar nicht. „Aber du-" Er sprach esnicht aus, erhielt aber trotzdem einen eindeutigen Blick vomRothaarigen.
Ein Seufzen ertönte, dann gab sich derSchwarzhaarige geschlagen. Einen strengen Blick zu Helena verkniffer sich nicht. „Denk an meine Worte.", fügte er ebenso hinzu undsorgte dafür, dass ihr Herz innerhalb von Sekunden doppelt soschnell schlug, als es normal gewesen wäre. Um ehrlich zu sein,erlitt sie beinahe einen Herzinfarkt, bis sie sich daran erinnerte,dass sie sowieso in der Scheiße steckte.
Sie nickte.
Aus irgend einem Grund reichte ihm dasund er verschwand. Mit dem Zufallen der Tür ins Schloss wurde ihrein klein wenig leichter ums Herz. Jetzt etwas entspannter griff siezur Decke und hob sie an. Sie schob sie erst einmal nur bis zur Hüfteihres Patienten, dann besprühte sie die Pflaster mitDesinfektionsmittel. „Du machst das verdammt gut...", nuschelteihr Patient plötzlich. Verwundert hob sie den Kopf und sah direkt inseine himmelblauen Augen. Unter anderen Umständen wäre sievielleicht darin versunken. Leider war dem nicht so.
Sie runzelte die Stirn. Eigentlichhatte sie angenommen, dass die Schmerzmittel ihn ausknocken würden.Doch er war wach und beobachtete sie. Wenn auch dabei seine Augeneher auf Halbmast hingen. „Ich bin auch eine sehr gute Ärztin.",antwortete sie schließlich und machte weiter mit der Arbeit.
Sprich, sie entfernte das Pflastervorsichtig, besah sich die Naht darunter, drückte kurz herum –dabei hörte sie ein kurzes Zischen ihres Patienten, beließ es aberdabei – und holte dann die Creme. Zufrieden klebte sie dann einneues Pflaster drauf.
Das wiederholte sie bei den anderenWunden. Akribisch beträufelte sie die umliegende Haut mit einerweiteren Salbe, dann stellte sie sich wieder gerade hin. Ein leichtesLächeln zierte ihre Lippen. Sie tätschelte sich innerlich selbstauf die Schultern, so zufrieden war sie mit dem Ergebnis. Nichts warentzündet, die Naht heilte bereits. Bis auf ein paar rote Fleckenwar alles in Ordnung und das bekam sie auch unter Kontrolle. Perfekt.
„Du bist so ruhig, obwohl du alsZivilistin neben den wohl gefährlichsten Mann des Ozeans stehst undals Gefangene gehalten wirst. Du könnest mich so leicht umbringen...ich bin quasi wehrlos. Und trotzdem pflegst du mich. Warum?"
Die leise Stimme des Rothaarige brachteihren Fokus zurück zu ihm. Sie seufzte, fixierte sein blassesGesicht und erkannte schon wieder ein ironisches Lächeln auf seinenLippen. Helena erwiderte es. „Ich hänge an meinem Leben." Siezuckte mit den Achseln, drehte sich um und räumte ihre Sachen auf.„Wie meinst du das?", fragte der Mann derweil.
Sie schnaufte. „Ihr Vize hatgemeint, wenn Sie sterben, sterbe ich auch. Deshalb. Mal davonabgesehen, dass ich wohl vorher noch sehr grausame Dinge am Leib zuspüren bekomme, sollte ich Sie jetzt umbringen." Ihreausgesprochenen Worte verdeutlichten ihr selbst auch nochmal, wiesehr sie eigentlich unter Druck stand. Ihr Zittern setzte wieder einund doch konnte sie die Panik nach hinten schieben.
„Lass das Sie weg. Ich heiße Shanks.Und du?" Seine Stimme klang immer noch so müde, aber nicht minderbeeindruckt von ihren Worten. Vielleicht hatte er es geahnt? Was auchimmer, sie hatte eigentlich nicht vor, mit ihm einen kleinen Plauschzu führen. Doch sie hatte wohl keine andere Wahl. Sollte sie sichweigern, wer wusste schon, was ihr dann blühte? Also spielte siemit.
„Helena." „Helena? Wie HelenaCrownwell, eine der Top Ärzte der Welt?" „Genau die bin ich.",antwortete sie erneut und drehte sich zu ihm um. Auf den Weg zu ihmnahm sie noch einen Eimer mit und kniete sich dann zum Beutel desKatheders, welcher an der Seite des Bettes hing. Es war deutlichZeit, diesen auszuleeren, also tat sie es und ignorierte den Geruch.
„Ben hat ernsthaft eine der bestenÄrzte der Welt entführt. Ich fasse es nicht." Er klang erstaunt.„Vielleicht Zufall. Wer weiß. Aber wäre es jemand anderesgewesen, wärst du höchstwahrscheinlich tot. Genauso wie der Arzt."Ein klein wenig hochnäsig klang das schon, das Problem war nur, dasssie wohl recht hatte.
„Mhhh. Das stimmt. Die Meisten hättensich wohl verweigert. Niemand hilft einem Kriminellen." „Ichhatte keine Wahl.", widersprach sie und stand auf. Sie schütteteden Urin in das Waschbecken, bevor sie den Eimer auswusch und danachauch das Waschbecken selbst. Dabei spürte sie die ganze Zeit seinenBlick auf sich. „Du weißt schon, dass du dich mit deinem Handelnselbst in die Schusslinie gebracht hast? Die Regierung wird das alsBeihilfe sehen. Nicht als..." Er suchte nach Worten, doch siewusste bereits, was er ausdrücken wollte.
„Ich weiß.", sagte sie ohne einenFunken bedauern in der Stimme. „Ich denke aber nicht, dass ich hierjemals wieder lebend heraus komme. Diese Hoffnung habe ich verloren,als ich von deinen Leuten mitgenommen wurde."
Sie seufzte, als sie keine Antwort mehrbekam und drehte sich wieder zu ihm um. Dabei lehnte sie sich mit vorder Brut verschränkten Armen ans Waschbecken. „Hör mal. Dort imOP-Saal war es eine „Do-or-die-Situation." Vielleichthätte ich anders gehandelt, wenn mir keine Pistole vor meinem Kopfgehalten worden wäre. Ich hätte definitiv anders entschieden, wennich von der anschließenden Entführung gewusst hätte. So viel stehtfest. Fakt ist: Ich habe geholfen. Also wird mich die Regierungebenso anklagen. Aber wer sagt, dass ich soweit komme? Spätestens,wenn ich nicht mehr von euch gebraucht werde, werde ich entsorgt. Ichkann nur hoffen, dass das ..."
Helena musste tief durchatmen, um diekommenden Worte auszusprechen. Dabei drückten sich ihre Fingernägeltief in ihre Haut. „... schmerzfrei sein wird. Das ist meineinziger Wunsch. Ein schmerzfreier Tod. Ein schneller Tod."
Sie hielt Blickkontakt. Die ganze Zeithielt sie mit Shanks Blickkontakt.
Als sie endete, verschwand seinLächeln. Ernst sah er sie an, dann nickte er langsam.
„... Das kann ich dir gewähren."
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