Allergieschock

Am nächsten Tag stand Helena mit einem rekordverdächtigem Kater im Behandlungsraum. Die kleinste Welle, die das Schiff traf, brachte sie schon aus ihrem Gleichgewicht und gleichzeitig musste sie das enorme Gefühl sich übergeben zu wollen mit all ihrer Konzentration unterdrücken. Nicht einmal geradeaus laufen konnte sie anständig, geschweige denn in helles Licht sehen. Sie wünschte sich so sehr eine Sonnenbrille, doch der Wunsch wurde ihr nicht gewährt. So wie vieles andere auch nicht.

„Gehst dir gut?", fragte ihr Patient schon zum dritten Mal, als sie sich am Waschbecken abstützte und inne hielt, um sicher zu gehen, dass sie sich wirklich nicht übergab. Dabei half ihr ein Insekt, wahrscheinlich eine Biene oder Wespe, welche am Waschbeckenrand hockte. Das kleine Ding krabbelte bis zu ihren Fingern, dann flog es davon.

„Klar.", gab sie trocken von sich. Einen Hauch zu trocken. Sie konnte ein Schnauben hören. „Ich bin zwar verwundet, aber nicht blind. Und ich war verdammt oft nach einer süffigen Nacht so drauf wie du. Du solltest ins Bett. Wer hat dich eigentlich abgefüllt?"

Konnte sie da einen Hauch Freude aus seiner Stimme hören? Sie schüttelte den Gedanken ab, drehte sich langsam um und schwankte zum Bett. „Liegen ist scheiße.", gab sie eine kurze Antwort, nahm sich das Klemmbrett und notierte die Zahlen des Monitors, welche ihr positive Nachrichten gaben. Der Rothaarige erholte sich besser und schneller, als sie zuvor angenommen hatte.

Ein Lachen ließ sie aufsehen und in Shanks strahlendes Gesicht sehen. „Das ist mir bewusst. Aber frische Luft würde dir gut tun. Du solltest eine Runde an Deck spazieren gehen, oder dich hinsetzen und ausruhen. Ich lauf dir schon nicht weg." Er zwinkerte sie an. Helena schüttelte den Kopf, nur um kurz darauf diesen mit einem schmerzhaften Brummen festzuhalten.„Ich glaube nicht, dass das Ben erlaubt... mal davon abgesehen. Was ist ein Deck?", murmelte sie, ohne überhaupt darüber nachzudenken.

Leider hatte ihr Patient das gehört, ignorierte ihre Frage und stellte selbst eine. „Ben? Warum denn?"Während Helena sich schnell umdrehte und ein „Schon gut", brummte, ratterte es wohl deutlich im Kopf des gefährlichsten Mannes dieses Kontinenten, bis er laut seufzte. „Sag mir bitte nicht, dass er sich wie-" „Ein Arschloch verhält? Oh doch, Brüderchen, das tut er. Er erschreckt Helena zu Tode! Wortwörtlich. Warum sonst hätte sie mit uns gesoffen?"

Die Ärztin zuckte ertappt zusammen, ehe sie sich zu dem neuen Besuch umdrehte und Silky musterte. Die Rothaarige grinste sie an, so als hätte sie gestern nicht mit ihr und Fina zusammen mehrere Flaschen Wein vernichtet, sondern lediglich Wasser getrunken. „Hey, du siehst echt scheiße aus. Noch beschissener als mein dummer Bruder." „Ey!", kam es von Seitens Shanks, während die Schwarzhaarige deutlich verwirrt zuerst Silky und dann Shanks musterte.

Es dauerte ein wenig bis sie verstand. Dann entgleisten ihr ihre Gesichtszüge und ihr entglitt das Reagenzglas aus ihren Fingern. Mit einem Scheppern zersprang es in tausendste Glassplitter, sobald es den Boden berührte. Nur blieb Helena weiterhin mit offenem Mund vor den beiden Rothaarigen stehen. „Das gibt's nicht.", hauchte sie.

Zuerst glaubte sie wirklich, sich verhört zu haben. Doch desto länger ihre Augen zwischen den Beiden hin und her wanderte, desto schneller erkannte sie Gemeinsamkeiten. Da wären zum Beispiel mal ihre selbe Haarfarbe, auch wenn Shanks Haare sehr viel dunkler waren, als die von Silky. Dann waren da noch ihre Augenfarben. Sie beide hatten dieses traumhafte himmelblau. Die Farbe erinnerte Helena automatisch an einen wunderschönen Sommertag am Strand. Keine Ahnung warum.

„Hallo? Erde an Helena? Bei allen... haben wir dich kaputt gemacht?" Silkys winkende Hand direkt vor Helenas Augen ließ sie blinzeln. Die Schwarzhaarige legte ihren Fokus auf die junge Frau direkt vor ihr, die sich ihr genähert hatte, ohne dass Helena das überhaupt registriert hatte. „Ich funktioniere noch, danke." Ihre Antwort brachte Silky zum Kichern und sie verdrehte die Augen. „Die Antwort kann ja nur von dir kommen. Aber ernsthaft, alles gut? Ich dachte eigentlich, ich hab dir das gestern schon gesagt... naja egal. Ja, er ist mein dummer, großer Bruder." „HEY!", beschwerte sich Shanks erneut aus dem Hintergrund. „Jetzt sei mal still!", zischte die Rothaarige zurück und seufzte. „Jedenfalls ist das unwichtig. Ich wollte nachsehen, wie es dir geht. Du sahst nicht wirklich gut aus letzte Nacht. Leider hat dich Ben ja gefunden..."

Der Gedanke an den hasserfüllten Blick des Vizen löste bei Helena eine kalte Gänsehaut aus. Sie schüttelte sich. „Ja...", brummte sie, verdrängte die jämmerlichen Bilder, wie er sie einfach über seine Schultern schmiss, von den beiden Frauen davon trug und in ihre Kajüte verbannte. „Hat er dir weh getan?", die besorgte Stimme von Silky brachte sie wieder ins Hier und Jetzt. Sie schüttelte nur den Kopf, während Shanks schnaufte. „Als ob er so was tun würde."

Während sich Silky wütend zu ihrem Bruder umdrehte, holte sich Helena Schaufel und Besen und kehrte die Glassplitter sorgsam zusammen. „Hast du ihn schon mal beobachtet? Er bestraft Helena immer mit einem wütenden Blick! Er lässt sie kaum aus den Augen, sie darf laut Lou nicht mal eine Pause einlegen. Ohne Lou wäre sie letztens zusammengeklappt, weil sie nicht mal was zum essen bekommen hat! Er setzt sie so unter Druck und bedroht sie mit ihrem Leben! Und er will-"

„Ist schon gut, Silky. Danke.",unterbrach Helena sie bestimmend und schmiss die Scherben in den Mülleimer. „Ich bin immerhin eure Gefangene. Du brauchst dich nicht für mich einsetzen." Die Schwarzhaarige verstand sowieso nicht, warum sich die Rothaarige so für sie einsetzte. Das selbe galt für Lou. Es war lieb gemeint, aber warum sollten sie ihr was vorspielen? Sie war immerhin eine Geisel und nur hier, weil sie noch gebraucht wurde.

„Nein, das ist es tatsächlich nicht. Was wolltest du sagen, Silky? Das würde mich wirklich brennend interessieren." Shanks plötzlicher Stimmungswechsel von ausgelassen zu tot ernst erschreckte Helena erneut. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht drehte sie sich zum Boss der RedHairs um, während Scarlett neben ihr einfach nur tief Luft holte. „Er will sie wohl loswerden, sobald du wieder einigermaßen gesund bist."

Die Stille danach war unerträglich.

Helena traute sich nicht einmal wirklich zu atmen. Ihre Hand hatte sich um den Besen verkrampft, während sie auf die Antwort des Rothaarigen wartete. Auch wenn sie diese eigentlich schon kannte. Deshalb war es für sie auch nichts neues und sie wendete sich ab, um ein weiteres Reagenzglas mit dem abgenommenem Blut von Shanks zu füllen, um dieses ein paar Proben zu unterziehen, während er mit seiner Schwester sprach.

„Da liegt er nicht falsch." Die Worte schlugen Helena auf den Magen und doch zwang sie sich, einfach weiter zu arbeiten. „Was meinst du damit?!", erwiderte Silky in einem ziemlich aggressiven Tonfall. „Ganz einfach. Ben hat sie gefangen genommen. Sie ist nicht freiwillig hier. Was wenn-" „Du willst sie nicht ernsthaft töten, wenn das hier vorbei ist, oder?! Gott verdammt, sie hat dir dein jämmerliches Leben gerettet." „Nicht freiwillig.", warf Helena zu leise ein, denn die zwei Rothaarigen stritten einfach weiter und wurden immer lauter.

„Es war nie geplant gewesen!" „Ach und jetzt willst du sie als Dank danach einfach killen?!" „Wäre es so viel besser, sie einfach auszusetzen?!" „NEIN natürlich nicht!" „Und was sonst, Scarlett?! Die Regierung wird sie nicht einfach so davon kommen lassen! Sie würde als Beihilfe eines Kriminellen ins Gefängnis kommen oder schlimmeres." „Ach und da findest du, wäre eine Kugel also ein Akt der Gnade!? Verdammte Biene, lass mich in Ruhe!" Der letzte Satz flog mit so einer Inbrunst durch den Raum, dass Helena aufsah.

Ihr Kopf war noch nicht mal ganz bei Silky, da hörte sie ein Klatschen gefolgt von einem Fluch und ein Röcheln. „Ich hab das Mistvieh verschluckt!" Die Rothaarige fluchte, nahm ihre Hand von ihrem Hals, nur um sich wieder an Shanks zu wenden, als wäre nichts gewesen. „Ich sag dir eines, solltest du..." „Hat das Teil dich gestochen?", fragte der Rothaarige, ohne sich auch nur im Ansatz für ihre Worte zu interessieren. „Was weiß ich, ist doch egal..." „Ist es nicht...! Du hattest schonmal..." Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden.

Silky griff sich an ihren Hals und hustete, bevor sie plötzlich zu Zittern anfing und zum Waschbecken wankte.

Alarmiert sprang Helena auf. Genau im richtigen Moment erreichte sie die junge Frau, denn Silky sank einfach so in sich zusammen. Die Schwarzhaarige schaltete sofort um. Sie umfasste die Rothaarige fester, umschlang ihre Hüfte und führte sie zum zweiten Bett.

Sie setzte Silky auf die Bettkante und kniete sich vor sie hin. „Kannst du mich hören? Du musst atmen. Wie fühlst du dich?" Sie bekam keine Antwort. Nur ein schweres Röcheln, dann würgte Silky, doch es kam nichts raus. Helena schob ihre Augenbrauen nachdenklich zusammen, dann stellte sie sich hin, legte Silkys Körper flach auf das Bett und schnappte sich ein großes Kissen, um ihre Beine nach oben zu legen. Dabei tastete sie nach dem Hals und bemerkte, wie schnell dieser anschwoll. „Kein-eL-l-luft...", wisperte die Rothaarige.

Ein Ruck ging durch die neue Patientin und sie wäre Helena beinahe vom Bett gefallen, da sie sich auf die Seite drehen wollte. Nur dank ihrer schnellen Reflexe fing sie sie auf und drückte sie wieder zurück in die richtige Position auf das Bett. „Was ist los?", fragte Shanks hinter ihr gehetzt, doch Helena hatte jetzt deutlich andere Probleme. Sie beobachtete Silky noch für eine halbe Minute, ehe sie sich entschied und handelte.

„Anaphylaktischer Schock.",informierte sie nur knapp, dann rannte sie quer durch den Raum. Sie öffnete eine Tür, stand nun in einem gut eingerichteten Arztzimmer. Schnell fand sie das, was sie brauchte, kehrte zurück zu Silky, die bereits mehr als nur röchelte.

„Okay, Süße. Du musst jetzt tief ein und ausatmen.", informierte sie sie, wusste zeitgleich jedoch, dass Silky nicht mehr ansprechbar war. Das war nur reine Routine. Mit einem Blick zur Uhr wusste Helena, dass es auf jede einzelne Sekunde ankam. Sie legte Silky richtig hin, stellte sich an ihren in den Nacken gelegten Kopf und legte die Schläuche neben sich. Ihre Hände hatte sie bereits desinfiziert, schnell zog sie noch die Handschuhe über. Dann begann sie eine endotrachealen Intubation.

Dabei führte sie mit ruhigen Händen einen Schlauch zur Beatmung in die Luftröhre von Silky. Dabei verwendete sie einen Laryngoskop*, mit dessen Hilfe sie auch die Zunge in die richtige Position schieben konnte.

Normalerweise war eine Intubation nur von Nöten, wenn der Patient künstlich bei einem operativen Eingriff behandelt wurde, oder eben bei einer Wiederbelebung. Hier jedoch bekam Silky aufgrund der Anschwellung ihres Hals keine Luft. Ihre Luftröhre wurde zugedrückt und Helena musste die Atemwege sichern, ohne einen Luftröhrenschnitt zu riskieren. Denn das würde in den meisten Fällen Langzeitfolgen mit sich ziehen.

Es benötigte Fingerspitzengefühl, den richtigen Weg zu finden. Am Ende landete der Schlauch nicht in der Lunge, sondern in der Speiseröhre und sie würde versehentlich noch Luft in den Magen pumpen.

Mal davon abgesehen, ob sie nicht schon zu spät war und die Luftröhre zu zugeschwollen war. Oder dass sie hier gerade blind und ohne Assistent versuchte, eine Intubation durchzuführen. Doch Helena war die Top 2 unter den Ärzten aller Welt, sie hatte sich noch nie vor einer Herausforderung gedrückt!

„Was ist hier los?", hörte sie nach einigen Minuten, in denen sie langsam den Schlauch Stück für Stück eingeführt hatte von der Tür. Sie sah nicht auf. Sie blendete einfach alles und jeden aus, nur sie und ihre Patientin zählte. Als sie jedoch neben sich Ben stehen sah, ging ihr etwas durch den Kopf. Er hatte damals doch bei Shanks auf ihrem OP-Tisch behauptet, er kenne sich etwas mit dem ganzen Kram aus. „Ich brauche 5 mg Antihistaminikum und flüssiges Adrenalin, um die allergische Reaktion einzudämmen. Außerdem muss die Maschine zur künstlichen Beatmung eingestellt werden. Jetzt!" In einer anderen Situation hätte sie ihre herrische und oftmals als diktatorisch bezeichnete Stimme bestimmt nicht an Ben gerichtet, doch ihr fiel es gerade gar nicht auf.

Stattdessen wendete sie sich schon wieder ab, nur um im nächsten Moment nach dem Ballon zu greifen, mit dessen Hilfe sie Luft in die Lunge pumpen könnte. Und siehe da. Helena jubelte insgeheim, nachdem sie ihr Ohr auf die Brust von Silky gepresst hatte und die richtigen Geräusche hören konnte.

Seufzend stützte sich Helena wieder etwas auf, nur um neben sich immer noch den deutlich verwirrten Ben zu sehen. „Herrgott, muss ich alles alleine tun? Dann übernimm du hier wenigstens, und nicht zu viel oder zu schnell, klar?! Ich will nicht, dass ihre Lunge explodiert." Ohne überhaupt auf seine Antwort zu warten, drückte sie ihm kurzerhand den Ballon entgegen, dann sprintete sie schon los und zog eine Spritze mit Antihistaminikum und Adrenalin auf. Die Mittel hatte sie schnell verabreicht und genauso schnell hatte sie die Beatmungsmaschine zu Silkys Bett gezogen, diese angeschaltet, richtig eingestellt und schlussendlich an Silky selbst angeschlossen.

Den Grauhaarigen hatte sie dabei einfach nur unsanft weggestoßen, da er ihr im Weg stand.

Nachdem sich Helena dreimal versichert hatte, dass sie genug Mittel gespritzt hatte und Silkys Brust sich regelmäßig hob und senkte, atmete sie durch und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Ich würde mal sagen: Erfolg auf ganzer Linie."



oooOooo



*Ein Laryngoskop ist ein medizinisches Hilfsinstrument zur Betrachtung des Larynx (Kehlkopfs), das vor allem in der Anästhesie, in der Rettungs- und Intensivmedizin, sowie in der HNO-Heilkunde eingesetzt wird.

Ich hoffe mal, das war nicht zu übertrieben fachlich ^^°

Danke dabei noch mal an Galaxyskipper, die mir die nötigen Infos gegeben hat ^^

lgtiger

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