Konkurrenz

„Setzt die Hexe ab! Jagt sie aus der Stadt!" Ich zucke zusammen, als der Schrei unmittelbar neben mir ertönt. Mit meinen Hundeohren höre ich das noch lauter als die Menschen und anderen Fabelwesen.

„Du bist wohl verrückt, warum sollten wir das das tun?" Genau das ist auch mein Gedanke, den die Klöpplerin da laut ausspricht. Am Anfang sind ja viele nicht einverstanden gewesen mit der neuen Hexe, deren Methoden so ganz anders sind als die ihrer Vorgängerin. Aber nach fast drei Jahren sollte es eigentlich auch der letzte Dorfdepp begriffen haben, dass Isovre mehr für die Stadt getan hat als je eine Stadthexe zuvor in ihrem ganzen Leben.

Die Forderung, die Hexe zu ersetzen, ist schon lange nicht mehr aufgekommen. Umso mehr verwundert es mich, dass es jetzt wieder dazu kommt. Meines Wissens ist in der letzten Zeit nichts vorgefallen, was das rechtfertigen könnte.

Der Schreihals, ein stämmiger Mann mittleren Alters mit dichtem Fell und kleinen, runden Ohren weit oben am dicken Kopf, wendet sein Gesicht mit der kurzen Schnauze der Klöpplerin zu und schnauzt: „Wir brauchen keine böse Hexe mehr, wenn wir jetzt eine gute Fee in der Stadt haben!"

Eine junge Frau, der schlichten Kleidung und den zerschlissenen Schuhen nach aus dem Nebelviertel, mischt sich ein: „Was die Hexe kann, wissen wir alle! Diese Fee kenne ich nicht und warum soll ich einer Fremden trauen!"

Der Bärserker wirft ihr einen verächtlichen Blick von oben zu. „Die Hexe ist auch nicht von hier. Die ist von irgendwo aus dem Süden!"

„Aber sie tut viel Gutes für die Stadt", der Gemüsehändler, der gerade Nothas umfangreiche Bestellung für mich zusammenpackt, kann nun auch nicht mehr stumm zuhören. „Es ist nun viel besser hier zu leben."

„Sie tut nicht genug!" Der Bärserker rümpft die Schnauze, die sich für Menschen eigenartig in dem menschlich anmutenden Gesicht ausmacht. Für mich als Höllenhund, der in dieser Stadt der Gegensätze aufgewachsen ist, ist das eher normal. Mir wäre ein Ort, in welchem nur eine Art lebt, weit unheimlicher als diese Ansammlung von Menschen und allen möglichen Fabelwesen, die hier üblich ist. 

„Sonst würde diese Frau hier nicht in Lumpen herumlaufen und du müsstest nicht deinen Sohn bitten, die Rechnungen für dich zu schreiben!", fährt der Bärserker fort. Er scheint es für eine gute idee zu halten, die Leute, die er auf seine Seite ziehen will, erst einmal zu beleidigen.

Der Gemüsehändler zuckt die Achseln. „Vermutlich bin ich zu alt, um noch Schreiben zu lernen. Hab's ja mehrmals versucht, aber nichts begriffen. Aber es freut mich, dass jetzt unsere Kinder die Möglichkeit dazu haben und von klein auf mit diesem Kringeln und Linien aufwachsen. Dafür hat die Hexe gesorgt und ich bin ihr dankbar dafür. Warum also sollten wir deine Petition unterschreiben?"

Jetzt erst sehe ich, dass der Bärserker eine lange Liste auf einem Klemmbrett mit sich herumschleppt. Solche Klemmen, mit denen man das Papier auf dem Holzbrett fixiert, habe ich schon viele hergestellt und mich schaudert es bei dem Gedanken, dass auch diese hier vielleicht von mir sind und nun einem so absurden Zweck dienen müssen.

Seit Stadtvorsteher Melchton das Mitspracherecht für alle Bürger eingeführt hat, kann jeder, der des Lesens und Schreibens mächtig ist, eine sogenannte Petition schriftlich niederlegen und Unterschriften dafür sammeln. Ab tausend Unterschriften wird diese Petition im Rathaus unter die Lupe genommen und der Ratsversammlung vorgelegt. Dann kann sie abgelehnt, angenommen oder – was am häufigsten der Fall ist – der gesamten Stadtbevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden.

Auf diese Weise ist es vor kurzem durchgesetzt worden, dass alle Kinder der Stadt für vier Jahre eine öffentliche Schule besuchen müssen. Weder Privatlehrer noch die Notwendigkeit, die Eltern bei der Arbeit unterstützen zu müssen, bewahrt die Kinder davor. Das beschert den Kindern vier Jahre Lernen in einer gemischten Gemeinschaft – alle öffentlichen Schulen lehren sowohl Menschen als auch Fabelwesen und stellen die Lerngruppen nach Alter und Bildungsstand zusammen, nicht nach Art -, unbeschwerte Zeit, in welcher sie nicht bereits von frühem Kindesalter als billige Arbeitskräfte genutzt werden und die Möglichkeit, mit Hilfe des dort Erlernten ihr Leben selbst in die Hand nehmen zu können.

Ich halte das für eine sehr wichtige Neuerung und bin überaus erleichtert, dass der weitaus größere Teil der Bewohner dem zugestimmt hat. Weder haben die hohen Herrschaften auf den Rosenhügeln und an den Strandwegen auf ihren Vorrechten beharrt noch die Ärmsten im Nebelviertel geltend gemacht, dass sie ohne den Beitrag der Kinder ihre Familien nicht durchbringen.

Auch das ist ein Zeichen dafür, dass unsere Stadt immer mehr zusammenwächst und zu dem wird, was sie in den Augen vieler Außenstehender bereits ist: die einzige Stadt des Kontinents, in der Fabelwesen und Menschen in friedlichem Miteinander leben.

Der Bärserker sieht das aber ganz anders. „Die Hexe befiehlt uns, was wir tun sollen und Oberrat Melchton gehorcht ihr und lädt die Last und die Verantwortung dann auf seinen Untergegebenen ab. Selbst tut sie nichts, um unser Los zu verbessern."

Was für ein Unsinn! Der Bärserker sollte mal bei unseren monatlichen Treffen dabei sein. Seit ich damals der Stadt die entführte Hexe wiederbeschafft und dabei so einige Missstände aufgedeckt habe, lädt Melchton mich, die Hexe Isovre, meinen Meister Engal, den Sphinx Udero, die Ärztin Sarode, die Waisenmutter Aelles und Kommissar Zawei einmal monatlich zu einem Essen ein, bei welchem die Lage in der Stadt besprochen wird. Und bei dem sich Isovre und Melchton immer wieder mal mit ihren gegensätzlichen Meinungen gründlich in die Haare bekommen. Von wegen, er tut, was sie sagt. Obwohl Melchton grundsätzlich auf Isovres Seite steht, wenn es um Verbesserungen für die Bürger geht, misstraut er den Konzepten, die sie aus dem Süden mitgebracht hat und von denen nicht alle für uns geeignet sind.

„Veränderungen müssen nun einmal allmählich kommen und von allen gemeinsam bewirkt werden", stellt die Klöpplerin fest und steckt weitere Nadeln auf ihrem Kissen fest. „Das geht nicht von heute auf morgen."

„Aber genau das sollte eine Hexe meistern können!" Der Bärserker lässt sich nicht beirren. Das liegt wohl auch daran, dass sich um uns mittlerweile eine Gruppe von Zuhörern gebildet hat, die diese Debatte angelegentlich verfolgen. Den Mienen und dem Gemurmel nach gibt es da so einige, die dem Bärserker zustimmen.

„Eine Hexe kann zaubern, aber sie lässt sich dafür bezahlen und wenn sie nicht will, dann hilft sie eben nicht. Eine gute Fee ist bestrebt, die Wünsche der Leute zu erfüllen und sie lässt sich nicht lange bitten. Ich gehe lieber zu Renalati als zu Isovre und ihr solltet das auch alle tun!"

Den Namen Renalati habe ich in der letzten Zeit öfters gehört. Sie hat vor einigen Wochen eines der besseren Stadthäuser bezogen und sogleich überall verkündet, dass sie eine gute Fee ist und ihre Zauberkraft nun allen Stadtbewohnern zu Gebote stünde. Ohne die Zustimmung der Stadträte allerdings darf sie nicht wie die Hexe offen praktizieren und sich auch nicht in die Belange der Bewohner einmischen.

Die Bürger haben sich ihr nur zögerlich genähert, was ich durchaus verstehen kann. Zwar leben hier Wesen aller Art, aber eine Fee ist uns noch nie begegnet, geschweige denn eine „gute Fee". Allein die Bezeichnung hat mich sofort gestört, denn „gute Fee" assoziiert automatisch auch „böse Hexe". Und von böse kann bei Isovre absolut keine Rede sein.

Isovre selbst hat dazu nur gemeint, dass sie und Renalati sich ja dann die Arbeit teilen könnten. Aber ich habe von Anfang an den Eindruck gehabt, dass die Fee sich eher als Konkurrenz zur Stadthexe sieht. Und die Leute in der Stadt scheinen diese Auffassung zu teilen. Die meisten gehen weiterhin zur Hexe, nur wenige schleichen sich nachts zur Fee und bitten sie um Beistand.

„Und was verlangt die Fee für ihre Hilfe?", fragt jemand aus der Menge, die immer größer wird.

„Fast nichts", erklärt der Bärserker. „Man muss ihr nur einen Kuss geben. Auf die Hand oder die Wange, das ist egal. Und das ist ja wirklich nicht zuviel verlangt!"

„Und was kann sie?", will ein anderer wissen.

„Alles! Du erzählst ihr von deinem Leben und was du anders haben möchtest und sie schwingt ihren Zauberstab über dir und erfüllt dir deinen Wunsch!" Der Bärserker wendet sich an die Kundin hinter mir. „Du möchtest doch sicher bessere Kleider tragen und dir öfters Fleisch leisten können? Oder in ein schöneres Haus ziehen? Das kann sie bewirken, einfach so!"

Die junge Frau schüttelt den Kopf. „Ja, das möchte ich durchaus. Meine Schwester und ich bauen uns gerade eine eigene Werkstatt auf und es haben uns schon viele ihre Kundschaft zugesagt. Ich denke, in einigen Jahren werden wir uns ein Steinhaus leisten können und unsere zugige Hütte verlassen."

Der Bärserker glotzt sie verständnislos an. „Und das ist dir lieber? Jahre voller Mühsal und Arbeit? Die gute Fee kann dir einen reichen Mann beschaffen, der dir alles zu Füßen legt, was er besitzt! Dann könntest du dir diese Wünsche sofort erfüllen."

„Ja, und ich habe dann einen Mann auf dem Hals", schnappt die Frau. „Danke nein, ich will gar keinen. Und ich will mir mit meiner eigenen Hände Arbeit verdienen, was ich brauche. Dann kann ich stolz drauf sein."

„Das sehe ich auch so!" Jetzt kann ich nicht mehr still zuhören. Obwohl ich nun nicht mehr so verächtlich behandelt werde wie früher, steckt es mir immer noch in den Knochen, mich ja nicht einzumischen, wenn andere Leute etwas ausdiskutieren. Zu oft habe ich mir anhören müssen, dass niemand auf die Meinung eines Höllenhundes Wert legt.

Der Bärserker bedenkt uns mit einem beinahe väterlichen, auf jeden Fall herablassenden Lächeln. „Das hört sich ja nett an, aber es ist einfach nur dumm. Wer würde denn Arbeit und Plagen vorziehen, wenn er es viel bequemer haben kann? Sieh dich doch nur an, Navlin! Du solltest längst schon deine Lehre beendet haben und dich selbstständig machen können. Aber statt dich freizusprechen, lässt dich Engal weiter schuften und für seine Schwägerin die Einkäufe machen!"

Es wundert mich nicht, dass der Bärserker mich erkannt hat. Seit den Ereignissen vor zwei Jahren, welche zu den Veränderungen in unserer Stadt geführt haben, bin ich in Venla bekannt wie ein bunter Hund. Was ich ja genaugenommen auch bin. Als Höllenhund bin ich ein Hundewesen, welches in seiner Hundegestalt braunweißes Fell aufweist und als Mensch ebenso gefärbtes Haar. Bunt eben.

„Quatsch! Ich will alles lernen und darum ist meine Lehrzeit länger als die von denen, die nur eins können wollen." In Meister Engals Schmiede wird Drahtziehen, Blechwalzen, Waffen- und Rüstungen schmieden, Kesselherstellung, Nägel fertigen, Hufe beschlagen und noch vieles mehr ausgeführt und gelehrt. Ein Kesselschmied hat nach zwei Jahren, ein Waffenschmied nach drei Jahren ausgelernt; ich hingegen habe mich für sieben Jahre verpflichtet.

„Und die Einkäufe hole ich nur ausnahmsweise, weil es heute so viel ist und die Frauen das alles nicht schleppen können." Ich bin zwar nur ein Hund, aber so groß wie ein Werwolf – oder ein Bärserker. Jetzt in meiner menschlichen Gestalt muss ich sogar den Kopf ein wenig beugen, um dem Mann vor mir in die Augen zu sehen. Und dank der vier Jahre, die ich in Meister Engals Schmiede verbracht habe, besitze ich trotz meiner Hagerkeit – gegen die Isovre noch immer ankämpft – die eisenharten Muskeln, die Schmieden nun einmal zu eigen sind.

„Renalati könnte dir das Wissen anzaubern, welches du für den Freispruch brauchst", behauptet der Bärserker. „Und dafür sorgen, dass du eine eigene Schmiede hast und eigene Gesellen, die du nur noch beaufsichtigen musst."

„Was und nie mehr selbst mit Metallen arbeiten? Das wäre ein Alpdruck, schlimmer als ein Drudentraum!" Ich bin Schmiedelehrling geworden, weil mich die Wandelbarkeit der Metalle fasziniert. Mit Metallen kann man fast alles machen und ich bin entschlossen, das auch tun zu können. Was soll ich mit Leuten, die mir das wegnehmen?

„Aber das wäre doch ein glückliches Leben für dich, Navlin! Du hast immer nur geschuftet und könntest dich jetzt zur Ruhe setzen!"

„Ich bin achtzehn! Zur Ruhe setzen kann ich mich in hundert Jahren!"

„Du willst dich also bis an dein Lebensende abrackern und es dir niemals etwas leichter machen?"

„Leichter machen ja. Aber nicht leichter machen lassen!"

„Also ich hätte gerne ein glückliches Leben", erklärt einer der Umstehenden. „Wo soll ich unterschreiben?"

Der Gemüsehändler verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich werde erst unterschreiben, wenn jemand dafür wirbt, dass die Fee geht!"

„Du willst also nicht bis an dein Ende glücklich und zufrieden leben?" stichelt der Bärserker.

Der Händler schüttelt energisch den Kopf und spricht aus, was ich mir auch gerade denke: „Ich habe nichts gegen ein glückliches Ende. Das aber auf meine Weise und nicht auf die irgendeiner Fee!"

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