[6] • Überredungskünste

»Cleo scheint wirklich ein sehr liebes Mädchen zu sein«, schwärmte meine Mutter, während sie sich den frisch gebrühten Kaffee in die alte, überdimensionale Ohne-dich-ist-alles-doof-Tasse goss. Jetzt hatte das Thema Cleo schon unseren Frühstückstisch erreicht.

»Hm«, brummte ich gleichgültig und kaute weiter auf meinem mit Nutella beschmierten Brötchen herum. Balu vollzog neben mir auf dem Stuhl sein alltägliches Sieben-Uhr-Morgen-Nickerchen, nachdem er sich zuvor unter Protest sein Diät-Futter reingezwungen hatte. Schon öfters hatte ich meiner Mutter geraten, dass sie es einfach lassen sollte, weil er das Zeug sowieso nicht mochte und sich auf anderem Wege etwas Leckeres besorgte, aber: »Er isst es doch«. Aus diesem Grund bekam er immer wieder aufs Neue den Fraß vorgesetzt. Zwei Lebewesen, die aus Prinzip auf ihren Standpunkt beharrten. Unverbesserlich!

»Aber vier Kinder! Ich wüsste gar nicht, wie ich das bewerkstelligen sollte«, faselte die gebürtige Ivonne Kleinmann, seit achtzehn Jahren verheiratete Ivonne Sommerfeld, weiter. Danach nahm sie einen Schluck von der tiefschwarzen Flüssigkeit und ließ sich genüsslich seufzend auf den Sitzplatz mir gegenüber nieder. Natürlich wüsste sie nicht, wie sie mit solch einem Haufen zurechtkommen könnte, zumal sich Umziehen mit vier Kindern auf jeden Fall schwieriger gestalten würde, als nur eins hinter sich her zu schleifen.

»Und alle sind so hübsch!« Wenigstens in einer Sache waren wir uns einig. Ich griff nach der Erdbeermarmelade und strich mir stillschweigend eine dicke Schicht auf die andere Hälfte meines Brötchens. Meiner Mutter hörte ich gar nicht mehr zu, wie sie weiter von Familie Moustaki schwärmte und Cleo zu meiner neuen besten Freundin deklarierte. Warum glaubten eigentlich alle, Letzteres besser beurteilen zu können als ich selbst? Doch ich regte mich nicht darüber auf. Es brachte letztlich nichts und am Ende reichte es, wenn ich wusste, was wirklich stimmte.

Stattdessen überlegte ich, ob ich mir noch etwas zu Essen für die Schule mitnehmen sollte. Ich konnte mich schließlich nicht jedes Mal am Vorrat des Dagoberts bedienen. Andererseits war es meinem kreativen Kopf zu verdanken, dass sie ihre Zeitung mit zwei weiteren Seiten füllen konnten. Mir kamen die ganzen Urkunden und Auszeichnungen wieder in den Sinn. Ob die Schülerzeitung immer noch an solchen Wettbewerben teilnahm? Bei den Schülern konnte das Dagobert schließlich aufgrund seines Äußeren nicht sonderlich überzeugen. Aber was interessierte es mich überhaupt? Es sollte mich beruhigen, dass sich dieses Blättchen schlecht verkaufte, denn somit blieb meine Leserzahl gleich null, so wie es mir auch am liebsten war. Ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen, egal, in welcher Hinsicht und wie klein sie auch war.

»Wie geht es eigentlich Anna?«, fragte meine Mutter plötzlich. Für mich kam die Frage wie aus dem Nichts, da ich meine Ohren auf Durchzug gestellt hatte. Doch den Namen Anna registrierte mein Gehirn, als wäre er ein fieser Eindringling, den es zu bekämpfen galt. Ich erstarrte in der Bewegung. Mein Brötchen blieb auf halber Strecke zum Mund stehen und mein Blick löste sich langsam von dem knatschroten Gelee und erreichten die warmen, braunen Augen meiner Mutter. Sie hatte es einfach so daher gesagt, sie wusste nichts von dem unangenehmen Gefühl, das sich daraufhin um meinen Körper legte. Es war etwas zwischen Traurigkeit, Ärger und Sehnsucht. Ein Gefühl, das ich immer wieder abzuschütteln versuchte, wenn es in den einsamen Momenten unter der Zimmertür hindurchkroch und mich wie eine kratzige Decke umwickelte.

»Keine Ahnung«, krächzte ich und versuchte zu schlucken, doch mein Mund war wie ausgetrocknet. Ich schaffte es nicht, dem verwunderten Ausdruck standzuhalten, der sich im Gesicht meiner Mutter abzeichnete. Sie hatte wohl gedacht, dass wir noch in Kontakt standen, dabei war es schon so lange her.

»Dann solltest du mal nachfragen, mein Schatz. Sie war auch so ein nettes Mädchen und ihr habt euch doch echt toll verstanden.« Soweit kommt's noch. Als ob ich mich selbst demütigte und ihr eine Nachricht schrieb. Das wäre nur unangenehm für uns beide, ein komplett erzwungenes Gespräch, in dem sie so tat, als würde sie sich noch für mich interessieren und ich, als würde ich nicht merken, dass ich ihr komplett egal war.

Man glaubte immer, in der heutigen Zeit wäre es einfacher, in Kontakt zu bleiben über all diesen Social Media-Kram. Aber nein, das war es nicht. Eigentlich wurde man nur noch mehr verletzt, weil man sah, wie glücklich alle ohne einen waren. Ich hatte verstanden, dass ich keinem von den angeblichen Freunden, die ich bis jetzt gehabt hatte, jemals wirklich wichtig gewesen war. Aber wie hätte ich das auch sein können, wenn ich nie lange genug da war, um eine richtige Beziehung aufzubauen. Und dieses Prinzip wird sich auch nicht ändern, egal wie ich die Sache anging.

»Ja, vielleicht«, antwortete ich. Ich wollte ihr nicht erklären, was gerade in meinem Kopf vorging, denn ich war mir sicher, dass sie es nicht verstehen würde. Für meine Mutter war alles möglich, alles konnte optimiert werden. Das Leben war aus ihrer Sicht ein Projekt, das sie so formen konnte wie die Verbesserungsmaßnahmen, die sie auf der Arbeit für ihre betreuten Firmen erstellte. Doch mir passte diese Denkweise nicht. Mir kam es nicht in den Sinn, sich noch um Dinge zu bemühen, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt waren. Manche Sachen funktionierten einfach nicht. »Willst du das Brötchen haben?« Ich wusste, dass meine Mutter nicht weiter fragen würde, sie war nicht so eine, die nachbohrt, nicht wie Papa und nicht ansatzweise so wie Cleo. Dennoch wechselte ich das Thema, weil ich nicht mehr über Anna und alles, was damit verbunden war, nachdenken wollte.

»Nein, nein. Das kannst du gerne haben. Ich muss sowieso gleich los, aber du doch auch, oder?«

Ich schaute auf die Uhr, die über der Küchentür hing. »Ja, richtig. Ich wollte mir nur gerne etwas zu Essen mitnehmen.« Schnell klatschte ich eine Scheibe Käse zwischen die Brötchenhälften und stand auf, um mir eine Dose zu suchen. »Rechts, unterste Schublade«, kam mir meine Mutter zur Hilfe, als ich ahnungslos alle Schränke durchsuchte. Nach drei Wochen kannte ich mich immer noch nicht in diesem Haus aus. Aber es lohnte sich eh nicht, mich hier genauer umzusehen. »Ich dachte, ihr bekommt Essen in der Cafeteria?« Ja, das hatte ich anfangs auch gedacht, nur war das Zeug dort einfach nicht für menschliche Geschmacksnerven geeignet. »Ja, es schmeckt halt manchmal nicht so doll.« Also, eigentlich immer und eigentlich schlimmer als nicht so doll, aber das war unwichtig. Ich glaubte kaum, dass es sie sonderlich interessierte, solange ich nicht am Verhungern war.

»Na dann, Mäuschen.« Sie trank den Rest ihrer Tasse in einem Zug aus und griff nach ihrer Handtasche, die neben ihr auf dem Stuhl stand. »Ich wünsche dir einen schönen Tag und grüß mir Cleo.« Bevor sie ging, gab sie mir noch einen Kuss auf die Stirn und lächelte mich liebevoll an. Ich erwiderte es gequält. »Ja, mach ich«, log ich.

■■■

Jetzt hatte ich mir selbst etwas zu Essen mitgebracht und saß dennoch im Dagobert mit dem Käsebrötchen in der einen und einem Kinder Pingui in der anderen Hand, dabei hatten wir noch nicht einmal Mittagspause. Aber das hatte ich mir selbst zuzuschreiben. Ich hatte mich schließlich dazu entschieden, dem Zeitungsteam meine Hausaufgabe zu überlassen. Allerdings gestaltete sich das Überlassen irgendwie anders, als ich mir das vorgestellt hatte. Cleo hatte nämlich darauf bestanden, dass ich bei dem Treffen der Schülerzeitung in der kurzen Pause anwesend war, in dem sie den anderen zwei Mitgliedern erklären wollte, wie sie die Gestaltung meines Textes angedacht hatte. Ziemlich unnötig, wie ich fand. Nach meiner Idee wäre das eher nach dem Motto »hier, macht damit, was ihr wollt« abgelaufen, aber okay, ich saß hier sowieso nur, hörte zu und mampfte mein verfrühtes Mittagessen.

Wenigstens bot sich mir so die Möglichkeit, den Letzten im Bund kennenzulernen, den ich bei meinen bisherigen Besuchen im Dagobert noch nie gesehen hatte. Er wäre mir aber vermutlich noch nicht einmal aufgefallen, wenn er tatsächlich da gewesen wäre, da er kein Wort sprach. Also eigentlich traf er genau auf die Art Mensch zu, die ich in meiner Umgebung bevorzugte, doch so passte er irgendwie nicht in dieses Team hinein, das sich durch Cleo und Mel doch eher durch eine ordentliche Portion Lautstärke auszeichnete. Cleo war auch diejenige gewesen, die mir seinen Namen verraten hatte, als er es nicht für nötig hielt, sich selbst vorzustellen. »Das ist Markus«, hatte sie gesagt, woraufhin er nur kurz in meine Richtung genickt und ich mein Hallo auch gleich stecken gelassen hatte.

Während Cleo also Mel mit ihrer Begeisterung ansteckte und Markus die Informationen stillschweigend in sich aufnahm, dachte ich darüber nach, wie ich Lars am besten auf diese Idee ansprechen konnte. Denn auch ich hatte mich von Cleos Vision gestern fesseln lassen. Sie war eine Meisterin darin, andere von sich und ihrem Vorgehen zu überzeugen, sodass man sie schon fast als manipulativ beschreiben könnte. Zumindest fühlte es sich für mich so an, sonst hätte ich mich wohl kaum dazu bereit erklärt, mit Lars zu reden. Da hätte ich ja lieber meinen Vater gefragt, auch wenn ich ihm noch nie davon erzählt hatte, dass ich selbst in meiner Freizeit gerne schrieb. Aber da wäre mir schon irgendeine Ausrede eingefallen. Ihm meine Texte vorzulegen kam nämlich gar nicht in Frage. Doch die Option hatte sich von selbst erledigt, da er durch seine Dienstreise schlichtweg keine Zeit hatte. Doch ich hatte mir schon einen Plan zurechtgelegt. Ich musste nur Lars in einem ruhigen Moment erwischen, ohne seine komischen Gorillafreunde, dann würde ich bestimmt auf keinen großen Widerstand stoßen. Vor allem war eine Blume malen, wenn auch in mehreren Variationen, für ihn bestimmt ein Ding von wenigen Minuten. Das konnte er mir wahrscheinlich noch vor meinen Augen auf ein Blatt Papier kritzeln und das Ganze war erledigt.

»Die Idee ist echt toll! Wir sollten wirklich ein bisschen mehr Aufwand in unsere freie Rubrik stecken, vor allem, da wir in letzter Zeit kaum mehr freiwillige Einreichungen bekommen. Vielleicht würde das wieder die Attraktivität steigern.« Als ob ein paar Blümchen da etwas ändern konnten. Die Zeitung brauchte ein komplettes Makeover!

»Ja, das dachte ich mir auch!«, stimmte ihr Cleo eifrig zu. Markus zuckte nur unsicher mit den Schultern, als sich die beiden Mädels fragend zu ihm drehten. Er war nicht so der kreative Typ, hatte Cleo mir erzählt. Er kümmerte sich um die ernsteren Themen, solche mit mehr Mehrwert für das zukünftige Leben der Schüler und hatte für jegliche Aspekte bezüglich Layout und Gestaltung einfach kein Gespür und somit auch keine Meinung dazu. Doch angesichts des Covers müssten Mel und Cleo genauso wenig Ahnung davon haben oder sie begriffen schlichtweg nicht, wie wichtig ein gut verpacktes Äußeres war. 

»Ich wusste gar nicht, dass Lars gut zeichnen kann. Also auch, dass er überhaupt zeichnet.« Diesmal richtete Mel ihren Blick auf mich. 

»Habt ihr noch nie bemerkt, dass er ständig einen Block vor der Nase hat?«, fragte ich verwundert in die Runde. Das konnte doch nicht nur mir aufgefallen sein, oder? 

»Ja, schon«, meinte Cleo daraufhin zögerlich und zog nachdenklich ihre Augenbrauen zusammen. »Aber ich hatte nie weiter darüber nachgedacht. Meinst du denn, er wird uns helfen? Er kommt mir jetzt eher nicht wie einer rüber, der sonderlich an der Schülerzeitung interessiert ist.« Welche Signale hatte ich denn gesendet, dass ich wie so jemand wirkte?

»Was weiß ich, ihr seid doch seit Jahren mit ihm in einer Stufe. Aber ich denke, probieren kann man es.« Letzteres passte so gar nicht zu meiner Lebenseinstellung und ich merkte, wie die Unlust in mir beleidigt in der Ecke schmollte, da sie gerade nicht die Hebel in der Hand hielt. In mir brannte eher eine Art Pflichtgefühl, das wahrscheinlich Cleos Manipulation zu verschulden war, und der Drang, die Angelegenheit schnell hinter mich bringen zu wollen.

»Fragst du ihn dann heute noch?« 

Ich stimmte Cleo murrend zu und stopfte mir den Rest des Schokoriegels in den Mund.

»Danke dir!«, sagte sie und strahlte von einem Ohr zum anderen. Ich winkte ab. Noch ein gequältes Lächeln schaffte ich heute nicht. 

■■■

Mit verschränkten Armen lehnte ich an einem der Ginkgobäume, die hier überall auf dem Hof verteilt standen und mir meinen ersehnten Schatten spendeten. Der Sommer war nicht meine Jahreszeit. Ich mochte diese hohen Temperaturen nicht, die auf mein Gemüt drückten, sodass ich noch genervter war als üblich. Mein Shirt klebte an meinem Rücken und die Ringe an meinen Fingern fühlten sich einschnürend an, da die Wärme meine Hände anschwellen ließ. 

Pünktlich zur Mittagspause hatte ich mich auf den Schulhof begeben und hielt Ausschau nach Lars. Ich wollte ihn abfangen, bevor er sich mit den anderen an den Basketballkörben traf. Einige von den Jungs hatten sich schon auf dem Platz versammelt, darunter auch Jasper, der sich mit zwei anderen unterhielt. Er lächelte in ihrer Gegenwart genauso, wie er auch Cleo gestern angelächelt hatte. Sogar von hier aus erkannte ich, dass ihm dieser Gesichtsausdruck gut stand. Er sah aus wie jemand, der den Sommer mochte. Jemand, der in seiner Klasse beliebt war, sich gerne abends mit seinen Freunden traf und am Wochenende mit seiner Familie im Garten grillte. Aber ich glaubte, dieser Eindruck täuschte. Schon bei unserer ersten Begegnung hatte ich eine Seite an ihm kennengelernt, die im Kontrast zu dem Auftreten stand, das er gerade zeigte. Ich wollte weiter über ihn nachdenken, sein Geheimnis heimlich von Weitem ergründen, doch er hatte wohl meinen Blick bemerkt, denn im nächsten Moment drehte sich sein Kopf in meine Richtung. Unsere Augen trafen sich sofort. Für einige Sekunden war ich wie erstarrt, schaute ihm entgegen, während mein Puls langsam an Fahrt aufnahm. Immer härter hämmerte mein Herz gegen meinen Brustkorb. Doch auch meine Gehirnzellen arbeiteten mit erhöhter Geschwindigkeit und mir wurde wieder bewusst, weshalb ich eigentlich hier stand. Da mich jedoch Jaspers Blick fest im Griff hielt, schaffte ich es nur langsam, mich von ihm zu lösen. Allerdings hätte der Zeitpunkt nicht besser sein können, denn als ich wieder den Eingang fokussierte, kam Lars gerade herausspaziert. Tatsächlich zögerte ich keine Sekunde, da ich noch weniger Lust hatte, ihn im Beisein seiner Freunde zu fragen, als ihn überhaupt anzusprechen. Mit schnellem Schritt, vielleicht auch um Jaspers Argusaugen zu entfliehen, überquerte ich den Hof und erreichte Lars, noch bevor er die letzte Treppenstufe hinter sich gebracht hatte.

»Lars, hi!«, rief ich nur so laut, dass er mich hören konnte. »Kann ich dich mal kurz sprechen?«

Er blickte auf. In seinem Gesicht spiegelte sich die Überraschung. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich ihn so schnell oder überhaupt wieder ansprechen würde. Glaub mir, ich hätte es auch lieber sein gelassen, mein Lieber.

»Leonie?« Sogar seine Stimme klang unsicher, als müsste er sich vergewissern, dass ich es auch wirklich war.

»Ja, also ich habe eine Frage an dich oder wohl eher eine Bitte.«

»Ähm.« Er schaute umher und rieb sich die Handflächen an seiner Jeans. »Ja, klar. Was gibt's?«

Wie verlegen er doch wirkte, wenn man alleine auf ihn traf. Konnte das ein gutes Zeichen sein? War er vielleicht in diesem Zustand leichter zu überzeugen?

»Du kennst doch das Dagobert, richtig?« Ich hoffte inständig, dass er zustimmte und ich keine Aufklärungsarbeit mehr leisten musste. »Die Schülerzeitung, oder?«, fragte er. Zumindest ein Anfang, alles klar, dann weiter im Text. »Ja genau. Man hat mich gebeten, dich zu fragen, ob du für einen Text etwas gestalten könntest. Es dauert auch nicht lang, es geht nur um ein paar Blumen.«

»Blumen für eure Schülerzeitung?«, hakte er nach, doch bevor ich etwas entgegnen konnte, kam mir jemand anderes zuvor.

»Was für 'ne Zeitung?«, krakelte eine männliche Stimme hinter mir. Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Im nächsten Moment schob sich die Person an mir vorbei und legte Lars einen Arm um die Schulter. Es war der Esel, der mir bei der Party ein heißes Techtelmechtel mit seinem Kumpel unterstellt hatte. Ich schloss kurz die Augen und holte Luft. Der hatte mir gerade noch gefehlt. Auf ihn hatte ich eigentlich verzichten wollen. Doch es kam noch schlimmer, denn als ich meine Lieder wieder anhob, hatte sich eine ganze Gruppe von pubertierenden Bengeln versammelt. Sie alle reihten sich hinter Lars und seinem Kumpel auf und beobachteten mich argwöhnisch, als wäre ich ein unerwünschter Fremdkörper. Fehlte nur noch, dass sie sich allesamt auf der Brust herumtrommelten, um ihr Territorium zu markieren. Auch Lars' Haltung hatte sich mit dem Aufkommen seiner Kumpanen verändert. Statt mir freundlich oder zumindest neutral gegenüber zu stehen, hatte er den abschätzenden Blick seiner Freunde angenommen. 

»Oh, das Mädel von letzter Woche«, brabbelte der Blondschopf, rüttelte Lars und lachte ihm ins Ohr, was dieser mit einem Grinsen erwiderte. »Möchtest du ein Interview mit unserem Kavalier, oder was?« Die Definition von Kavalier hatte er sich wohl auch selbst zusammengereimt oder er schätzte sich und seine Truppe total falsch ein. Wahrscheinlich traf beides zu.

»Nein«, antwortete ich trocken. »Ich wollte nur Lars fragen, ob er für die Schülerzeitung etwas zeichnen kann.« Ich betonte dabei Lars' Namen, damit das Ekelpaket vielleicht merkte, dass seine Meinung hier nicht gefragt war.

»Für die Schülerzeitung?« Der Esel lachte laut auf. Ich hatte seine Wahrnehmungsfähigkeit eindeutig überschätzt. Was hatte ich eigentlich erwartet? »Als ob Lars für so einen Quatsch einen Finger rührt.« Ich wusste nicht, was daran nun so witzig war, aber ihn schien die Vorstellung mehr als nur zu belustigen. Er wischte sich eine imaginäre Träne aus seinem linken Augenwinkel.

»Das ist eine Sache von zwei Minuten, wenn überhaupt«, sagte ich zu Lars. Seine Affenhorde um ihn herum versuchte ich zu ignorieren. Lars wiederum konnte das anscheinend nicht, denn nur weil seine Freunde plötzlich zuhörten, musste er den Macker raushängen lassen.

»Und was kriege ich dafür, Schätzchen?« Oh, bitte. So langsam wurde ich wütend.

»Nichts«, sagte ich mit fester Stimme. Wenn Lars glaubte, dass ich bei diesen kindischen Spielchen mitspielte, dann hatte er sich eindeutig geschnitten. Ich sprang hier doch nicht nach seiner Pfeife, nur weil er es nicht schaffte, seine Gefühlsschwankungen unter Kontrolle zu halten.

»Tja, dann hat sich das ja wohl erledigt«, antwortete er und nickte den Jungs zu, die sich daraufhin langsam in Bewegung setzten. 

»Dann spielen wir halt eine Runde Basketball«, meinte eine Stimme, die sich gefährlich nach meiner eigenen anhörte. Allerdings hatte sich eine provozierende Tonlage darübergelegt. Moment. Hatte ich das gerade wirklich gesagt?

Die Truppe blieb stehen und alle Augenpaare richteten sich wieder auf mich.

»Ha! Ich glaub's nicht, die Kleine will wirklich gegen dich antreten!«, schrie der Esel regelrecht über den gesamten Pausenhof und fing daraufhin an zu wiehern, was seinen tierischen Charakter nur noch mehr unterstrich. Aber zumindest machte er mir mit seiner Aussage unmissverständlich klar, dass ich Lars anscheinend wirklich gerade zu einem Basketballmatch herausgefordert hatte. Was mich komplett schockierte, schien die anderen bis aufs Äußerste zu amüsieren, und zwar so, dass es jeder auf diesem verdammten Schulhof mitbekam. In wenigen Sekunden hatte sich um uns herum ein Kreis von sensationsgeifernden Schülern gebildet. Ich traute mich nicht, meinen Blick schweifen zu lassen. Mir war es schon peinlich genug, da musste ich den Leuten nicht noch zusätzlich ins Gesicht gucken. Gott, diese Aktion lief gerade reichlich schief. Abbruch! Ich musste hier schleunigst verschwinden.

Ich machte einen Schritt zurück, wollte flüchten, bevor sich die Situation noch mehr zuspitzte. Allerdings stellte sich Lars als noch mieseren Mistkerl heraus und machte meinen Fluchtversuch zunichte.

»He, he, warte!« Er griff mich fest am Handgelenk und zog mich wieder zu sich heran. Ich stolperte nach vorne und sah den Jungs nacheinander ins Gesicht. Ich fühlte mich gerade wie eine Zirkusattraktion, die nur dazu da war, um andere zum Lachen zu bringen. Wie gerne würde ich ihnen allen, einschließlich Lars, das Grinsen aus der Fratze schlagen, doch noch lieber wollte ich hier weg. »Du machst hier einen auf große Klappe, forderst mich zum Match heraus und willst dann einfach abhauen?« Zu welchem Zeitpunkt hatte ich ihn noch einmal sympathisch gefunden? Dieser arrogante Ton ließ ohne Ausnahme jeden guten Eindruck von ihm sofort verblassen. Mir war klar, dass er nicht vorhatte, mich einfach so gehen zu lassen.

»Ich nehme an, Schätzchen. Lass uns eine Runde spielen und wenn du gewinnst, kritzle ich euch was.« Lars streckte seinen Arm in Richtung einer seiner Freunde aus, der ihm einen Basketball in die Hand drückte. Dann löste er den Griff von meinem Handgelenk und hielt mir dafür die braune Kugel vor die Brust. 

»Und weißt du was, ich mach's dir noch einfacher«, faselte er weiter und tat auf besonders gütig. »Du kannst dir noch einen Mitspieler aussuchen. Irgendeinen, egal wen.« Er machte eine ausladende Geste. Wie nett er doch war. Als ob sich hier irgendwer mir anschließen wollte. Er wusste genau, dass dem nicht so war. Wahrscheinlich war er noch nicht einmal darauf aus, dass ich wirklich gegen ihn spielte, sondern dass mich die Demütigung nur hart genug traf.

»Ich-« Ich wollte mich herauswinden, dem Ganzen noch irgendwie entfliehen. Doch bevor ich doch noch Reißaus nehmen konnte, trat jemand neben mich. 

Ein Schatten landete auf Lars' Gesicht, der ihn sichtlich aus dem Konzept brachte.

»Ich spiele mit ihr.« Die Stimme hatte genauso eine Wirkung auf mich wie die braunen Augen, die dazu gehörten. Jasper blickte auf mich hinab, durchdringend und mit einem Ausdruck, der nicht zu deuten war. Dann schaute er zu Lars, dessen Augen perplex zwischen uns hin und her schnellten.

»Na los, worauf warten wir noch. Ein Kavalier lässt eine Dame doch nicht warten.«

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