[4] • Ein Muss
Meine Hände zitterten immer noch, als ich zurück hinters Steuer stieg. Neben mir auf den Beifahrersitz ließ sich Jasper nieder und mit einem Mal wirkte das Auto viel kleiner als sonst. Seine braunen kurzen Locken streiften die Decke und seine Knie stießen gegen das Armaturenbrett. Im Gegensatz zu der schwachen Straßenbeleuchtung draußen, konnte ich ihn im Licht der kleinen Lampe über dem Rückspiegel jetzt genauer betrachten. Seine Haut hatte im Vergleich zu meiner eine leichte Bräunung, so als verbrächte er viel Zeit draußen und das nicht nur nachts auf dunklen Straßen. Seine Gesichtszüge waren kantig, sein Kiefer trat markant hervor und sogar seine Nase hatte einen kleinen Knick. Unsere Schultern berührten sich fast, da er mit seiner Breite über den Sitz hinausragte. So eng hatte ich das Auto noch nie wahrgenommen. Er bemerkte, dass ich ihn studierte, und wandte sich mir zu. Unsere Blicke trafen sich und in seinen Augen schimmerte immer noch eine gewisse Unsicherheit. Ich versuchte, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der mir verriet, was er hier draußen tat. War es wirklich einfach so?
»Ich kann auch laufen. Das ist echt kein Problem«, sagte er vorsichtig. Mein stummes Beobachten hatte ihn wohl irritiert. Vermutlich glaubte er, dass ich mir die Sache gerade doch wieder anders überlegte und ihn im nächsten Moment auf den Bürgersteig scheuchen würde.
Ich schüttelte nur den Kopf, richtete meine Aufmerksamkeit auf die Straße und startete den Motor.
»Du musst mich lotsen«, informierte ich ihn. »Ah, ja klar.« Er richtete sich im Sitz auf und seine Haare raschelten über das Polyester der Innenverkleidung. »Hier direkt rechts.« Ich fuhr an und bog rechts ab. Im Folgenden beschränkte sich unsere Kommunikation auf seine gelegentlichen Richtungsangaben und meine Umsetzung dessen. Nach wenigen Minuten Fahrt, brannte mir dann doch eine Frage auf der Zunge, die ich von ihm beantwortet haben wollte.
»Woher weißt du denn jetzt eigentlich, wie ich heiße?« Bei Lars hatte ich es mir noch erklären können. Trotz seinem geringen Auffassungsvermögen im Deutschunterricht, hatte er zumindest schon einige Male meinen Namen aus dem Mund von Frau Werth gehört. Doch Jasper war eine Stufe über mir und somit hatten wir kein Stück miteinander zu tun.
Ich spürte seine Augen auf mir, während ich mich weiter auf den Straßenverlauf konzentrierte. »Cleo hat mir von dir erzählt.«
Fast hätte ich ein weiteres Mal eine Notbremsung gemacht, doch ich versuchte meine aufkommenden Gefühle von Unglaube, Überraschung und Ärger direkt wieder herunterzuschlucken.
»Cleo?«, hakte ich möglichst neutral nach, um sicherzustellen, dass ich mich nicht verhört hatte.
»Ja. Du müsstest ein paar Kurse mit ihr haben«, erklärte er. Also doch die Cleo. Das war schon nicht mehr normal, wie sehr sie mit allem und jedem in Verbindung stand. Wenigstens unterstellte er mir nicht gleich eine Freundschaft mit ihr.
»Woher kennt ihr euch?«, fragte ich weiter. Hoffentlich standen sie sich ein wenig nahe, sonst musste ich davon ausgehen, dass Cleo vor jeglichen Leuten sämtliches Wissen aus ihrem ganz persönlichen Schülerlexikon preisgab.
»Wir hatten wegen der Schülerzeitung öfters miteinander zu tun.« Das hatte ich jetzt nicht erwartet. »Die nächste links.« Ich blinkte.
»Du warst in der Schülerzeitung?« Ich hatte das Gefühl nur noch Fragen zu stellen, aber er hatte mein Interesse geweckt. Ihn als Mitglied der Schülerzeitung konnte ich mir von seinem Auftreten her nämlich gar nicht vorstellen.
»Nein. Cleo hatte mich öfters interviewt, als ich noch professionell Basketball gespielt habe«, erklärte er daraufhin, was mir irgendwie plausibler erschien als meine vorherige Verknüpfung.
»Und jetzt spielst du nicht mehr?« Bestimmt glaubte er, wieder in einem Interview gelandet zu sein. Aber von sich aus erzählte er nur das nötigste. Er hielt die Antworten möglichst kurz, ähnelte in seiner Gesprächseinstellung damit fast mir, und ich versuchte, ihm wiederum alles aus der Nase zu ziehen. Paradox. Ich stand hier irgendwie auf der falschen Seite.
»Nein. Also, nicht mehr in einer Mannschaft.« Ich nickte. Das musste genügen. Ich hatte die Informationen bekommen, die ich wollte und erlöste ihn, indem ich einfach den Mund geschlossen hielt. Schließlich wollte ich ihn nicht ausquetschen wie eine Zitrone, auch wenn er wie eine roch. Das war nicht mein Stil.
Die Stille breitete sich erneut zwischen uns aus, nur das leise Gedudel aus dem Radio war zu hören. Aber ich empfand es nicht als unangenehm. Ich hatte nie ein Problem mit dem Nicht-Reden gehabt und anscheinend störte das Jasper genauso wenig. Immer wieder streifte ich ihn mit einem Seitenblick. Er wiederum betrachtete durchs Fenster die vorbeiziehende Dunkelheit, die nur durch vereinzelte Straßenlaternen unterbrochen wurde. Sein Gesicht wurde dadurch immer wieder erhellt und wenn ich mich nicht täuschte, lag auf seinen Lippen ein sanftes Lächeln.
Auch wenn er, besonders in diesem Moment, friedlich aussah, sollte ich meinen Eltern trotzdem nicht erzählen, dass ich einem fast Fremden angeboten hatte, ihn nach Hause zu fahren. Das würde ihnen so gar nicht gefallen und noch vor einer halben Stunde hätte mir das ebenfalls nicht. Ich hätte es noch nicht einmal für möglich gehalten, dass mir so etwas in den Sinn kommen würde. Die ganze Zeit grübelte ich schon darüber nach, was für ein Ruck da vorhin durch meinen Körper gegangen war und weshalb ich mich plötzlich dafür verantwortlich gefühlt hatte, dass er sicher nach Hause kam. Wir kannten gerade mal den Namen des anderen, also wenn ich jetzt mal davon absah, dass ich nicht sagen konnte, was Cleo sonst noch über mich erzählt hatte. Letztendlich wusste sie aber auch nicht unbedingt mehr über mich.
»An der nächsten Kreuzung links und dann das sechste Haus auf der rechten Seite, dann sind wir da.« Als wir in der besagten Straße einbogen, verlangsamte ich das Tempo. »Hier?«, erkundigte ich mich, da ich bei der Dunkelheit nicht mit dem Zählen hinterherkam. Er stimmte zu und ich hielt am Straßenrand. Jasper entledigte sich seines Sicherheitsgurtes und öffnete, ohne zu zögern, die Tür. Mit einem Bein schon auf dem Gehweg hielt er inne und drehte sich noch einmal zu mir um, wobei sein Blick ziellos nach unten gerichtet war, als wäre es ihm unangenehm, meinen Augen zu begegnen.
»Danke, Leonie.« Dabei betonte er meinen Anfangsbuchstaben so sanft, dass mein Name aus seinem Mund schon fast melodisch klang. Warum mir das überhaupt aufgefallen war, konnte ich mir nicht erklären. Allerdings spürte ich daraufhin auf meinen Unterarmen einen Anflug von Gänsehaut, wofür ich jedoch den kühlen Sommernachtswind verantwortlich machte, der durch die geöffnete Tür ins Auto hineinkroch.
»Kein Problem«, antwortete ich stumpf.
Er stieg aus und gab der Tür einen Stoß. Mit einem Mal hatte ich wieder Platz im Auto und sein Duft war mit ihm ins Freie geflohen. Plötzlich fragte ich mich, ob es für ihn doch unbehaglich gewesen war, mit mir nach Hause zu fahren, da er so schnell Abstand zwischen uns schaffen wollte. War meine Fragerei zu viel gewesen? Obwohl, was interessierte es mich, wie er sich fühlte? Er hatte mir einen Riesenschrecken eingejagt und dennoch hatte ich dafür gesorgt, dass er sicher in seine vier Wände zurückkehrte. Gut, bedankt hatte er sich. Ein dumpfes Klopfen von rechts ließ meinen Kopf herumfahren. Jasper hatte sich hinuntergebeugt und winkte kaum merkbar mit der Hand. Es erinnerte mich an vorhin, als er noch vor dem Auto stand und nicht daneben. Allerdings lag diesmal ein schiefes Lächeln auf seinen Lippen. Etwas perplex hob ich ebenfalls kurz die Hand, ließ sie jedoch sofort sinken, als er sich wieder aufrichtete und vom Fahrzeug entfernte. Er näherte sich dem Haus und auf halbem Wege tauchten zwei kleine Lampen im Vorgarten die Fassade der schmalen Doppelhaushälfte in sanftes Licht. Ich wartete nicht, bis er die Tür erreichte, startete meine Navigation von Neuem und machte mich zum zweiten Mal an diesem Abend auf den Weg nach Hause.
Die komplette Rückfahrt musste ich an Jasper denken. Zwar versuchte ich, es zu vermeiden, da ich mich generell davon distanzierte, Gedanken an Menschen zu verschwenden, mit denen ich sowieso nichts mehr zu tun haben würde, geschweige denn wollte, aber diesmal konnte ich es einfach nicht unterbinden. Während ich mit halbem Ohr den Anweisungen meines Handys zuhörte und passend dazu meine Beine und Arme koordinierte, hatten meine Gehirnzellen nichts Besseres zu tun, als ihre restliche Energie für diesen komischen Riesen zu vergeuden. Es ließ mich nicht los, dass es bei ihm anscheinend zum Alltag gehörte auf offener Straße herumzuliegen. Warum tat er das nach eigener Aussage einfach so?
Mein Kopf qualmte leicht, als ich in unsere Einfahrt fuhr. Ich hatte mir die gleichen Fragen immer und immer wieder hin und her geworfen, war aber zu keinem Ergebnis gekommen, da Jasper auf mich so undurchsichtig gewirkt hatte wie eine Betonwand. Ich wurde aus ihm nicht schlau. Frustriert, weil mich die Situation mehr beschäftigte, als ich es für möglich gehalten hatte, schlug ich die Fahrertür zu. Gedankenverloren spielte ich mit meinem Schlüsselbund, bis ich dann vor der Haustür stand und neben mir ein lautstarkes Miauen ertönte. Fast wäre ich vor Schreck in die Luft gesprungen. Was war denn in dieser Nacht nur los? Hatten sich heute alle zur Aufgabe gemacht, meinen Puls über hundertachtzig zu halten, oder was?
»Gott, Balu!«, zischte ich lauter als beabsichtigt. Dieser legte nur den Kopf schief und leuchtete mir mit seinen Scheinwerferaugen entgegen. »Was machst du denn hier draußen um die Uhrzeit?« Ich beugte mich zu ihm herunter und kraulte ihn hinterm Ohr, bis ich die kleinen Futterreste in seinem Maulwinkel entdeckte.
»Natürlich«, seufzte ich und hörte auf, ihn zu verwöhnen. Strafe musste schließlich sein. »Bei welchen Nachbarn warst du diesmal, hm?« Nichts, noch nicht einmal einen Ton bekam ich von Balu als Antwort. »Du willst wohl deine neue Essensquelle nicht in die Scheiße reiten.«
Ich seufzte ein weiteres Mal und richtete mich wieder auf. Anscheinend merkte der kleine Klops, dass ich an seiner Treue zweifelte, und strich um meine Beine. Wahrscheinlich wollte er damit wieder um meine Gunst werben und sein Plan schien zu fruchten. Ein Lächeln umspielte meine Lippen, als er sich schnurrend an mir rieb.
»Du bist das einzige männliche Wesen, dem ich solche Berührungen erlaube, mein Lieber«, ermahnte ich ihn. »Na komm, rein mit dir.«
Ich öffnete uns die Tür und sofort ließ Balu von mir ab, um die erstmögliche Gelegenheit zu nutzen und im dunklen Flur zu verschwinden. Verräter. Da zeigte man kurz ein wenig Zuneigung und wurde direkt wieder links liegen gelassen. Mit einem missmutigen Brummen folgte ich ihm ins Haus und schaltete das Licht an. Leise zog ich mir die Schuhe aus und bewegte mich vorwärts. Eigentlich wollte ich direkt mein Zimmer ansteuern, allerdings kam mir erneut Balu dazwischen, der an der Küchentür auf mich wartete. Als ich an ihm vorbeischleichen wollte, fing er von Neuem an zu miauen und tapste direkt darauf zu seinem Futternapf. Ungläubig starrte ich ihm hinterher. Balu ließ das jedoch kalt. Stattdessen entgegnete er meinem Blick fordernd und erwartete tatsächlich, dass ich ihm jetzt noch seine Schüssel füllte, obwohl er sich wahrscheinlich eben schon den Bauch vollgeschlagen hatte.
»Äh, Mister, das ist doch nicht dein Ernst!«, zischte ich leise, um meine Eltern nicht zu wecken. Doch Balu setzte sich daraufhin nur demonstrativ neben den Napf.
»Nein, nein, mein Lieber. Das lassen wir mal schön bleiben.« Mein Kopfschütteln verstärkte sich mit jedem weiteren Schritt, den ich auf ihn zumachte. Bevor er die Flucht ergreifen konnte, schnappte ich ihn mir, hievte den Kater auf meinen Arm und ließ ihn erst wieder herunter, als wir mein Zimmer erreichten. Da ich davon ausging, dass er es sich sowieso auf meinem Bett gemütlich machen wollte, setzte ich ihn direkt darauf ab. Ich behielt recht und Balu kuschelte sich zwischen die Laken. Er gähnte herzhaft und schloss die Augen. Das Bedürfnis nach Essen hatte er wohl gegen den Wunsch nach einem Nickerchen eingetauscht.
»So gefällst du mir besser«, murmelte ich vor mich hin und strich ihm ein letztes Mal über den kleinen Kopf. Dann ließ ich ihn alleine, schlüpfte in ein bequemes Outfit, band meine Haare zu einem unordentlichen Dutt zusammen und fiel erschöpft auf meinen Schreibtischstuhl zusammen. Ich stellte die Lehne nach hinten und legte beide Beine auf der Tischplatte ab. Ein stimmhaftes Ächzen entwich meiner Kehle und ich starrte vor mich hin. Gedankenverloren spielte ich mit einem Plastikdeckel, den meine Finger in der Unordnung auf dem Tisch gefunden hatten. Neben meinen Unterschenkeln lag mein Schreibblock und auf ihm standen zusammengebastelte Zeilen, die ich angesichts der Deutschhausaufgabe geschrieben hatte. Abwechselnd glitt mein Blick von dem Stück Plastik in meiner Hand zum Blatt Papier und wieder zurück, während sich meine Gedanken unaufhörlich im Kreis treten, ohne dass ich etwas Konkretes zu fassen bekam. Dann, klack, formte sich etwas, erst ein Wort, dann eine Phrase, dann ein voller Satz. Mit einem kräftigen Ruck setzte ich mich ordentlich auf und nahm einen Stift zur Hand. Großzügig durchstrich ich das Gefasel auf dem Block, das mir schon von Anfang an nicht so recht gefallen hatte, und schrieb drauf los.
Ich bewegte den Stift solange, bis ich den letzten Punkt setzte, der das Ende meines kleinen Textes bedeuten sollte. Meine Hand tat weh, so schnell hatte ich geschrieben. Abrupt ließ ich den Stift fallen, lockerte meine Fingermuskulatur und ließ mich erneut gegen die Lehne sinken.
»Und Balu willst du mal hören?«, fragte ich ins Zimmer hinein und drehte mich Richtung Bett. Natürlich erwartete ich keine Antwort. Der kleine Tiger schlief bereits.
Als ich den Kater so vor sich hin schlummern sah, überkam mich selbst die Müdigkeit, was angesichts der späten Uhrzeit keine Überraschung darstellte. Doch ich war ein Nachtmensch, also zumindest war ich um diese Tageszeit um einiges kreativer, weshalb ich sogar relativ zufrieden mit meiner fertiggestellten Hausaufgabe war. Vorsichtig krabbelte ich neben Balu ins Bett, dessen Körper sich im regelmäßigen Abstand hob und senkte. Er schien tief im Land der Träume versunken zu sein, doch bevor ich ihm dahin folgen konnte, machte mein Handy auf sich aufmerksam. Sofort erinnerte ich mich daran, dass Cleo mehrmals versucht hatte, mich zu erreichen, und wie sollte es anders sein, zeigte der Bildschirm die von mir gewählte Bezeichnung die Klette an. Ich überlegte, ob ich es ein weiteres Mal ignorieren sollte, aber es erschien mir irgendwie nicht fair. Bis auf die Enttäuschung mit Lars und die kuriose Begegnung mit Jasper, war der Abend schließlich ganz passabel verlaufen. Cleo war natürlich immer noch dieselbe gewesen, ein wenig überdreht und eine Quasselstrippe, wie man sie selten sah, aber sie hatte etwas von ihrer Anhänglichkeit abgelegt, sodass sie auf mich sogar ertragbar gewirkt hatte.
Also nahm ich den Anruf entgegen und begrüßte sie mit einem einfachen: »Ja?«
»Leonie! Ah, warte kurz.« Es raschelte, dann wurde es still und Cleo begann wieder zu reden. »Also, ähm, mir wurden meine Schuhe geklaut.«
»Nicht dein Ernst?« Ich war auf einmal wieder hellwach und lachte laut auf, woraufhin sich Balu murrend beschwerte, gleich darauf aber wieder die Augen schloss.
»Dohoch«, antwortet sie verzweifelt und mit einem weinerlich aufgesetzten Ton. »Nachdem ich eine Runde getanzt habe, habe ich mich mit Hannah hingesetzt und war so in unser Gespräch vertieft, dass ich gar nicht mitbekommen habe, dass mir jemand nebenbei den Verschluss meiner Sandalen geöffnet hat.« Ich unterbrach sie nicht, um zu fragen, wer überhaupt diese Hannah war. Wahrscheinlich war es für die Geschichte sowieso vollkommen egal. »Und dann habe ich nur noch mitbekommen, wie mir dieser Jemand plötzlich die Schuhe von den Füßen gezogen hat und in der Menge verschwunden ist.« Sie quasselte weiter, redete sich vollkommen in Rage, während ich dabei war, mir mein Lachen zu verkneifen. »Und ich habe gesucht und gesucht, aber dann dachte ich mir, dass ich sie eigentlich gar nicht zurückhaben will, weil, also, ich weiß ja nicht, was die damit vorhatten. Igitt! Stell dir mal vor, die hätte sich jemand angezogen und dann hätte ich sie wieder getragen.« Sie holte tief Luft und verstummte dann schließlich. Nur ihre Atemzüge waren zu hören. Ich wusste, dass sie vollkommen fertig war. Die Vorstellung, welches Schicksal ihre Schuhe nun ertragen mussten, war für sie wahrscheinlich der reinste Albtraum. Trotzdem musste ich mit meiner Hand meine Lippen zusammenhalten, um sie nicht ein weiteres Mal auszulachen.
»Ich hoffe, sie waren nicht zu teuer«, sagte ich dann zu ihr, als ich mich soweit beruhigt hatte. Grinsen tat ich jedoch immer noch.
»Nein, das nicht«, seufzte sie. »Sie waren nur so verdammt bequem und haben einfach zu allem gepasst.«
»Vielleicht kannst du ja den Gastgeber dafür haften lassen.«
»Lars? Ach Quatsch!« Also ich hatte meinen Vorschlag ziemlich gut gefunden.
»Und du bist jetzt wie nach Hause? Barfuß?« Ich vermutete, dass ihr wohl nichts anderes übriggeblieben war, denn ich bezweifelte sehr stark, dass sie Ersatzschuhe von irgendjemanden angenommen hätte.
»Natürlich! Bin eben daheim angekommen. Hannah hatte mir zwar angeboten, mir ein Paar Schuhe von ihr zu leihen, sie wohnt nur eine Straße weiter, aber nein danke.« Wie ich es mir gedacht hatte.
Wir telefonierten noch einige Minuten weiter und ließen den Abend noch einmal Revue passieren. Natürlich redete dabei überwiegend Cleo. Doch mit ihren kuriosen Vermutungen, was mit den ganzen Schuhen passiert sein könnte, brachte sie mich sogar zum Lachen. Und tatsächlich war es jedes Mal echt gewesen.
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Frau Werth dabei zuzuschauen, wie sie wahrhaftig Spaß daran hatte, diesen Haufen an wirr quasselnden Menschen zu unterrichten, war faszinierend und doch irgendwie ein wenig dubios. Ich hatte noch nie mit solch einer engagierten Lehrerin zu tun gehabt und es war gleichzeitig inspirierend wie überfordernd. Ihre Freude steigerte sich nur noch mehr, als sie gegen Ende des Unterrichts unsere Hausaufgaben einsammelte. Bis auf einzelne Ausnahmen hatte jeder etwas abzugeben. Sogar Lars reichte Frau Werth einen Zettel entgegen, auf dem ich statt Zeichnungen etwas Geschriebenes erkannte. Lars hatte ich ansonsten keines Blickes gewürdigt. Es war aber auch nicht so, dass er irgendwie versucht hatte, meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Wir hatten uns einfach so verhalten wie in der ersten Deutschstunde letzten Dienstag vor genau einer Woche. Er hatte auf seinem Block herumgekritzelt und ich hatte neben ihm gesessen, mich vereinzelt am Unterricht beteiligt und den Rest der Zeit geschwiegen.
Die Mittagspause verbrachte ich wieder zusammen mit Cleo oben im Raum der Schülerzeitung. Den Rest der letzten Woche hatte ich noch versucht ihr aus dem Weg zu gehen und hatte meine mitgenommen Snacks in einer abgelegenen Ecke auf dem Schulhof verputzt. Heute hatte ich mich, genauso wie auch schon den Tag zuvor, dazu hinleiten lassen, denn, na ja so genau wusste ich das auch nicht. Seit der Party am Freitag war sie irgendwie erträglicher geworden oder ich hatte mich schon an sie gewöhnt und war zu blind, um ihre Eigenarten noch wahrzunehmen.
Vielleicht lag es auch daran, dass man vom Fenster des Dagoberts einfach den besten Blick über den Hof hatte und somit auch über den Basketballplatz. Ich wollte es mir zwar nicht eingestehen, aber ich musste immer wieder an den Zusammenstoß mit Jasper denken und beobachtete ihn manchmal absichtlich, manchmal unbewusst, wenn die zwei rivalisierten Teams aufeinandertrafen. Cleo hatte recht, er spielte nicht jedes Mal mit wie Lars, dessen Versessenheit auf einen Sieg schon von hier oben erkennbar war. Aber wenn er mitspielte, dann gab es für ihn kein Halten mehr. Trotz seiner unheimlichen Größe bewegte er sich enorm schnell und flink. Immer wenn er auf den Korb zusteuerte, dann war ein Treffer garantiert.
Mit Cleo hatte ich nicht über Jasper gesprochen, auch wenn sie ihn anscheinend kannte und mir eventuell erklären konnte, was es mit diesem Herumlungern auf der Straße auf sich hatte. Da ich Letzteres jedoch bezweifelte, schnitt ich das Thema nie an, da ich nicht unnötig Interesse zeigen wollte. Denn schließlich interessierte er mich auch gar nicht. Es war verständlich, dass ich nach solch einer Begegnung öfters darüber nachdachte. Natürlich hatte es auf mich Eindruck hinterlassen, aber das würde vergehen, da war ich mir sicher.
Ich hatte mich schon an meinen routinierten Tagesablauf gewöhnt, als am Donnerstag in der Pause vor der Deutschstunde Frau Werth mit großen Schritten und einem abermals breiten Lächeln auf mich zumarschiert kam. Nichtsahnend hatte ich es mir mit einem Buch auf dem Boden vor dem Kursraum gemütlich gemacht und erst, als unsere Lehrerin direkt vor mir stehen blieb, kam mir der Gedanke, dass sie anscheinend etwas von mir wollte.
»Leonie«, sagte sie in dem Moment, als ich den Kopf hob. Sie klang, als wollte sie mich für irgendetwas einstimmen, als wäre das, was sie gleich sagen würde, etwas Wundervolles. »Deine Hausaufgabe, sie war wirklich toll!«
»Danke?« Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie mich gesondert auf meine Hausaufgabe ansprechen würde, vor allem um mich mit solch einem breiten Lächeln zu loben.
Sie kniete sich vor mich hin, hielt ihren dicken Ordner vor der Brust und schaute mich mit großen leuchtenden Augen an. Ich lehnte mich zurück, bis ich die Wand an meinem Hinterkopf spürte, um mehr Abstand zwischen uns zu bringen. In meinem Bauch rumorte ein ungutes Gefühl. Irgendetwas hatte sie im Sinn und es war sicherlich nichts Gutes. Zumindest für mich nicht, das war klar.
»Sei mir nicht böse, aber ich habe Cleo erlaubt, es zu lesen und sie meinte sofort, dass das in die nächste Ausgabe der Schülerzeitung muss!«
»Ähm.« So hatte ich mir das eigentlich nicht gedacht. War das überhaupt erlaubt? Der Datenschutz war an dieser Schule anscheinend wirklich nur ein freiwilliges Konzept.
»Leonie!«, kam es plötzlich von links, bevor ich auch nur ein weiteres Wort dazu sagen konnte. Es war Cleo und die Entschlossenheit in ihrem Blick ließ das ungute Gefühl durch meinen ganzen Körper schießen. Ich fühlte mich plötzlich in die Ecke getrieben und falls sich der Boden nicht plötzlich unter mir auftun würde, dann war ich eindeutig dem Untergang geweiht. Ich verfluchte mich selbst. Hätte ich doch bloß ein Gedicht über rote Rosen geschrieben!
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