[30] • Stille Angst
Manchmal vergaß ich, welchen Ehrgeiz Cleo besaß. Seitdem ich auf die Sensationsnachricht zu unserem Sieg reagiert hatte, bombardierte sie mich mit Ideen, wie man diesen Erfolg angemessen zelebrieren konnte. Ich hatte sie bereits so weit heruntergehandelt, dass sie nicht mehr auf eine durchzechte Partynacht beharrte und auch mit etwas Gemütlicherem einverstanden war. Aber um eine kleine Feier im Kreise des Dagobert-Teams würde ich wohl nicht mehr drumherum kommen. Mel und besonders Markus würden es mir zumindest danken, dass ihnen ein Clubbesuch erspart blieb. Ich sprach den beiden eine ähnlich geringe Tanzlust zu wie mir selbst. Und Lars hatte ich auch nur ein einziges Mal auf dem Herbstball tanzen sehen. Die Körperkontrolle, die er beim Basketballspielen bewies, hatte ihn dabei auch eher im Stich gelassen. Die langen Arme, die ihm beim Sport einen Vorteil verschafften, hatten dabei eher wie störendes Beiwerk ausgesehen.
»Cleo ist einfach unverbesserlich«, stieß ich geschlagen aus, während ich noch einmal unseren bisherigen Chatverlauf durchging. Ich würde einlenken müssen, das wusste ich, sonst würde sie irgendwann wieder unerwartet vor der Haustür stehen und mich dorthin schleifen, wo sie mich haben wollte. Da war es mir lieber, darauf eingestellt zu sein, was mich an dem Abend erwarten würde.
»Ihr solltet vielleicht nicht das ganze Preisgeld auf den Kopf hauen, aber so eine kleine Siegesfeier habt ihr euch doch echt verdient«, nahm Jasper Cleos Argumentationslogik auf. Natürlich hatten die beiden grundsätzlich recht, aber mir persönlich hätten die schriftlichen Glückwünsche und die fünftausend Euro auf dem Schulkonto auch gereicht, ohne zusätzlich ein großes Bohei zu veranstalten. Aber ich wusste auch, dass ich mit dieser Ansicht alleinstand. Alle anderen wollten der Anstrengung der letzten Wochen Ehre erweisen und feiern. Ich war überstimmt.
Ich seufzte. »Sag das nicht. Bei Cleo weiß man nie.«
Ich warf Jasper einen vielsagenden Blick zu, den er vermutlich gar nicht bemerkte, da er sich vielmehr auf den Straßenverlauf vor sich konzentrierte, während hinter ihm am Fenster die grüne, sonnendurchflutete Landschaft vorüberzog. Er hatte angeboten, als Ausgleich für meinen Fahrdienst den Rückweg nach Hause zu übernehmen, jetzt wo das Auto wieder problemlos funktionierte. Zudem hatte mein Handy nicht aufgehört, Geräusche von sich zu geben, worauf er gemeint hatte, ich würde wohl gerade anderweitig dringender gebraucht. Was wahrscheinlich stimmte. Ich wollte mir nicht vorstellen, was Cleo auf die Beine gestellt hätte, hätte ich sie in ihrem Eifer nicht gestoppt. Vielleicht wäre dann wirklich nichts mehr von dem Preisgeld übergeblieben.
»Magst du mitkommen?«, fragte ich dann. Irgendwie wollte ich ihn gerne dabeihaben. Vielleicht weil er als einziger die Freude gesehen hatte, die tatsächlich in mir steckte, und ich mich mit ihm wohler fühlte. Ich hatte den Gedanken, dass seine Anwesenheit mir eine gewisse Sicherheit geben könnte. Eventuell gab es aber auch einen viel simpleren Grund. Den Wunsch, ihn einfach nur bei mir zu haben, um mich nicht nach seinen Berührungen verzehren zu müssen.
Doch Jasper lehnte ab. »Das ist eure Feier. Ihr seid das Dagobert-Team und den Erfolg solltet ihr gemeinsam feiern. Das ist ganz allein euer Verdienst.« Ich konnte nichts dagegen tun, dass die Enttäuschung kurz durch meinen Kopf huschte und ein dumpfes Gefühl hinterließ. Gleichzeitig verstand ich seinen Gedankengang und fand es irgendwie rührend, dass er sich so zurücknahm und uns diesen Abend zum gemeinsamen Feiern lassen wollte. Ich bereute fast, ihm diese Frage gestellt zu haben, weil ich mir irgendwie dumm vorkam, dass ich in dem Moment gar nicht an die anderen gedacht hatte. Allerdings konnte ich mein Bedürfnis nach Jasper und nach all dem, was er mit mir anstellte, nicht einfach so leugnen. Es war da und schwer zu unterdrücken. »Aber ich kann dich danach abholen, wenn du magst«, fügte er hinzu, als könnte er mich lesen wie eine Reklametafel. Wie er immer genau das sagte, was jedes noch so kleine Unwohlsein schwinden ließ.
»Das würde mir gefallen.« Jaspers Blick verhakte sich kurz in meinem. Er lächelte, bevor er sich wieder der Straße widmete. Schon dieser kurze Augenblick warf mich zurück in meine Erinnerungen und pflanzte in mir das Verlangen nach einer Wiederholung.
Ein wohliger Schauer rann mir die Wirbelsäule hinab, wenn meine Sinne jeden einzelnen Kuss, jede Bewegung nachahmten. Es war, als würde ich die letzte Nacht immer wieder erleben, wenn ich ihn ansah oder seine Finger absichtlich über meinen Oberschenkel strichen, sobald er in einen anderen Gang schaltete. Der Hormoncocktail, an dem ich mich letzte Nacht betrunken hatte, wirkte nach. Ich spürte kaum den Sitz unter mir, da mich die Leichtigkeit noch so sehr gefangen hielt, dass ich irgendwo etwas weiter oben schwebte.
Jasper und ich hatten nicht darüber gesprochen, was wir da erlebt hatten. Wir hatten genauso wenig Worte darüber verloren, wie über all die anderen kleinen oder größeren Zärtlichkeiten, die wir dem jeweils anderen geschenkt hatten. Und mir konnte das nur recht sein. Ich wollte mich immer noch in dem Rahmen bewegen, den wir abgesteckt hatten. In dieser Weite ohne Verpflichtungen und Verantwortung. Das machte es mir leichter. Und ich hoffte inständig, ihm würde es da genauso gehen. Für mein eigenes Herz genauso wie für das seine.
Mein Handy vibrierte wieder. Ich riss mich von Jaspers Profil los, rief meinen Körper zur Ordnung, was natürlich nicht sonderlich gut funktionierte, und tauchte wieder in den Chatverlauf zwischen mir und Cleo ein.
»Freitag soll das Ganze starten.«
»Alles klar. Ich bin auf Abruf, wenn du aufbrechen möchtest.« Mein persönlicher Retter. Ich musste fast darüber lachen, wie grauenhaft kitschig das in meinen Ohren klang. Dennoch gefiel es mir auf die gleiche schrecklich schöne Weise.
»Du wirst sicher schnell von mir hören«, meinte ich, worauf er ungläubig mit dem Kopf schüttelte. Ich konnte ihm wirklich nichts mehr vormachen. Er wusste, wie viel Scherz in meiner Aussage steckte. Und ich wusste, wie viel Spaß es mir letztendlich machen würde, mit den anderen auf unseren Sieg anzustoßen. Ich glaubte kaum, dass ich mich so schnell verabschieden würde, wie noch bei meinen ersten Treffen mit diesem verrückten Haufen. Aber Jasper stellte nun mal auch eine besonders große Versuchung dar.
Mit einem Lächeln im Gesicht lehnte ich mich in meinem Sitz zurück und ließ mich von Jaspers Playlist beschallen. Felder, Wiesen und Wälder schnellten an uns vorbei und Kilometer für Kilometer schmolz unter den sich drehenden Autoreifen dahin. Es dauerte nicht lang, bis ich mich wieder in den traumhaften Sequenzen von letzter Nacht verstrickte. Von mir aus hätten wir endlos so weiterfahren können.
Doch diese Gemütlichkeit hielt nicht ewig an. Ein Straßenschild mit vertrauten Städtenamen kam in Sichtweite und es erschütterte mich, wie sehr dieser Anblick plötzlich an meiner Wahrnehmung rüttelte, bis sie bröckelte. Ich versuchte, an dieser Unwirklichkeit festzuhalten, die uns das gesamte Wochenende umgeben hatte. Wie schnell jedoch die allseits stille Angst mich einholte, überraschte selbst mich. Noch eben hatte ich mich wie auf Wolken gefühlt und jetzt verpuffte die wattige Illusion mit einer Schnelligkeit, die mir zusätzliches Unbehagen bescherte.
Ich wollte diese Leichtigkeit nicht verlieren, die sich so heimlich eingeschlichen hatte, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie ich mich kopfüber in den freien Fall gestützt hatte. Hand in Hand mit Jasper. Mich beschlich die altbekannte Befürchtung, dass mich das noch einholen würde. Ich hatte mich in Unachtsamkeit gewogen, gerade weil ich immer wieder betonte, was für ein lockeres Verhältnis Jasper und ich teilten. Weil ich mir der Sache so sicher war. Doch solch eine Unachtsamkeit war mir bisher immer zum Verhängnis geworden und ich hoffte nicht mehr auf Ausnahmen. Ich würde unaufhaltsam auf die Tatsachen zusteuern, die ich zusehends ignoriert hatte. Der Aufprall war unausweichlich. So war es immer gewesen. Es ließ sich nur noch nicht absehen, wie hart es mich diesmal treffen würde.
Das Polyester unter mir drückte nun so deutlich gegen meine Muskeln, dass ich vor Unruhe am liebsten auf dem Sitz hin und her gerutscht wäre. Doch ich wollte Jasper mit meinem unmittelbaren Gefühlsumschwung nicht verunsichern. Wo waren bloß all die Glückshormone hin? Ich schien nur noch in Melatonin zu schwimmen. Und der Pegel stieg, je länger Jasper das Gaspedal drückte.
Diesmal gab es keine Panne, keine Unplanbarkeiten. Noch nicht einmal ein kleiner Stau war mir vergönnt. Wir erreichten unser Ziel schneller, als ich es mir erhofft hatte. Wir fuhren am Ortsschild vorbei und mit jeder vertrauten Kreuzung, mit jedem bekannten Haus schwand der letzte Rest des traumhaften Schleiers. Als würde sich ein Nebel lichten, in dem sich all die kleinen, fiesen Probleme versteckt hatten. Ich versuchte, es zu ignorieren, aber egal, wie sehr ich mich dagegen wehrte, als Jasper vor seinem Haus einlenkte, schien der Alltag eingekehrt zu sein. Das Wochenende war rückblickend wie eine Flucht gewesen vor dem, was mich bestimmte. Eine Flucht, die ihr Ende gefunden hatte, als letztlich der Automotor verstummte. Wie ein böses Omen schwirrte die Prämisse meines Lebens über unseren Köpfen. Doch davon schien Jasper nichts zu bemerken. Die gute Laune war nicht von ihm abgefallen und sein schönes Lächeln zierte immer noch sein kantiges Gesicht.
»So, da sind wir.« Ich nickte daraufhin und brachte ebenso meinen zufriedenen Ausdruck zurück, auch wenn dahinter die schlechte Stimmung vor sich hin köchelte. Mir war nach Rückzug zumute. Diese Gefühlsgeladenheit war mir zu viel und ich wollte mich am liebsten in meinem Bett verkriechen, um wieder etwas Ordnung in meinen Kopf zu bringen.
Beide stiegen wir aus und holten Jaspers Gepäck aus dem Kofferraum. Wir hatten das Haus noch gar nicht erreicht, als bereits die Tür aufgerissen wurde und uns eine freudestrahlende Marie entgegen hopste.
»Da seid ihr ja wieder!«, rief sie glücklich und half sogleich beim Tragen. »Wie war's? Lora hat gesagt, ihr hattet sogar einen Unfall.« Marie schien aufgeregter, als ich es zu dem Zeitpunkt unseres Unglücks gewesen war. Mit großen Augen schaute sie zu ihrem Bruder hinauf.
»Kein Unfall«, korrigierte Jasper sie. »Eine Autopanne. War aber alles halb so schlimm.« Behutsam strich er ihr mit seiner freien Hand über den Hinterkopf, während wir in den Flur traten und die Taschen fallen ließen. »Den Rest erzähle ich dir später.«
Bevor Marie Protest einlegen konnte, kam Lora um die Ecke, um uns zu begrüßen. Die geballte Familienenergie schlug mir entgegen und ich merkte, wie meine Reserven langsam anfingen zu stocken. Ich hatte mich bereits extra wieder zur offenen Haustür begeben, damit ich nicht den Anschein erweckte, dass ich bleiben wollte.
»Isst du noch mit, Leonie?«, kam von Lora auch schon die entscheidende Frage. »Es steht reichlich auf dem Herd.«
»Nein, danke. Ich denke, ich sollte mich auch mal auf den Weg nach Hause machen.« Die Umstände machten es mir einfacher, mich aus der Affäre zu ziehen. Lora reagierte verständnisvoll und nickte zustimmend.
Nach wenigen Worten des Abschieds scheuchte sie dann Marie vor sich her in die Küche, vermutlich um Jasper und mir noch ein wenig Privatsphäre zu gewähren. Kaum waren die beiden aus dem Flur geflohen, trat Jasper auch schon an mich heran, sodass ich meinen Kopf in den Nacken legen musste, damit ich seinen Blick auffangen konnte. In seinen Augen funkelte noch die Magie der vergangenen zwei Tage. Hätte ich nur länger daran festhalten können.
»Danke für das Wochenende.«
Ich winkte ab. »Es tut mir immer noch leid, dass es nicht so gelaufen ist, wie es-« Der letzte Teil meines Satzes legte sich auf Jaspers Lippen, die plötzlich die meinen erreichten. Es war ein ganz leichter Kuss. Vorsichtig, als wollte er mich zum Schweigen bringen und sich gleichzeitig dafür entschuldigen.
Volle drei Sekunden spürte ich den sanften Druck, bevor er sich von mir entfernte. Nicht weit, nur gerade so, dass das Braun seiner Augen vor meinem Sichtfeld schimmerte. »Es war perfekt«, flüsterte er. Seine Lider senkten sich wieder und unsere Lippen vereinten sich zu einem weiteren Kuss. Es schmeckte anders, es schmeckte bittersüß.
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Der Muckefuck entpuppte sich als so scheußlich, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Ein einziges Mal hatte ich ihn probiert, damals bei meiner Oma. Ich hatte den Erwachsenen nacheifern wollen und war mächtig stolz gewesen, als man meinen Wünschen endlich nachgekommen war und mir eine Kaffeetasse vor die Nase gestellt hatte. Und auch wenn mir nur der billige Kaffeeabklatsch ohne Koffein zugestanden wurde, hatte ich mich trotzdem richtig erwachsen gefühlt. Zumindest bis ich den ersten Schluck genommen hatte. Im nächsten Moment hatte ich alles in hohem Bogen wieder ausgespuckt.
Dennoch saß ich jetzt hier mit einem Becher Muckefuck in den Händen und pustete die heiße Flüssigkeit an, sodass sich die Oberfläche kräuselte. Zugegeben, ich pustete mehr, als dass ich trank, aber wer konnte es mir verübeln? Der Kakao im Getränkeautomaten war alle gewesen und schlagartig hatten meine Finger gekribbelt, worauf ich in nostalgischer Verirrung den Auftrag für einen Muckefuck erteilt hatte. Schon kurz darauf hatte ich den Versuch, alte Zeiten aufleben zu lassen, bitter bereut. Schrecklich bitter. Das hier war das Schlimmste, was meine Zunge je erdulden musste. Obwohl - ich schaute mich in der Cafeteria um - die Aussage stimmte nicht ganz.
Der Geruch nach Kartoffeln lag in der Luft und um mich herum nippten die Schüler zögernd an ihren Suppenlöffeln. Ich musste gar nicht die Gesichtsausdrücke abwarten, um zu wissen, wie es schmeckte. Es war, als könnte ich die Salzkristalle von hier aus sehen. Manche bewiesen ziemlich starke Nerven, indem sie sich immer wieder an den Essenskreationen versuchten, andere hatten wahrscheinlich jene, die fürs Geschmacksempfinden zuständig waren, schon längst verloren.
»Ein Bulgursalat für die Dame«, flötete Cleo. Sie hatte sich von hinten angeschlichen, weshalb ich fast vor Schreck mein Getränk verschüttet hätte. Um ehrlich zu sein, hätte es keinen großen Verlust bedeutet. Eigentlich wäre es mir sogar lieber gewesen, die Flüssigkeit würde sich auf der Tischplatte verteilen als auf meiner Zunge.
»Danke dir.« Sie stellte die kleine Schale vor meiner Nase ab und ließ sich dann mir gegenüber auf den Stuhl plumpsen. Sofort widmete sie sich ihrem Vanillepudding und zog mit einem Ruck den Deckel ab. Sie wendete dabei so viel Kraft auf, dass ihr der eigentliche Becher aus den Händen rutschte, ohne jedoch seinen Inhalt zu verlieren. In ihren Knochen steckte heute ein bisschen zu viel Power. Vor Schulbeginn hatte sie sich vor Freude so schwungvoll um meinen Hals geworfen, dass ich fast einen Genickbruch erlitten hatte. Den ganzen Vormittag hatte ich mir schmerzverzerrt den Nacken gerieben.
»Dass ich mal so glücklich über einen Pudding sein würde, hätte ich jetzt auch nicht gedacht«, merkte sie noch an, bevor sie auch schon den Löffel hinein tunkte. Sie seufzte zufrieden, als die cremige Masse zwischen ihren Lippen verschwand.
Es war uns allen wie ein Wunder vorgekommen, als wir von der Schulleitung erfahren hatten, dass man einen externen Lieferanten für die Lieferung von Nebenspeisen und Nachtisch beauftragt hatte. Das war zwar nicht die Lösung des eigentlichen Problems, aber zumindest schon einmal ein Schritt in die richtige Richtung. Vielleicht würde man nun endlich den zahlreichen Beschwerden der Schüler entgegenkommen, die so lange ignoriert worden waren. Bis dahin würde die Mensa nun einer Gladiatorenarena ähneln, da es alle auf die leckeren Extras abgesehen hatten. Cleo war aus der heutigen Schlacht sichtlich erfolgreich hervorgekommen.
Freudig schob ich den Pseudo-Kaffeebecher zur Seite. Ich musste einsehen, dass sich die Süße der alten Erinnerungen nicht auf ein Getränk übertragen ließ. Sorry, Oma. Stattdessen bediente ich mich an meinem Salat und besänftigte meine Geschmacksnerven mit der frischen Würze. Ich hatte kaum meinen ersten Bissen hinuntergeschluckt, als Cleo bereits ihre Stimme wiederfand.
»Aber jetzt erzähl doch mal. Mal abgesehen von eurer kleinen Autopanne, wie war das Wochenende?« Ihre Augenbrauen bewegten sich, wie es meine Gesichtsmuskeln nie für möglich gehalten hätten.
Es war natürlich vorauszusehen, dass sie danach fragte. Ich hatte schließlich den Fehler begangen, ihr überhaupt davon zu erzählen. Doch ich hatte mir nicht viel dabei gedacht. Zwar hatte ich irgendwie geahnt, was Jasper und mich überkommen würde, wenn wir gemeinsam in einem Zelt übernachteten. Allerdings war ich nicht darauf eingestellt gewesen, was speziell diese eine Nacht in mir hinterlassen hatte. Wenn ich daran zurückdachte, fühlte es sich wie ein Fiebertraum an, wie so oft bei meinen Begegnungen mit Jasper. Ich konnte nicht mehr auseinanderhalten, was wahr oder fantasiebehaftet, was richtig oder falsch war. Und ich hatte Angst, dass jedes ausgesprochene Wort die Sache für mich realer machte. Definierbarer.
»Gibt's nicht noch irgendwas für Freitag zu planen?«, nuschelte ich mit vollem Mund, um dem Thema auszuweichen. Unter normalen Umständen hätte ich Cleo mit dieser Ablenkung sicher am Haken gehabt, doch auch hier verließ mich mal wieder das Anglerglück. Mein Wochenende schien wohl tatsächlich gerade interessanter zu sein, als sich in die nächste Organisationstätigkeit zu stürzen. Uff. Anscheinend war ich diesmal diejenige, die hilflos am Haken zappelte.
Cleo blieb standhaft, ließ sich von meiner Frage nicht beirren und wartete geduldig, bis mir die Stille zu unangenehm wurde und mich zu einer Antwort bewegte.
»Schön. Es war schön«, probierte ich mich an einer sehr knappen Zusammenfassung. Wenigstens war es nicht gelogen.
»Diese Aussage ist nicht zufriedenstellend und das weist du auch«, schoss Cleo sofort zurück und hielt ihren Löffel mahnend in meine Richtung, während ein spitzbübisches Lächeln an ihren Mundwinkeln zupfte. Ich seufzte geschlagen.
Aber was sollte ich denn auch dazu sagen? Dass es zu schön war. Zu überwältigend. Dass ich die Erinnerungsfetzen nicht einfangen konnte, die immer wieder unvermittelt durch meinen Kopf wehten. Ich hatte jeden Teil meiner Vergangenheit zerlegt, zusammengefaltet und in Kisten gestopft. Nur dieses eine Wochenende entzog sich vollkommen meiner Gewalt, sodass ich es bisher nicht geschafft hatte, meine alte Ordnung wiederherzustellen.
»Ach Cleo, was willst du denn von mir hören?« Ich versuchte, mir Zeit zu verschaffen, um mir die Worte zurechtzulegen. Allerdings funkelte in Cleos dunklen Augen jetzt doch eine gewisse Ungeduld. Ihre natürliche Neugierde übernahm wieder die Oberhand. »Es war halt einfach schön. Wir haben geredet, geangelt - wofür ich ganz nebenbei absolut kein Talent besitze - und haben gemeinsam am Lagerfeuer gesessen. Viel gibt's da nicht zu erzählen. Wir haben einfach das schöne Wetter genossen.«
Ich wusste bereits, wie unglaubwürdig mein Bericht erschien. Besonders da ich aus irgendeinem Grund überschwänglich meine Hände dazu bewegte, was mich nur noch mehr verdächtig machte. Cleo dachte sich ihren Teil und füllte bereits das Wochenende mit ihrer eigenen Fantasie.
»Schönes Wetter genossen«, wiederholte sie und nickte langsam. »Schön, schön.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem wissenden Grinsen.
»Du kannst dir dieses fiese Grinsen ruhig wieder aus dem Gesicht wischen«, meinte ich und bedrohte sie mit meiner Mini-Gabel.
»Aber ist es denn unbegründet?«
Ich wollte die Frage bejahen, behaupten, dass Jasper und ich uns nicht dieser Lagerfeuerromantik hingegeben hatten, aber es kam kein Laut aus mir heraus. Stattdessen neigte ich den Kopf und schob unentschlossen meinen Salat hin und her.
»Nicht unbedingt«, gab ich schließlich fast tonlos zu. Doch Cleo hatte mir wohl trotz der lauten Geräuschkulisse um uns herum ganz genau zugehört, denn sie grinste jetzt noch breiter.
»Aber das zwischen euch ist immer noch dieses-« Cleo fuchtelte mit ihrem Besteck herum, weil sie wahrscheinlich nicht wusste, wie sie das beschreiben sollte. Schnell fiel ich ihr ins Wort, damit diese Erklärungslücke nicht noch weiter anschwellen konnte. »Ja. Und daran hat sich nichts geändert.«
»Danach sieht es aber nicht aus«, gab Cleo zurück und drehte nun Kreise mit ihrem Löffel vor meinem Gesicht, als würde sie irgendwelche Indizien darin lesen können. War ich rot geworden? Spiegelten sich die Erinnerungen an die Nacht mit Jasper in meinen Augen?
Ich schüttelte energisch mit dem Kopf. »Wir wollen einfach nur ein bisschen Spaß. Wir verstehen uns gut. Warum sollten wir dann nicht auch gemeinsame Zeit zusammen verbringen?«, versuchte ich ihr ruhig zu erklären. Gleichzeitig wollte ich mich selbst noch einmal von dieser eigentlichen Intuition überzeugen.
»Gott, Leonie! Du bist so dickköpfig.« Ich zuckte ausweichend mit den Schultern. Doch leider war Cleo noch nicht fertig. Ihre Predigt schien wohl gerade erst gestartet zu haben. »Das mit euch zieht sich jetzt schon über Wochen, ach was, über Monate und du willst mir immer noch erzählen, dass das zwischen euch nur harmloser Spaß ist?« Diesmal war es Cleo, die bestimmt ihren Lockenkopf schüttelte. »Leonie, ich habe Augen im Kopf.«
»Ja, das sehe ich«, antwortete ich trotzig.
»Na also, dann erzähl mir keinen vom Pferd!«
Cleo war lauter geworden, sodass sich bereits die Schüler an den Nachbartischen zu uns umdrehten. Selten hatte ich sie so aufgebracht erlebt. Klar, sie sprühte Funken, wann immer es ums Dagobert ging, aber hier schwang mir eher eine ordentliche Portion Frust entgegen. Ich hatte immer gedacht, dass ich, abgesehen von meiner prägenden Unlust, auf andere relativ unkompliziert wirkte, da ich mich an klaren Grenzen probierte und niemand wusste, welches Hin und Her eigentlich in meinem Kopf herrschte. Doch Cleo schien sehen zu können, wie ich immer wieder neue Mauern aus dem Boden zog, an denen sie sich so abmühte. Und das war wohl eine sehr frustrierende Beobachtung.
Etwas peinlich berührt schaute ich mich in der Cafeteria um, doch glücklicherweise waren die neugierigen Seitenblicke genauso schnell verschwunden, wie sie gekommen waren.
»Glaub mir, das würde eh nicht lange halten«, sprach ich tatsächlich einen Teil meiner Angst aus, dem allerdings ein ganzer Rattenschwanz an Befürchtungen anhing. Die Angst vor abermaliger Enttäuschung, vor Herzschmerz. Vor der Gewissheit, dass es enden würde, wie es immer endete. Vor dem Kontrollverlust.
»Aber das kann man doch nicht wissen, wenn man es nicht auch probiert.« In abgewandelter Form stand dieser Satz sicher in zig Kalendern, die einen mit ihren klugen Sprüchen belehren wollten. Aber was gut geschrieben ist, lässt sich noch lange nicht gut leben. Vor allem wenn man es selbst am besten wusste.
»Aber wir wollen es nicht probieren!«, hielt ich dagegen und merkte erst im nächsten Moment, als uns wieder die Blicke der anderen erreichten, dass ich diesmal meine Stimme erhoben hatte. Sofort schrumpfte ich auf meinem Stuhl zusammen. Wieso musste Cleo auch nur so bohren? Manches war halt unausweichlich. Abschiede waren allgegenwärtig, das musste man akzeptieren. Verzweifelt an etwas festzuhalten, würde das sichere Ende nur bitter hinauszögern und den Schaden unnötig anwachsen lassen.
»Aber bist du dir sicher, dass Jasper es auch noch so sieht?«
»Ja«, betonte ich, ehe sie die Frage zu Ende gestellt hatte. Eine Lüge. Es war mehr die Hoffnung, die aus mir sprach. Doch genau deshalb wollte ich die Wahrheit auch gar nicht erfahren, weil ich damit einen meiner Rettungsanker verlieren könnte. Es war jetzt alles schon kompliziert genug, da ich mir das Recht genommen hatte, mich meinen Bedürfnissen hinzugeben. Ich wollte es mir und allen anderen nicht noch schwerer machen.
Leichte Hilflosigkeit schimmerte in Cleos Augen, da sie vielleicht nicht wusste, welche Worte sie noch an mich richten konnte, damit ich mich beruhigte. Und ich merkte, dass ich vermutlich doch keine so simpel zu interagierende Person war. Zumindest wenn die Emotionen mit mir durchgingen.
Ich winkte ab, wollte das ganze Dilemma von mir schieben und auf Reisen schicken, auch wenn mir bewusst war, dass es wie ein Boomerang zu mir zurückkehren würde.
»Vergessen wir das, okay?« Am liebsten hätte ich mit weißen Fahnen als Zeichen der Kapitulation geschwenkt. Ich wollte und konnte dieses Gespräch nicht weiterführen. Abermals packte mich der Fluchtinstinkt. Abrupt räumte ich meine Sachen zusammen und verstaute sie mitsamt meinem restlichen Bulgursalat in meiner Tasche. »Ich muss noch Hausaufgaben nachholen. Also, wenn's für dich okay ist, ich würd' dann-«
»Leonie«, setzte Cleo einfühlsam an, doch mein Bedarf nach Rückzug war stärker als mein schlechtes Gewissen, ihr gegenüber so abweisend zu reagieren.
»Cleo, lassen wir das. Glaub mir, es ist gut so, wie es jetzt ist«, beteuerte ich noch einmal, bevor ich mich vom Stuhl erhob und meine Tasche schulterte. Mir war klar, wie feige es gerade von mir war, sie hier so zurückzulassen. Doch die vielen Fragezeichen, die sich auf ihrer Stirn abzeichneten, waren ein schwer zu ertragender Anblick. Weil sie mir zeigten, wie seltsam ich doch war. Wie unverständlich.
»Sag Bescheid, falls ich noch irgendwas für Freitag erledigen kann.« Es war ein Versuch der Besänftigung. Eine Art der Wiedergutmachung für meine darauffolgende Flucht aus der Mensa. Weg von Cleo, weg von den Fragen, auf die ich selbst keine richtige Antwort fand.
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