[3] • Zebrastreifen

Es war erstaunlich, wozu der menschliche Körper in der Lage war. Seit zehn Minuten beobachtete ich einen Kerl, gekleidet in Jeans und Hemd, allerdings nur noch mit einem Schuh am Fuß, wobei er zu meiner Überraschung da nicht der Einzige war. Schon zigmal hatte ich einen Partybesucher an mir vorbeilaufen sehen, der entweder einen Schuh zu wenig oder zu viel bei sich trug. Ich hatte die Vermutung, dass irgendeiner damit angefangen hatte, mit der Überzeugung, es wäre originell oder lustig oder sonst irgendwas. Um das Warum zu beantworten, war ich vermutlich zu nüchtern. Dennoch überprüfte ich hin und wieder, ob meine Schuhe noch dort waren, wo sie hingehörten. Jedenfalls war ich ganz fasziniert davon, wie gut der Blondschopf, der schon einiges intus haben musste, seinen Drink in der Hand halten konnte. Er tanzte, drehte und wendete sich, bewegte sich allgemein betrachtet vollkommen zuwider der menschlichen Voraussetzungen, behielt dabei jedoch die ganze Zeit den kompletten Inhalt in seinem kleinen Becher. Neben ihm entdeckte ich Cleo, die versuchte sich mit zwei vollen Bechern an ihm vorbeizuschlängeln. Da der Typ zwar sein eigenes Getränk beisammenhielt, aber keinen Blick für sein Umfeld hatte, rammte er Cleo im nächsten Moment seinen Ellenbogen in die Seite, die daraufhin ihr Gleichgewicht verlor und einige Schritte nach vorn stolperte. Dabei verschüttete sie mindestens die Hälfte unseres Bieres, was sich jedoch zum Glück auf dem Boden verteilte, statt auf ihrem olivfarbenen Sommerkleid, das sich an ihren Körper schmiegte wie eine weiche Moosdecke. Zu ihrem dunklen Teint passte es unglaublich gut. 

Als sie mich schließlich erreichte, streckte sie mir einen der Becher entgegen und zog dabei einen Flunsch. »Mehr konnte ich leider nicht retten.« Ich nahm ihr das Bier ab. »Schon in Ordnung«, versicherte ich ihr und fügte mit einem Seitenblick auf den Rambotänzer hinzu: »Gegen den hattest du einfach keine Chance.«

Sie drehte sich ebenfalls zur Tanzfläche. »Wo haben die denn alle ihre Schuhe verloren?«, fragte sie und zog die Augenbrauen nachdenklich zusammen.

»Das hatte ich mich auch schon gefragt«, antwortete ich Cleo. »Pass lieber auf deine Treter auf. Ich habe das Gefühl, dass sich das Klauen von anderer Leute Schuhe hier langsam zu einer Sportart entwickelt.« Ich nahm einen großen Schluck von meinem Bier, doch das Kratzen in meinem Hals wurde damit auch nicht besser. Es lag vermutlich daran, dass ich die ganze Zeit gezwungen war, gegen die laute Musik anzuschreien. Aber irgendwie musste ich mich ja mitteilen. Wir konnten ja nicht den kompletten Abend einfach nur starr nebeneinanderstehen und ein Getränk nach dem anderen leeren. Gut, das hätten wir schon gekonnt, aber ich musste zugeben, mit Cleo hier zu sein, war nicht ganz so schrecklich, wie ich mir das eigentlich vorgestellt hatte. Zumindest war sie gerade um einiges erträglicher im Gegensatz zu dem Verhalten, das sie in der Schule an den Tag legte.

»Kann ich nicht nachvollziehen.« Auf Cleos Gesicht zeichnete sich der Ekel ab. »Wer würde sich denn freiwillig an die Schuhe von fremden Leuten begeben.«

»Lass mich raten, du hasst Füße?« Ich musste lachen. 

»Und wie!«, kam es prompt von Cleo und sie schüttelte sich, als hätte sie sich gerade ein besonders übles Exemplar Quadratlatschen vorgestellt. »Die sehen immer so komisch aus und sie stinken, also zumindest bei den meisten Leuten.«

Ich grunzte. »Na, du kennst dich aber aus.« Sie strafte mich mit einem bösen Blick, der mich jedoch nicht davon abhielt, mich weiter über sie lustig zu machen. Es war äußerst amüsant zu sehen, wie sehr der Gedanke an Füße sie anwiderte. »Jetzt hör schon auf, darüber zu reden!«, meinte sie mit Nachdruck, wobei aber auch ihre Mundwinkel zuckten. »Du musst mich jetzt nicht damit aufziehen«, schob sie hinterher und ich entschied mich, Gnade walten zu lassen.

»Gut, lassen wir das.« Ich hob meinen Becher in ihre Richtung. »Auf unsere Schuhe. Dass wir sie heute noch mit nach Hause nehmen.« Sie verdrehte die Augen, stieß aber mit mir an und wir tranken unser Bier aus. Nun, das, was davon übriggeblieben war.

Wir schwiegen für einen Moment und während Cleo anfing, sich langsam rhythmisch zur Musik zu bewegen, nahm ich wieder meine Beobachter-Position ein und ließ das menschliche Gewusel von Neuem auf mich wirken. Ich war kein Partygänger, das konnte ich auch jetzt noch getrost sagen. Mich reizte es nicht, auf der Tanzfläche herumzuhüpfen, mich an irgendwelchen Spielen zu beteiligen, die immer auf verstärkten Körperkontakt hinausliefen, und ebenfalls hatte ich keine Lust, mich mit anderen Leuten zu unterhalten. Letzteres gestaltete sich aufgrund der Musik sowieso reichlich schwierig, zumindest wenn man am Ende des Abends noch Herr seiner Stimme sein wollte. Deswegen hielt ich noch immer daran fest, nicht allzu lange hier zu verweilen. Doch solange sich es noch aushalten ließ und Cleo meine Nerven nicht strapazierte, blieb ich. Auch wenn ich keine Freundschaften suchte, wollte ich mich wenigstens nicht komplett einem Sozialleben entziehen. 

»Komm, lass uns tanzen!«, rief Cleo plötzlich und riss mich damit aus meinen Gedanken. Zwar sah es für mich so aus, als würde sie schon längst gekonnt ihren Körper bewegen, aber anscheinend wollte sie ihre Tätigkeit auf die eigentliche Tanzfläche verlegen.

»Nein, nein.« Ich schüttelte vehement den Kopf. »Auf keinen Fall!« Dem Tanzen entsagte ich nicht nur, weil ich keine Lust darauf hatte, ich konnte es auch einfach nicht. Mein Gehirn war nicht dazu gemacht, meine Gliedmaßen in einem Takt zu navigieren, und ich war in einem Zustand, in dem mir noch nicht egal war, wie die Leute mich wahrnahmen. Auch wenn ich zugeben musste, dass die meisten sowieso ihre Aufnahmefähigkeit auf den Alkohol beschränkten und ich ihnen mit meinem nicht vorhandenen Tanzkünsten dabei vermutlich komplett egal war. Doch ich blieb standhaft und überzeugte Cleo davon, dass ich mir lieber noch ein Bier holen würde.

»Na gut«, räumte sie ein, während sie sich schon rückwärts in wellenartigen Bewegungen von mir entfernte. »Ich würde dir aber raten, mal oben im Badezimmer nachzuschauen. Einer aus der Küche hat mir eben gesteckt, dass dort in der Badewanne wohl das gut Gekühlte liegt und nicht dieser warme Fusel von eben.«

Ich war überrascht, wie einfach es diesmal gewesen war, Cleo ruhig zu stellen. Allerdings so, wie sie die Tanzfläche stürmte, glaubte ich eher, dass sie nicht an sich halten konnte, wenn ihre Musik lief und deswegen auch keine Zeit versäumen wollte, nur um einen Tanzmuffel davon zu überzeugen, sich zum Affen zu machen. Mir sollte es recht sein und ich fing an, mir einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen. Da ich in diesem Haus schon früh den Orientierungssinn verloren hatte, hoffte ich einfach, in naher Zukunft im Flur zu stranden. Mit ausgestreckten Ellenbogen kämpfte ich mich somit Schritt für Schritt vorwärts und tatsächlich erreichte ich nach kurzer Zeit die Treppe, die ins obere Stockwerk führte. Je höher ich stieg, desto ruhiger wurde es. Die Party schien sich überwiegend im Erdgeschoss abzuspielen, was mir die Gelegenheit gab, Luft zu holen, während die Pärchen, an denen ich vorbeikam, eher damit beschäftigt waren, Sauerstoff auszutauschen. Unbemerkt huschte ich an ihnen vorbei in Richtung der Tür mit Aufschrift WC. Ohne innezuhalten, öffnete ich sie.

»Oh, sorry!« Ich hatte nicht damit gerechnet, jemanden im Badezimmer vorzufinden, da die Tür nicht verschlossen gewesen war. Doch auf dem Klodeckel saß ausgerechnet Lars, der Gastgeber des Abends, den ich allerdings heute zum ersten Mal sah. Ich hatte schon ganz vergessen, von wem die Party überhaupt ausgerichtet wurde. 

»Schon gut.« Er nahm seinen Fuß vom Badewannenrand und schlug den Block zu, den er auf seinen Oberschenkeln gebettet hatte. Meine Neugier erwachte. Ich wollte wissen, was er die ganze Zeit dort vor sich hin werkelte. Auch im Deutschunterricht sah man ihn unentwegt mit einem Stift in der Hand, den er mit einer ungeheuren Schnelligkeit übers Blatt führte. 

»Du bist sicher wegen des Bieres hier, oder?« Mein Blick glitt über seine Beine hinweg zur Badewanne, die bis zum Rand mit Eis und Bier gefüllt war. »Ja, stimmt«, krächzte ich. Erst jetzt in stillerer Umgebung bemerkte ich, wie heiser sich meine Stimme schon anhörte. Ich räusperte mich.

»Was willst du denn haben?«, fragte er, womit ich meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn richtete. »Alkoholfrei.« 

Er nickte, steckte sich den Bleistift hinters Ohr und fing an, die Badewanne zu durchsuchen. Warum nur hatte er sich hier oben verkrochen, anstatt unten mitzufeiern? Zumal er die ganzen Leute selbst eingeladen hatte. Das, was er dort in seinen Block kritzelte, musste für ihn wohl um einiges interessanter sein. 

»Ah! Da haben wir ja eins«, rief er und zog ein Bier aus dem Eis, das er kurz siegreich in die Höhe reckte. Er zückte ein Feuerzeug und schnipste den Deckel mit einem gekonnten Kniff vom Flaschenhals. Dann reichte er es mir. »Danke.« 

Etwas unbeholfen stand ich da mit meinem Getränk in der Hand und wusste nicht, ob ich jetzt einfach wieder gehen sollte. Lars löste meine Unentschlossenheit, indem er wieder anfing zu reden. »Du bist Leonie aus dem Deutschkurs, richtig?« So wie er immer anderweitig im Unterricht beschäftigt war, hätte ich nicht gedacht, dass er sich an meinen Namen erinnern konnte. Wir hatten bis jetzt auch nie ein Wort miteinander gewechselt. 

»Ja, und du bist Lars. Der, der nicht vom Platt Papier loskommt.« Er lachte. Es klang ehrlich, aber auch ein klein wenig unsicher, als wäre es ihm peinlich, dass es so auffällig war, wie verrückt er danach war. 

»Ich, na ja, zeichne nur ein wenig.« Das war nicht sonderlich aufschlussreich. Daran hatte ich natürlich auch schon gedacht. 

»Darf ich etwas sehen?« Mir war bewusst, dass die Aufforderung etwas forsch von mir war, da wir uns ja schließlich gar nicht kannten. Tatsächlich schien er auch erstmal mit sich zu ringen, allerdings nicht so lange, dass ich meine Frage wieder zurückgezogen hätte. 

»Ja, Moment.« 

Er klappte seinen Block wieder auf und blätterte ein wenig hin und her, bevor er mir eine der Zeichnungen unter die Nase hielt. Ich stellte das Bier auf dem kleinen Regal neben dem Waschbecken ab und nahm seine künstlerische Produktion in beide Hände. Auf dem Bild waren zwei Büffelköpfe zu sehen, die auf menschlichen Körpern steckten und versuchten sich gegenseitig aufs Horn zu nehmen. Es sah grotesk aus, interessant und soweit ich das beurteilen konnte sehr detailgetreu. Er zeichnete auf eine Weise, die mich beeindruckte und ehrlich gesagt auch nicht erwartet hätte. Ich kam nicht umhin weiterzublättern. Abrupt richtete sich Lars auf dem Klodeckel auf, als wollte er schon einschreiten und mir seinen Block wieder aus der Hand nehmen. Doch er blieb sitzen und ich staunte nicht schlecht, als ich die vielen weiteren Zeichnungen sah. Realistische und comichafte Darstellungen von Menschen und Tieren, manchmal auch beides miteinander vermischt, wechselten sich ab und ich konnte nicht aufhören, bis ich mich zur letzten Seite vorgearbeitet hatte. Verblüfft sah ich wieder zu ihm und suchte nach den richtigen Worten.

»Das ... das ist wirklich gut!« Die Fähigkeit, mich auszudrücken, überstieg mal wieder jegliche Maßstäbe. Doch ihn schien es zu freuen. Meine Sprachlosigkeit deutete er wohl als ein Kompliment und das sollte es auch schließlich sein. »Danke, Leonie.« Ich gab ihm sein Block zurück. »Du scheinst aber auch öfters eher mit dir selbst beschäftigt zu sein«, behauptete er dann im Gegenzug. Er hatte recht. Viel zu oft bildeten sich Sätze in meinem Kopf, die ich sofort aufschreiben musste. Das war ihm wiederum wohl bei mir nicht entgangen.

»Ich, naja, schreibe nur ein bisschen«, wiederholte ich seinen Satz von vorhin. Er lachte erneut und auch ich musste grinsen. »Kann ich was sehen?« Jetzt musste ich auflachen. »Sorry, ich habe leider nichts davon dabei. Ich kann dir also keine Gegenleistung bieten.«

»Schade.« Er lächelte aufrichtig und in mir kam die Vermutung auf, dass ich ihn bis jetzt falsch eingeschätzt hatte. Ich war voreingenommen und hatte geglaubt, er wäre um einiges arroganter und warf nur mit blöden Sprüchen um sich. Aber so, wie er sich gerade gab, wirkte er wirklich nett und diese verlegene Seite an ihm, die durchblitzte, wenn es um seine Bilder ging, machte ihn nur noch sympathischer. 

»Okay, also, ich sollte vielleicht mal wieder runter. Ich bin schon viel zu lange hier oben«, kündigte Lars an und erhob sich von seiner Sitzmöglichkeit, die auf Dauer bestimmt nicht gemütlich sein konnte. »Ja, klar. Ich sollte auch mal wieder«, antwortete ich und machte eine Handbewegung Richtung Tür. Mit einem Bier in der Hand, Lars hatte sich auch noch eins geschnappt, verließen wir das Badezimmer. 

»Du bist gut mit dem Mädel von der Schülerzeitung befreundet, oder?« Uff. »Du meinst Cleo?« Er nickte. »Ja, genau. Also, man sieht euch die ganze Zeit zusammen.« Oh, Herr im Himmel, was für ein Albtraum. So weit war es also schon gekommen? Wir sahen aus wie Freundinnen? Irgendwie nervte es mich, dass er aus meinem erzwungenen Umgang mit Cleo die falschen Schlüsse zog. »Nein, wir sind keine Freunde. Sie hat sich nur aus irgendeinem Grund an meine Fersen geheftet und jetzt werde ich sie nicht mehr los.« Ich ignorierte das schlechte Gewissen, das in mir aufkam, als ich so über Cleo sprach. Prinzipiell stimmte das, was ich gesagt hatte, und sie war nervig, keine Frage, aber trotzdem zog sich mein Magen zusammen, als hätte ich gerade etwas falsch gemacht mit dem Wissen, dass es auch falsch war. 

»Das kann ich mir irgendwie gut vorstellen«, meinte er daraufhin und mein Inneres verkrampfte sich noch ein bisschen mehr. »Hm«, machte ich nur und überließ es ihm, ob er das nun als Zustimmung oder Ablehnung auffasste. 

»Lars, du Affe! Da bist du ja!«, brüllte jemand über die Musik hinweg und wir drehten uns zu der Gruppe von Jungs, von denen einer die Hand hob, um auf sich aufmerksam zu machen. Wenn ich mich recht entsann, gehörten sie alle zu dem Team, das in der Mittagspause immer Basketball auf dem Schulhof spielte. Einer von ihnen löste sich aus dem Kreis und kämpfte sich zu uns durch.

»Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?«, fragte der Typ, der schon ein wenig am Lallen war. Er schaute zuerst zu Lars und dann musterte er mich. Ein schmieriges Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus. »Ah, verstehe.« Das bezweifelte ich stark. Sofort bekam ich schlechte Laune, während ich ihn weiter betrachtete. Der Esel auf zwei Beinen steckte in Jeans und Shirt, seine blonden kurzen Haare hatte er nach hinten gestylt und über seinen Augen hatte sich ein Schleier der Trunkenheit gelegt. So wie es aussah, war er wohl gut dabei. In seiner Hand hielt er einen Becher mit klarer Flüssigkeit und in seiner vorderen Hosentasche steckte zusätzlich noch eine Flasche Bier. Ich verdrehte die Augen und unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Mein Blick glitt zu Lars und ich erwartete, dass er die Sache richtigstellte, doch er enttäuschte mich. Mit einem selbstgefälligen Lächeln legte er seine Hand auf dessen Schulter und behauptete tatsächlich: »Tja, nicht jeder hat so viel Glück.«

Das Bild von ihm, das ich eben in meinem Kopf korrigiert hatte, brach wieder in sich zusammen. Er konnte nett sein, das hatte ich schließlich eben bemerken können. Aber er gehörte auch zu der Sorte Menschen, die in Anwesenheit der Freunde, das Verhalten heraushingen ließen, welches von den anderen als cool erachtet wurde. Und das nervte mich. Und es machte mich wütend. 

»Ekelhaft«, murmelte ich und machte einen Abgang, ohne mich noch einmal umzudrehen. Es war eine Enttäuschung, die mir irgendwie den Abend vermieste. Auf jeden Fall hatte meine geringe Partylust nun den Nullpunkt erreicht und vermutlich war es das Beste, jetzt den Abgang zu machen. Ich versuchte Cleo wiederzufinden, um mich wenigstens von ihr zu verabschieden, doch als ich sie auf der Tanzfläche sah, glücklich und umgeben von mitfeiernden Menschen, entschied ich mich dafür, ihr einfach eine Nachricht zu schicken. So vermied ich ihre Versuche, mich zum Bleiben zu überreden, und sie wurde nicht mit meiner schlechten Laune konfrontiert. Zuerst suchte ich den Ausgang und nahm Kurs auf mein Auto, das ich in der Nähe geparkt hatte. Erst als ich es erreichte, schrieb ich ihr und stellte mir die Route nach Hause ein. 

Immer noch ein wenig verärgert über die Begegnung mit Lars und dem Trottel von vorhin, drückte ich aufs Gaspedal. Ich folgte den Anweisungen des Navigators und ließ mich von der Musik aus den Autolautsprechern beschallen, während ich durch die dunklen Straßen der Stadt fuhr, die ich meine Heimatstadt nennen sollte. Sollte, wohlgemerkt.

Das Klingeln meines Handys ließ mich zusammenzucken. Mit einem schnellen Seitenblick aufs Display bestätigte sich meine Vermutung. Die Klette. Cleo wollte sich wahrscheinlich darüber informieren, warum ich so schlagartig das Weite gesucht hatte. Ich ließ es klingeln, lange. Als es schließlich aufhörte, wollte ich schon aufatmen, doch dann fing es von Neuem an. Was war denn los mit der? Konnte sie sich nicht denken, dass ich gerade hinterm Steuer saß? Ich streckte meine Hand aus und tastete blind nach meinem Handy, um es auszuschalten, da ich die Befürchtung hatte, dass Cleo keine Ruhe geben würde, bis ich nicht endlich abnahm. Doch ich bekam das verfluchte Ding nicht zu fassen. Kurz schaute ich auf den Beifahrersitz, doch plötzlich tauchte im Licht der Scheinwerfer ein Umriss auf, den ich aus den Augenwinkeln wahrnahm. Sofort richtete ich meinen Blick wieder auf die Straße. Die nächsten Sekunden fühlten sich wie in Zeitlupe an. In der ersten Sekunde war es etwas Undefinierbares, in der zweiten wurde mir klar, dass es groß war, lebte und quer auf der Straße lag. In der dritten Sekunde drückte ich mit voller Kraft die Bremse durch. Die Reifen quietschten über den Asphalt und kamen schlussendlich zum Stehen. Mein Körper war steif, meine Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest umgriff ich das Lenkrad. Zwar war ich mir sicher, dass ich nichts überfahren hatte, aber gleichzeitig traute ich mich nicht, auszusteigen, um nachzusehen, was mir da eben den Schrecken meines Lebens beschert hatte. Die Gestalt, die vor mir aufgetaucht war, sah ich nicht mehr. Dafür war die Motorhaube zu hoch und zu lang. Mir blieb die Luft weg und erst da fiel mir auf, dass ich den Atem angehalten hatte. Ich rang nach Sauerstoff und die Starre in meinem Körper ließ langsam nach. Im Gegenzug fing ich jedoch an zu zittern. Ich wusste nicht, wo mir der Kopf stand. Das, was als Nächstes geschah, setzte dem Ganzen dann die Krone auf. Vor der Frontscheibe richtete sich langsam jemand auf, blinzelte mir entgegen und hob die Hand, als wollte er mich begrüßen. 

Ein Kurzschluss zuckte durch mich hindurch. »Was zum Teufel«, flüsterte ich atemlos. Was war denn falsch mit dem? Wütend zog ich den Schlüssel, der Motor kam zum Erliegen und ich stieg aus.

»Kannst du mir mal verdammte Axt erklären, warum zur Hölle du hier mitten auf der Straße liegst? Ich hätte dich fast überfahren!« Völlig aufgebracht fuhr ich ihn an. Der war doch lebensmüde! Einfach so lag er hier auf dem Zebrastreifen und schaute mir fast ausdruckslos entgegen. Er war groß, das merkte ich, als ich vor ihm stand und wild mit den Armen gestikulierte. Mit mehr als einem Kopf überragte er mich und starrte mit seinen braunen Augen auf mich herunter, die im schwachen Straßenlicht schimmerten.

»Leonie?« Irritiert hielt ich inne. Hä?

»Was?«, stieß ich aus. Woher kannte er meinen Namen? Hatte Cleo Steckbriefe über mich verteilt, oder was? »Wieso weiß denn hier jeder mehr als ich?«

Er versengte seine Hand in der Hosentasche, überging meine Frage und streckte den anderen Arm aus. »Ich bin Jasper.«

Das gab mir den Rest. Nicht nur hatte er die Frechheit hier vor mir zu stehen und das Ganze zu überspielen, indem er sich mir einfach vorstellte, sondern es war auch noch einer aus der neuen Schule.

Eine Stufe höher war er, glaubte ich. Der Große, so hatte ihn Cleo beschrieben und auf jeden Fall, das war er. Darüber hinaus hatte er breite Schultern, war aber ansonsten verhältnismäßig schmal. Und er war eindeutig bekloppt!

»Es ist mir scheißegal, wie du heißt! Erkläre mir mal lieber, warum du hier dein Leben gefährdest.« Ich war außer mir vor Wut. Noch nie in meinem Leben hatte ich solch eine brodelnde Hitze in meinem Inneren erlebt wie jetzt gerade in diesem Moment. 

Jasper zog seine Hand zurück und kratzte sich stattdessen am Kopf. Auf einmal wirkte er verlegen, aber das linderte meine Aufregung kein bisschen. »Also ... einfach so«, beichtete er mit rauer Stimme und ich blinzelte ungläubig. »Einfach so?«, wiederholte ich. Er presste seine Lippen aufeinander und nickte. Ich stutzte. 

»Es tut mir leid«, fügte er dann hinzu und in seinen Augen spiegelte sich Reue. Auch wenn es anfangs nicht so schien, war ihm das Ganze wohl tatsächlich unangenehm. »Wirklich. Es tut mir leid, dass ich dir so einen Schrecken eingejagt habe. Das ist mir bis jetzt nie passiert.«

»Du machst das öfter?«, fragte ich und glaubte meinen Ohren kaum. Langsam beschämte ihn wohl das Gespräch, denn wieder nickte er nur und zog seine Schultern nach oben, als wollte er wie eine Schildkröte in seinem Panzer verschwinden. Dann machte er einen Schritt zurück. »Ich sollte dann wohl gehen.«

Er fuhr sich mit der Hand übers Kinn, warf mir noch einen letzten entschuldigenden Blick zu und wandte sich zum Gehen. Mich ließ er zurück und ich schaute ihm unschlüssig hinterher. Jeglicher Logik zum Trotz kam in mir auf einmal ein Gefühl a la schlechtes Gewissen hoch. Ich grummelte und raufte mir kurz die Haare.

»Scheiße«, murmelte ich zu mir selbst, bevor ich ihm hinterherrief: »He, Jasper!« Ich konnte selbst nicht fassen, was ich da gerade tat. »Komm, ich fahre dich nach Hause!« Jasper drehte sich um. Er war schon ein gutes Stück von mir entfernt, weshalb ich seinen Gesichtsausdruck nicht genau deuten konnte. Doch dann machte er wieder einen Schritt auf mich zu und das war dann wohl sein »Okay«.

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