[28] • Anglerglück

Verbrauchte, abgestandene Luft und der Geruch nach angewärmten Polyester holte mich langsam aus meinem Schlaf. Orientierungslos blinzelte ich und beobachtete verschwommen die tanzenden Lichtflecken auf dem hellblauen Stoff vor mir. Erst nach und nach kurbelte mein Kopf seine Denkleistung an und ich erinnerte mich, wo ich mich gerade aufhielt. Der leise Atem, der in meinem Nacken kitzelte, und der schwere Arm, der sich unter meinen Schlafsack geschoben hatte und um meine Taille lag, machte mir auch wieder bewusst, mit wem ich hier in diesem winzigen Zelt lag. Die Wände wirkten plötzlich viel näher, als wäre das Zelt noch einmal ein Stück in sich zusammengeschrumpft, angesichts dem von Jasper eingenommenen Platz und seiner Präsenz, die darüber hinaus strahlte. Mein Herz hüpfte zu schnell für meinen müden Verstand. Still lag ich da, weil ich ihn nicht durch eine hektische Bewegung wecken wollte. Jasper, der sich an meinen Rücken kuschelte. Dessen Herz gerade direkt hinter meinem kräftig schlug. Ich schluckte leise. Ganz klar, ich musste mich selbst erst einmal ordnen, bevor der Morgen gänzlich ins Zelt gekrochen kam, und das würde mir sicher nicht gelingen, wenn er mir mit seinen Haselnussaugen dabei zusah.

Ich dehnte Zehen und Finger und brachte etwas Leben in meine schlaffen Gliedmaßen. Doch damit kamen auch die Erinnerungen an gestern Abend zurück. An die Minuten, die Jasper und ich umschlungen am See saßen, ohne ein Wort zu sagen. An den Weg zurück durch das dunkle Geäst, während wir uns an den Händen hielten. Und an die Gespräche über belanglose Dinge, die wir so weit gesponnen hatten, bis wir schließlich eingeschlafen waren. Das Alles hatte etwas in mir hinterlassen. Ein Ziehen in meiner Mitte, vielleicht auch etwas weiter links, das Sehnsucht, Geborgenheit und Angst in sich vereinte. Und gerade weil es sich so uneindeutig anfühlte, wollte ich es übertünchen mit klaren Gedankengängen und meiner altbekannten Vernunft, die mir wie so oft die begrenzte Zeit vor Augen führte. Schon bald würde ich das alles hier einpacken müssen, jedes Gespräch und jede Berührung, in einen kleinen, winzigen Karton, der sich zu den unberührten Kisten gesellen würde, die sich auch jetzt noch in meinem Zimmer türmten. Um nicht zurückzuschauen. Um mich selbst zu schützen, da mich diese Bemühungen um Vergangenes schon so oft zerrissen hatten.

Ich streckte meine Finger noch einmal durch und versuchte, sie direkt darauf in einer Faust zu ballen. Doch der Schlaf steckte mir noch zu sehr in den Knochen, sodass mir die Kraft dazu fehlte. Dafür kämpfte sich ein herzhafter Gähner über meine Lippen. Hinter mir raschelte es. Der Arm um meine Taille bewegte sich und rutschte letztendlich von mir herunter. Instinktiv schloss ich meine Augen und lauschte, wie sich Jasper in seinem Schlafsack drehte, sich streckte und dann langsam aufsetzte. Ich hätte mich weiter schlafend stellen können, um mir noch ein wenig Zeit zu geben, um - na ja, so wirklich war mir das selbst nicht klar. Doch egal, was ich damit erreichen wollte, ich glaubte nicht, dass mir damit geholfen war. Besonders da mich das Wissen um Jasper, der mich vielleicht heimlich beobachtete, genauso aufgeregt stimmte, wie seinem Blick direkt zu begegnen. Als ich mich dazu rang, mich ihm zuzuwenden und meine Lider zu heben, empfing er mich bereits mit voller Aufmerksamkeit. Er schaute mich an. Seinen Kopf hatte er dabei seitlich auf seinen verschränkten Oberarmen abgelegt, die er wiederum auf seine Knie gebettet hatte.

»Guten Morgen«, sagte er, leise und etwas heiser. Er lächelte, was diesmal fast schüchtern wirkte.

»Morgen.« Ich zog meinen Schlafsack näher zu mir heran, sodass er fast mein halbes Gesicht verdeckte. Wieso machte er mich am Morgen nur noch verlegener als sonst?

»Gut geschlafen?«

Ich nickte sachte hinter meinem weichen, aber dicken Schutzwall. »Du?«

»Auch.« Es folgte eine kurze Stille zwischen uns, die nur von vereinzeltem, freudigem Vogelgezwitscher durchsetzt war. Kurz wand er sich ab und versteckte sein Gesicht hinter seinen Armen, als müsste er sich genauso sammeln, wie ich es gerade hinter dem Schlafsack versuchte. Doch bevor meine Hand dazu geneigt war, sich in seinen Wuschelhaaren zu vergraben, schaute er auch schon wieder in meine Richtung.

»Ich hol uns mal was zum Frühstück«, eröffnete er dann.

Ich nickte wieder, was Jasper diesmal gar nicht zur Kenntnis nahm, da er sich bereits seinen Kapuzenpullover über sein dünnes Shirt zog, das ich gern ein wenig länger an ihm betrachtet hätte. Es betonte seine breiten Schultern, die sich besonders unterm Stoff spannten, wann immer er Basketball spielte. Meine Fantasien verstrickten sich im morgendlichen Dunst und am liebsten hätte ich ihm jetzt einen Basketball in die Hand gedrückt, um mich an seinem Muskelspiel sattzusehen, statt ein Frühstücksbrötchen oder dergleichen zu verdrücken. Doch so schnell, wie Jasper sich fertig machte, hatte ich keine Chance, ihm diese Idee zu unterbreiten.

»Bin gleich wieder da«, meinte Jasper noch, bevor er aus dem kleinen Zelteingang hinaus schlüpfte. Ich warf ihm ein »bis gleich« hinterher, was ihn vermutlich gar nicht mehr erreichte.

Somit war ich allein. Da ich nichts mit mir anzufangen wusste, stierte ich wie im Leerlauf eine ganze Zeit lang einfach nur an die Zeltdecke, bis mir der Gedanke kam, dass ich Jaspers Abwesenheit dafür nutzen könnte, mich umzuziehen. Allzu lange würde er nämlich nicht unterwegs sein. Direkt am Eingang des Campingplatzes, wo sich das Haupthaus mit der Rezeption befand, hatten sich auch eine Bäckerei und ein Restaurant aneinandergereiht. Müßig pellte ich mich aus Schlafsack und Jogginghose, schauderte kurz aufgrund der jähen Kälte und zog mir dann die gestrige Jeans wieder an. Dann stülpte ich mir ebenfalls einen Pullover über den Kopf und verließ das stickige Zelt. Frische Morgenluft empfing mich und die Sonne blitzte verheißungsvoll zwischen den Bäumen hindurch. Auch wenn die jetzigen Temperaturen mir Gänsehaut bescherten, man hatte bereits im Gefühl, dass der heutige Tag noch einmal deutlich wärmer werden würde als die vorherigen.

Kurz huschte ich zurück ins Zelt, um nach der Picknickdecke zu suchen, da der feuchte Tau es noch unmöglich machte, sich ins Gras zu setzen, ohne sich direkt darauf eine neue Hose anzuziehen. Meine Kuscheldecke nahm ich gleich mit nach draußen. Eingewickelt wie eine Raupe, die sich auf ihren neuen Lebensabschnitt als Schmetterling vorbereitete, saß ich vor dem Zelt und schaute auf den See hinaus. Trotz der meines Erachtens frühen Stunde - es war gerade mal acht Uhr durch, eine Tageszeit, die ich an Wochenenden selten mit wachem Bewusstsein erlebte - trug der Wind bereits eine rege Geräuschkulisse zu mir heran. Kindergeschrei und Gelächter war zu hören und Menschen zu sehen, die sich entweder spärlich bekleidet auf den Weg zu den Waschräumen machten oder in voller Montur zu einer Wanderung aufbrachen. Meine Augen hefteten sich an eine Gruppe älterer Herrschaften, die mit Wanderstöcken und Rucksäcken ausgestattet in Richtung Haupthaus unterwegs waren, bevor sie zu Jasper übersprangen, der ihnen entgegenkam. Zwischen Bäumen und Sträuchern behielt ich ihm im Blick, beobachtete, wie er der Gruppe freundlich grüßte und dann wieder in der Gegend umher schaute. Jasper war ein Mensch für die freie Natur. Man merkte ihm an, wie wohl er sich fühlte, wenn er irgendwo draußen unterwegs war. Das Wetter, die Pflanzen, die Luft, all das stimmte ihn zufrieden und diese Ausgeglichenheit färbte auf mich ab. Aber auch nur so lange, wie ich ihn auf sicherer Entfernung hatte. Je näher er kam, desto enger legte sich abermals die Verlegenheit in Form einer zweiten Decke um mich. Ich würde sie zwar im Laufe des Tages wieder ablegen, da ich mich im Beisein von Jasper auch immer entspannen konnte, aber, dass wir diese Nacht eng beieinander verbracht hatten, gab meiner Nervosität neue Impulse, sich für besonders wichtig zu nehmen. Wild schwenkte sie mit bunten Fähnchen um sich, als Jasper schließlich mein Starren bemerkte. Doch ich widerstand dem Drang, mich abzuwenden.

»Ich wusste nicht genau, was du lieber magst, deswegen habe ich sowohl Schoko- als auch Buttercroissants mitgebracht«, ergriff Jasper das Wort, als er in meiner Hörweite war. »Was magst du haben?« Er setzte sich mir schräg gegenüber auf die Picknickdecke und öffnete die Papiertüte.

»Schoko.« Klare Sache. Genug Butter war in beidem drin und extra Schokolade ließ ich mir nur selten entgehen. Jasper fischte nach dem Schokocroissant und reichte es mir. Sofort nahm ich einen Bissen und mein Magen rumorte zufrieden. Jasper verschlang währenddessen sein Buttercroissant.

»Willst du ein Stück Decke?« Ich hielt ihm einen Zipfel hin, den er dankend annahm. Wir rückten näher zueinander, sodass wir die Decke über unser beider Schultern ausbreiten konnten, und berührten uns somit wieder auf ganzer Länge. Meine Nervosität packte zusätzlich zu den Fähnchen die Konfettikanonen aus.

»Wir wurden übrigens zu einem Lagerfeuer eingeladen«, murmelte Jasper zwischen zwei Bissen und brachte die Aufregung in mir kurz zum Erliegen.

»Lagerfeuer?« Ich ließ mein Schokocroissant vor meinem Mund schweben und wartete stattdessen ab, was er dazu noch zu sagen hatte.

»Gibt es hier wohl jeden Samstagabend, zumindest wenn das Wetter es zulässt. Rosalie hat mich vorhin darauf angesprochen.« Rosalie führte zusammen mit ihrem Mann Erwin den Campingplatz. Ein liebevolles Paar, das man nicht in die mafiaähnlichen Strukturen einflechten wollte, die wir noch gestern innerhalb der Familie vermutet hatten. Aber egal wie nett sie auch waren, ein Lagerfeuer? Ich wusste nicht recht. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen, besonders als in mir stereotypische Bilder von einem Typen mit Gitarre aufkamen, der hingebungsvoll ein Liedchen trällerte, in das dann die übrige Meute mit einstieg. Und inmitten solch einer singenden Meute wollte ich nicht sitzen. Aber genauso einen gesangsträchtigen Abend vermutete ich bei Rosalie und Erwin.

»Wir könnten ja wenigstens vorbeischauen, uns vielleicht etwas abseits dazusetzen«, bot Jasper an, nachdem ich stumm geblieben und meine zweifelnde Mine wahrscheinlich schon Antwort genug war. Oder er kannte mich einfach schon so gut, sodass er wusste, dass ich eine solche Abendgestaltung grundsätzlich mied. Der Gedanke bastelte ein kleines Lächeln auf meine Lippen.

»Na, man kann dem Ganzen ja wenigstens eine Chance geben«, ließ ich mich hinreißen und hätte Jasper nicht in dem Moment mein Lächeln selig erwidert, hätte ich mich sicher gefragt, was da gerade falsch gelaufen war. Stattdessen fühlte ich nur, wie das wohlige Kribbeln in meinen Bauch heimkehrte und mir die Ruhe zurückgab, die ich gegenüber Jasper so gerne genoss. Vielleicht würde der Abend auch gar nicht so schlecht werden. Zumindest hatte ich Jasper an meiner Seite und das wog so einiges auf. Recht schnell hatte ich mich mit unserer Abendplanung angefreundet und schenkte meinem Essen wieder die nötige Aufmerksamkeit.

»Oh, und zum Angeln sollen wir übrigens auch vorbeikommen.«

Zum Angeln? Der Bissen Schokocroissant bog falsch ab und mich erschütterte ein kleiner Hustenanfall. Sogleich legte sich Jaspers Hand auf meinen Rücken und klopfte mir die Luftröhre frei.

»Das wird bestimmt lustig«, schob Jasper hinterher und sein Lächeln hatte sich zu einem Grinsen verzogen. Ich hatte schon fast vergessen, wie gefuchst er sein konnte.

»Sicher nicht in diesem Universum«, murrte ich, nachdem ich mich wieder vollends gefasst hatte. Da mir auf die Schnelle keine gewiefte Racheaktion in den Sinn kam, klaute ich ihm sein Buttercroissant aus den Fingern und biss besonders herzhaft hinein. Angeln! Was für eine absolut bescheuerte Idee.

■■■

Angeln war, wie man sich vielleicht vorstellen konnte, die unspektakulärste Tätigkeit, die man im Freien wohl bestreiten konnte. Die ganze Aufregung konzentrierte sich auf gerade einmal zwei Momente. Der Zeitpunkt, in dem man die Angel mit Schwung auswarf, und jenen, in dem ein Fisch am Haken zappelte. Da ich das Angeln nicht auch auf die Liste der Sachen setzen wollte, für die ich von vorneherein kein Talent besaß, schob ich es auf die Fische und ihre defekten Geschmacksnerven, dass ich letzteren Moment auch nach eineinhalb Stunden noch nicht erlebt hatte. Auch dass die ganzen älteren Herren rings um uns herum, die dieselben Köder benutzten, reihenweise Forellen aus dem Wasser zogen, ignorierte ich gekonnt. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als ich schließlich meinen Eifer verlor, die ganze Zeit meine Angel in der Hand zu halten und die Stelle auf der Wasseroberfläche zu beobachten, auf der mein Schwimmer ruhig vor sich her dümpelte. Ich lehnte meine Ausrüstung gegen einen Baumstamm, der vor uns am Ufer lag, und setzte mich neben Jasper ins Gras, der im Gegensatz zu mir noch seine Aufmerksamkeit beisammenhalten konnte. Der Boden hatte über den Mittag hinweg an Wärme aufgesogen und ich lehnte mich ein Stück zurück, derweil sich meine Finger tiefer zwischen Löwenzahn und Gänseblümchen schoben.

»Warst du schon einmal angeln?«, fragte ich Jasper, während ich die Augen schloss und mein Gesicht der Sonne entgegen reckte. Die Lichtstrahlen prickelten auf meinen Wangen.

»Nö, ist das erste Mal.«

Ich blinzelte gegen die Helligkeit an. Grüne Flecken schimmerten kurz in meinem Sichtfeld umher. Skeptisch guckte ich an Jasper vorbei auf den Eimer, in dem sich schon zwei Fische sammelten, die er gefangen hatte. Okay, vielleicht hatte ich wirklich kein angeborenes Anglerglück vorzuweisen.

»Du?«

»Auch nicht. Und das könnte man als ein Wunder bezeichnen, wenn man bedenkt, in wie viele Clubs und Vereine meine Mutter mich früher gesteckt hat.«

»Was musstest du alles ausprobieren?«, fragte Jasper neugierig und warf mir ein mitleidiges Schmunzeln über die Schulter hinweg zu.

Ich warf meinen Kopf zurück in den Nacken und stieß ein gequältes Ächzen aus, als würde mich die Erinnerung daran bereits anstrengen.

»Puh, einiges. Töpfern, Tischtennis, Badminton, Rudern, einen Bastelkurs, Fußball und noch vieles mehr. Aber ich verdränge das nur zu gern aus meinem Gedächtnis.«

»Auch Basketball?« Ich hörte die Belustigung, die sich in seine Stimmfarbe gemischt hatte, und auch einen Anstieg seiner Neugier. Vielleicht hätte es ihm gefallen, wäre ich auch mal ein Teil einer Mannschaft gewesen, deren Sport er so liebte. Aber da musste ich ihn enttäuschen.

»Nein, dazu kam es auch nicht mehr.«

»Schwer zu glauben bei deinen herausragenden Tricks, die du an den Tag legst.« Er zeigte mir kurz seine geraden Zähne, aber auch so wäre die Ironie in seinem Satz deutlich geworden.

»Pah!« Ich warf ein Büschel ausgerissenes Gras nach ihm, das ihn um Längen verfehlte und größtenteils auf meinem Oberschenkel landete. Kopfschüttelnd schnippte ich die Halme von meiner Jeans. »Muss ich dich dran erinnern, dass ich damals beim Match gegen Lars den entscheidenden Treffer gelandet habe?«

»Ich sag doch, du hast die besten Tricks auf Lager«, betonte er noch einmal, als wüsste ich sein scheinheiliges Kompliment nicht zu schätzen. Diesmal pikte ich ihn mit einem Finger in die Seite, worauf er abermals auflachte. Ich grinste und pikte noch einmal.

»Also hat dir nichts davon Spaß gemacht?«, fragte Jasper dann weiter, nachdem er sein Glucksen und ich mein Piken eingestellt hatte.

»Ne, nicht wirklich. Irgendwie habe ich mich bei allem ziemlich dumm angestellt.« Ich knabberte auf meiner Unterlippe, bevor ich etwas leiser hinzufügte: »Auch hatte ich das Gefühl, dass sich niemand so wirklich darum bemühte, mir etwas beizubringen. Es wurde immer schnell bekannt, dass ich nie lange bleiben würde.« Das hatte ich meiner Mutter damals nie erzählt. Ich hatte immer nur geäußert, dass es mir schlicht keinen Spaß machte. Dabei hätte ich am Töpfern oder auch am Rudern durchaus Gefallen gefunden, hätte ich mich richtig aufgehoben gefühlt. Doch immer war ich irgendwie außen vor, statt mittendrin und mir war damals schon klar gewesen, dass ich nicht genügend Zeit aufbringen konnte, um diesen Zustand zu überwinden.

»Dann ist es doch umso schöner, dass du jetzt etwas gefunden hast, was dir gefällt.« Seine Worte stimmten mich nachdenklich. Mir war nicht direkt auf Anhieb klar, worauf er anspielte und nachdem ich eine ganze Weile stumm blieb, nahm er den Fokus von seiner Angel und drehte sich wieder zu mir hin.

»Na, das Dagobert, oder nicht?«, half er mir auf die Sprünge und ich hätte beinahe laut aufgelacht, wäre ich mir nicht gleichzeitig so seltsam ertappt vorgekommen. Ich konnte nicht anders, ich musste es wie immer mit einer schwachen Handbewegung von mir schieben. Gewohnheit. Vielleicht eine meiner Schlimmsten. »Wenn du meinst«, nuschelte ich möglichst gleichgültig und ließ mich erneut von der Sonne blenden. Vielleicht schaffte sie es auch, dieses seltsame Gefühl in mir auszudörren.

Es war eigentlich lächerlich, wie ich mich noch darum bemühte, mir den Spaß nicht anmerken zu lassen. Denn es war vergeblich. Ich wusste genau, wie deutlich man mir ansah, dass ich gerne im Dagobert arbeitete und mir zusammen mit Cleo die Nächte um die Ohren schlug, um der nächsten Ausgabe noch den letzten Feinschliff zu verpassen. Trotzdem kam mir das nie über die Lippen. Als hätte ich Angst, es laut auszusprechen. Nein, ich hatte Angst. Angst davor, dass mir das genommen werden konnte, wenn die Worte erstmal meinen Mund verlassen hatten.

»Ich weiß, was ich sehe, Leonie.« Jemanden, der Angst hat, ergänzte ich in Gedanken und schüttelte darüber sogleich selbst den Kopf. Jasper konnte nicht ahnen, welche Krise ich gerade in meinem Inneren ausfocht, und verstand meine Bewegungen wohl als eine Abwehrhaltung gegenüber ihm und seinen Worten, denn er sagte daraufhin nichts mehr. Und so gerne ich ihm auch zuhörte, in dieser Sekunde war mir eine Pause ganz recht. Ich versuchte, mich zu sammeln und die Sonnenstrahlen in neue Energie umzuwandeln, als wäre ich zur Photosynthese imstande. Gleichzeitig stand ich im Zwiespalt darüber, ob ich von mir aus noch irgendetwas erklären sollte. Dass meine kuriosen Verhaltensweisen nicht in ihm begründet lagen, sondern ein fester Bestandteil von mir waren. Die Verunsicherung hatte sich mit den Jahren so tief in mein Fleisch gefressen, dass sie fast in jedem Gedanken und jeder Bewegung wiederzufinden war.

»Leonie«, setzte Jasper nach einer Weile wieder an, worauf ich mich sogleich etwas anspannte, unsicher darüber, was er zu mir sagen würde. Doch die Fortsetzung seinerseits blieb aus und wurde durch ein erschrockenes »Oh, scheiße!« ersetzt.

Verwirrung übernahm meinen Körper und ich öffnete die Augen gerade zu dem Zeitpunkt, als meine Angel auch schon über den Baumstamm gezogen und von einer unsichtbaren Kraft weit hinein in den See gerissen wurde. Jasper hatte sich bereits nach vorne gestürzt, doch er bekam die Angel nicht mehr zu fassen. Panisch sprang ich auf und wollte gleiches tun, obwohl es dafür schon längst zu spät war. Tatenlos musste ich mitansehen, wie meine Angel über die Wasseroberfläche schnellte, sich dabei in den anderen Schnüren verfing und die Ausrüstung aus den Händen zweier Männer mit in den See zerrte.

»Oh, nein, nein, nein!«

Die Scham färbte meine Wangen instant purpurrot. Ich sah schon alle Angeln verheddert im Wasser schwimmen und schlug die Hände vors Gesicht, um diese Peinlichkeit nur noch zwischen meinen Fingern hindurch zu verfolgen. Doch ehe das Chaos jeden hier Anwesenden treffen konnte, verlor meine Angel ganz plötzlich an Tempo, schlingerte noch ein, zwei Meter weiter, bevor sie letztlich nur noch ruhig im Wasser trieb, die beiden anderen Angeln im Schlepptau. Verdattert, als wäre alles nur ein verrückter Tagtraum gewesen, glotzte ich auf den See hinaus. Bloß verschwand die Zerstörung auch nicht nach mehrmaligen Augenaufschlägen. Schweigen hatte sich über den gesamten Angelplatz gelegt, als müsste jeder erst einmal rekonstruieren, was eben passiert war. Jasper war wohl der Erste, der sich von dem Schock erholte und brach in leises Kichern aus, was in einem regelrechten Lachanfall endete. Ich war inzwischen in die Knie gesunken, konnte aber auch nicht mehr an mich halten, nachdem mir die Absurdität der Sache bewusst wurde.

»Na, den Fisch hätt ich aber allzu jern zu Jesicht bekommen.«

»Erwin!« Der alte Campingplatzbesitzer, bekleidet mit Anglerhut und matschfarbenen Gummistiefeln, hatte sich von hinten angeschlichen. Erschrocken fuhr ich zu ihm herum. »Das tut mir furchtbar leid«, fing ich sofort an mich zu entschuldigen, schließlich war die Ausrüstung seine Leihgabe gewesen. Auch schaute ich das erste Mal zu den zweien, denen ich aufgrund meiner Unachtsamkeit ihrer Gerätschaften beraubt hatte. Sie schienen noch etwas durch den Wind zu sein, sahen aber zumindest nicht sonderlich verärgert aus.

»Ach, mach dir ma' kene Gedanken. Ich trauere nur dem Riesenfang hinderher, dat muss'n Brocken von Fisch jewesen sein.« Er pausierte kurz und blickte etwas schwärmerisch drein. Sicher hätte er sich gewünscht, so einen Fang heute aus dem Wasser zu ziehen. Und mir war solch einer durch die Lappen gegangen. »Ich jeh dann ma' dat Zeuch wieder ensammeln. Allerdings müsste jemand dat Schlamassel wieder ausenanderfriemeln.«

Ich nickte demütig. »Übernehme ich natürlich«, versicherte ich, während Jasper hinter mir immer noch leise lachte. Als Erwin sich wieder davon machte, boxte ich ihm in die Seite.

Den restlichen Nachmittag waren wir also damit beschäftigt, die feinen Fäden der drei Angeln zu entwirren. Ich konnte mir nicht erklären, wie dem Fisch es gelungen war, die Schnüre in der kurzen Zeit so dermaßen zu verknoten. Viel zu oft schmiss ich das Bündel frustriert von mir, nur um es dann gleich wieder zur Hand zu nehmen, weil das schlechte Gewissen an mir nagte. Außerdem wollte ich den fetten Fisch nicht gewinnen lassen. Wenn meine Ausdauer nicht fürs Angeln an sich reichte, dann wollte ich sie zumindest hier unter Beweis stellen. Jasper machte das ganze Unterfangen um einiges angenehmer. Während er genauso sehr an unserer neuen Aufgabe verzweifelte, unterhielt er mich mit Anekdoten aus seiner Vergangenheit, über seine Freunde und dem Basketballspielen. Daraufhin gab ich die lustigsten Vereinsfehltritte meinerseits zum Besten, diesmal natürlich ohne auf den Aspekt des unverstandenen Mädchens einzugehen. Jaspers Lachen entspannte mich. Es war so leicht, sich davon anstecken zu lassen, auch wenn es auf meine Kosten war.

Erst mit den letzten Sonnenstrahlen schafften wir es, die Angeln voneinander zu trennen. Die Reihen am Seeufer hatten sich bereits gelichtet, denn die meisten Leute waren schon zu ihren Zelten oder dem großen Lagerfeuer aufgebrochen. Auch wir setzten uns in Bewegung. Mit Jaspers zwei gefangenen Fischen hatten wir schließlich auch etwas, was wir auf den Grill legen konnten. Aufmunternd klopfte mir Erwin noch einmal auf die Schulter, als wir ihm die Ausrüstung zurückbrachten. »Net den Mut verlier'n. Dat kann nur besser werden.« Ich sagte ihm nicht, dass ich Angeln bereits von meiner Unbedingt-wiederholen-Liste gestrichen hatte.

»Na, das war ja mal ein Desaster«, fasste ich unseren Nachmittag noch einmal zusammen, während wir uns vom See entfernten.

»Ich wäre für eine Wiederholung«, hielt Jasper dagegen.

»Ich glaube, wenn du mir in nächster Zeit auch nur mit einer Angel zu nahekommst, schmeiße ich sie rein aus Protest in den nächsten See.«

Ich hob drohend den Zeigefinger, Jasper beschwichtigend die Hände. »Okay, okay, werde ich mir merken.«

»Wenigstens bleiben mir die glorreichen Erinnerungen erhalten«, fügte er dann doch noch spitzbübisch hinzu.

»Wehe, du erzählst das Cleo!« Er verschloss seinen Mund mit der üblichen Verschwiegenheitsgeste, hatte währenddessen allerdings ein viel zu breites Grinsen aufgelegt. Vielleicht würde er es nicht weitererzählen, aber so, wie er gerade dreinschaute, würde er es dafür wahrscheinlich mich nicht vergessen lassen.

»Bereit fürs Lagerfeuer?«, wechselte er dann das Thema und strahlte mich abwartend an. Ihm war deutlich anzusehen, dass er sich darauf freute. Mit dem Fauxpas, der mir jedoch heute schon widerfahren war, hatte ich eher Angst, dass ich mir heute noch etwas in der Richtung leistete. Und die Begegnung mit Feuer könnte um einiges gefährlicher enden als jene mit einem übermotivierten Fisch. Doch Jaspers ausgestreckte Hand lockte mich und ich überlegte nicht groß, bevor ich nach ihr griff. Funken sprühten und ehe wir das Lagerfeuer erreichten, hatten wir selbst schon eine kleine Flamme zwischen uns entzündet.

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